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Die dritte Ohnmacht

Marie war drei Jahre älter als ihre Brüder.

An Selbstbewusstsein nach außen mangelte es ihr nie. Sie hatte eine große Klappe und riss diese zu allen gegebenen und unpassenden Momenten weit auf, um ihre Meinung kundzutun.

Sie fuhr auf den Motorrädern der heißesten Jungs und knutschte mit sämtlichen Liftboys der österreichischen Hotels, in denen die Geschwister die Weihnachtsferien mit den Eltern verbrachten. Jeder beneidete sie. Die Mädchen um ihre imposante Oberweite, die Frauen um ihre natürliche Lockerheit gegenüber den Männern und die Jungs um ihre Intelligenz. Die richtigen Kerle wussten, wo Marie zu finden war, auch wenn sie oft nicht bei ihr landen konnten.

Sie war eines dieser hinreißenden Vorstadtgeschöpfe, ein gewolltes Kind, gezeugt im ersten Ehejahr ihrer Eltern, Mitte der sechziger Jahre. Ihre Kindheit und Jugend inspiriert von Led Zeppelin, Dirty Dancing und dem Post-sechziger-Jahre-Feeling.

Man hätte sie damals fast als unkonventionell bezeichnen können, auch wenn sie, zum Leidwesen ihres Vaters, nicht sehr gebildet war. Er hütete sie wie seinen Augapfel, konnte aber nichts dagegen tun, dass sie sich zur Dorfdiva entwickelte. Sie behandelte ihn liebevoll und gleichzeitig kalkuliert.

Sie schmierte jedem gekonnt Honig um den Bart oder in die Betonfrisur und keiner kam auf die Idee, dass sie am Ende immer genau das bekam, was sie wollte.

Der unbekümmerte Teil des Lebens der Goldmarie ging rasch und unerwartet zu Ende. Was damals im September 1987 geschehen war, blieb ein wohlbehütetes Geheimnis. Eines von vielen dreckigen, zerstörerischen Geheimnissen, die dazu führten, dass Marie Max anrief. Er hatte seit über zwanzig Jahren nicht mit ihr gesprochen und hätte doch selbst im tiefsten Urwald ihre getrommelte Stimme unter Tausenden sofort wiedererkannt.

»Hallo, sprechen Sie Deutsch, könnte ich bitte mit Max sprechen?«, sagte die Stimme aus der Vergangenheit.

Max gab nicht der Versuchung nach, sich als seine Haushälterin oder einen anderen Dienstboten auszugeben, sondern versuchte, dem Vulkan, der in Sekundenschnelle aufloderte, Einhalt zu gebieten.

»Ja, Marie, hier ist Max«, war alles, was er herausbrachte.

»Es tut mir leid, dass ich dich störe«, sagte die so vertraute Stimme, die dennoch wie aus einer Lichtjahre entfernten Sternengalaxie klang, »aber es ist etwas Furchtbares passiert.« Ihre Stimme versagte. Max’ Magen verkrampfte sich.

»Hallo Marie, bist du noch dran, was ist denn los?«, aber außer einem Schluchzen war nichts mehr zu hören.

Eine fast vergessene Wut und ein nicht gekanntes Schwindelgefühl überkamen Max. Die Heulattacken seiner Schwester hatten sich früher oft stundenlang hinzogen und zu keinem Ergebnis geführt, außer, dass Marie ihren Willen bekam.

»Marie, wenn du mir nicht sagst, warum du mich anrufst, hänge ich sofort auf«, sagte er.

»Nikolas ist wegen Mordes verhaftet worden!«, schluchzte die Stimme aus der fernen Galaxie.

Es gibt Momente, da verläuft das Leben nicht mehr linear, da gibt es kein Gestern, Heute oder Morgen. Alles ist gleichzeitig. Raum und Zeit verbinden sich zu einem einzigen großen Moment und alle alten Narben sind wieder wie frisch geschlagene, blutende Wunden. Oft kennt man solche Momente nur aus Träumen, wenn sich das Bewusstsein nicht vor der Vergangenheit schützen kann.

Max fühlte sich wie Jesus am Kreuz, gemartert, blutend mit der Dornenkrone auf dem Haupt und festgenagelt, ohne die geringste Chance, entfliehen zu können. Dieses Gefühl war so stark und übermächtig und zog ihn auf eine Bewusstseinsebene, die er dachte, längst vergessen zu haben, oder die in jahrelangem Wegdrücken durch Drogen aus seinem Gehirn weggeätzt schien.

An diesem Freitag, auf einer staubigen und überhitzten Straße in Soho auf der Insel Manhattan, inmitten Tausender Menschen, wurde er zum dritten Mal in seinem Leben ohnmächtig.

Katharsis. Drama einer Familie

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