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Die Begegnung

Die Frau kam hinter der Ladentheke hervor. Sie streckte Max ihre Hand entgegen.

»Max, mein lieber Junge, du bist zurückgekommen.«

Er nahm ihre Hand, während ihn die junge Verkäuferin und die Kundin erschrocken anstarrten. »Hallo Frau Weise.«

Sie hatten sich fast ein Vierteljahrhundert nicht gesehen und doch hatte sie ihn sofort wiedererkannt.

»Möchtest du mit nach hinten kommen?«, fragte sie.

Er nickte. Sie gab ein paar Anweisungen an die Verkäuferin und ging über die kleine Treppe in die Wohnung, die an das Geschäft grenzte. Max spürte den Blick der beiden anderen Frauen, als er ihr folgte, und hörte die junge Verkäuferin noch flüstern: »Ist das nicht …?«

Er schloss die Tür mit der Milchglasscheibe und folgte Frau Weise durch den Flur in die Küche. Die Wohnung hatte den gleichen Grundriss wie die Wohnung seiner Tante im ersten Stock. Ob die beiden noch da oben wohnten? Frau Weise bot ihm einen Platz auf der Eckbank in der Küche an.

»Wer hat dir Bescheid gegeben?«, fragte sie.

»Marie hat mich gestern angerufen und ich habe mich kurzerhand entschlossen zu kommen, aber sie hat nichts Genaueres gesagt. Ich weiß nur, dass Nikolas verhaftet worden ist. Ich habe die erste Maschine genommen und bin heute Morgen in Düsseldorf gelandet.«

»Möchtest du einen Kaffee?«

Max nickte stumm. Sie schenkte ihm einen Kaffee in eine alte, braune Tasse mit beigen Rändern ein, dann setzte sie sich mit einem leisen Stöhnen auf einen altersschwachen Biedermeierstuhl, der nicht in das billige Ambiente der Einbauküche passte.

»Wie haben Sie mich gleich erkannt, wir haben uns doch eine Ewigkeit nicht gesehen?«, fragte Max.

»Ich habe Nikolas zweimal die Woche in den letzten zwanzig Jahren bedient. Ihr gleicht euch immer noch sehr, auch wenn du ein bisschen schmaler bist als er. Sein Bild war in allen Zeitungen und die Klatschmagazine auf Pro7 und RTL haben auch schon über den Mord berichtet. Diese Reporter lungern immer noch hier herum. Ich hoffe, dich hat keiner gesehen, als du in den Laden gekommen bist?«, fragte sie besorgt.

Max schüttelte den Kopf und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Reporter, Fernsehen, Klatschmagazine?

Er trank einen Schluck vom Kaffee und zündete sich eine Zigarette an. »Wen hat er umgebracht?«

»Ach Gott, Junge, das weißt du nicht?« Sie griff sich an die faltige Kehle.

Wortlos griff sie in die Schublade, die im Tisch eingebaut war, nahm eine Ausgabe der Tageszeitung vom 12. Juni heraus und reichte sie Max. Auf dem Titelblatt starrte Nikolas ihm entgegen, er war etwas füllig und hatte einen Vollbart. Seine Haare trug er kurz.

»Der Familienschlächter« sprang es Max in dicken Lettern entgegen. »Der 41-jährige Nikolas W. aus Schwarzhausen hat in der Nacht vom 11. auf den 12. Juni eine grauenhafte Tat begangen. Kaltblütig ermordete er seine Tante Magda W. (79) und seinen Onkel Erich W. (83). Gewaltsam verschaffte er sich Zutritt zu der Wohnung des Ehepaares und erschlug beide mit einem Eisenhaken. Die Opfer waren sofort tot.

Der Täter rief selbst die Polizei und stellte sich den Behörden. Seit seiner Verhaftung sitzt er in Untersuchungshaft und hat laut Aussage der Polizei noch keine Gründe für seine Tat angegeben.

W. lebte alleine und war halbtags in einer Friedhofsgärtnerei tätig.

Die Familie hat bisher keine Stellung zu dem Vorfall bezogen. Lesen Sie morgen mehr über die Vergangenheit des Täters und wie es zu diesem Mord in einer angesehenen Familie kommen konnte.«

Verwirrt starrte Max auf die beiden Fotos unter dem Artikel. Seinen Onkel erkannte er sofort wieder, denn er sah aus wie Max’ Großvater, der schimpfend und Korn trinkend auf dem Sofa saß. Magda hingegen erkannte er nur an den bösen kleinen Augen. Sie war eine alte Frau mit dünnen grauen Haaren geworden.

Max konnte nicht glauben, was er da las, und starrte auf die Zeitung. Nikolas hatte die beiden regelrecht niedergemetzelt, aber warum? Der Traum aus dem Flieger ging ihm durch den Sinn und ihm wurde erneut übel.

Früher hatten die Brüder oft gewusst, was der andere dachte, und nicht viel Worte gebraucht, um sich zu verständigen, aber dass der Traum die Realität gezeigt haben sollte, war Max entschieden zu viel. Die Zeit schien plötzlich wie ein zäher Brei, Max fühlte sich wie in Watte gepackt, heiß wie in einem Fiebertraum.

Frau Weise räusperte sich und berührte kurz seinen Arm.

»Max, ist alles in Ordnung, möchtest du ein Glas Wasser?«, hörte er sie fragen.

Max kämpfte sich durch die Watte, die ihn umgab, und schüttelte den Kopf. »Wie konnte es dazu kommen, ich verstehe das Ganze nicht. Nikolas hat Magda und Erich umgebracht? Warum sollte er das tun? Was haben die beiden ihm denn getan?«, stieß er hervor.

Die Absurdität des Gedankens war unfassbar für ihn. Da musste ein Fehler begangen worden sein, ein Komplott. Alles war nicht wahr und er lag wahrscheinlich im Drogenrausch nach irgendeiner wilden Party in New York in seinem Bett und hatte schwerste Halluzinationen.

In schlechten Filmen kneifen sich die Akteure in den Arm, um festzustellen, ob ihnen wirklich die Dinge zustoßen, die sie nicht wahrhaben wollen. Doch dies war kein Edgar-Wallace-Film der sechziger Jahre, in denen der schwarze Abt oder der grüne Bogenschütze sein Unwesen trieb. Max saß in Schwarzhausen, an einem Montagnachmittag im Juni und sein Bruder hatte Tante und Onkel erschlagen und dann die Polizei gerufen. Da half kein Kneifen.

»Waren Sie hier, als es geschah?«

»Nein«, erwiderte sie, »wir hatten Ladenschluss und ich war mit meiner Schwiegertochter im Kino in der Stadt. Es war niemand zu Hause, mein Mann ist ja schon lange tot. Als mich meine Schwiegertochter gegen 22 Uhr hier absetzte, war alles voller Polizisten und die haben mich natürlich gleich vernommen. Nikolas saß oben in der Küche und sagte kein Wort. Ich habe gestern deine Tante Ilse getroffen und sie hat mir erzählt, dass er seit der Verhaftung immer noch nicht gesprochen haben soll. Die Polizei hat dann alles oben abgeriegelt und zwei Tage lang durchsucht, aber der Sachverhalt ist ja klar. Er hat die Tat gestanden und jetzt sitzt er in Untersuchungshaft. Am Sonntag haben sie dann die Absperrung weggenommen und die Wohnung für die Verwandtschaft geöffnet. Du weißt ja, dass Magda und Erich im Clinch mit der Familie lagen.

Na ja, so richtig leiden konnte sie ja keiner, aber deswegen muss man sie ja nicht gleich umbringen. Dein Vater und deine Schwester waren dann auch gleich am Sonntagabend hier, sie wollen die Wohnung wohl räumen lassen. Du kannst dir ja vorstellen, was hier im Dorf los ist seit letzter Woche.«

Frau Weise erteilte ausführlich Auskunft über die Klatsch- und Tratschmechanismen des Dorfes. Max hörte nicht mehr zu.

»Haben Sie einen Schlüssel für die Wohnung?«

Sie starrte ihn entgeistert an und nickte.

»Ich kann es nicht glauben, ich muss da hoch, bitte geben Sie mir den Schlüssel.«

»Aber Junge, ich weiß nicht, ob das geht. Du kannst doch nicht einfach so da hochgehen.«

»Aber Sie haben doch gesagt, dass die Ermittlungen bereits abgeschlossen sind. Ich werde schon nichts anrühren oder mitnehmen. Sie können ja gerne mitkommen.«

Sie schüttelte den Kopf und gab ihm den Schlüssel. Max stand auf und ging in den grauen Hausflur, die Treppe knarrte unter seinen Tritten. Im ersten Stock sah er die Tür. Eine billige Spanplatte war vor die zerbrochene Scheibe genagelt worden.

Ohne zu zögern, betrat Max die Wohnung, in der eintöniges und fahles Licht brannte, obwohl es draußen hell war. Die Polizei hatte wohl vergessen, die Lampen auszuschalten. Unvermittelt und wie eine Welle brach die Gier über Max hinein. Plötzlich wollte er nur Thierry anrufen, damit das weiße Pulver ihn von diesem Ort wegbeamte.

Was machte er hier? Warum hatte er sich in den Flieger gesetzt, war sechstausend Kilometer geflogen?

»Verdammte Scheiße«, dachte er und ging nach rechts in die Wohnküche. Die Zeit schien in dieser Wohnung stehengeblieben zu sein. Die Lampe an der Decke verströmte wie damals ein kaltes Neonlicht und darunter baumelte ein Klebestreifen mit toten Fliegen. Das alte Sofa war durchgesessen und das Holzfenster zum Hof war noch nicht durch ein lärmschützendes neues Plastikfenster ersetzt worden.

Max schaute in den betonierten Innenhof und die Garagenzeile. Der Garten dahinter wurde fast durch die Stille erdrückt. Kein Vogellaut, keine Straßengeräusche. Der Himmel hing tief.

Es war heiß und stickig. Er öffnete das Fenster, um einen Luftzug in die Wohnküche zu lassen. Heiße, verbrauchte Luft stieg ihm entgegen und in nicht allzu naher Ferne grummelte das erste Anzeichen eines Sommergewitters. Hoffentlich würde es bald regnen.

Er rieb sich die Stirn, seine Wunde juckte, die Kopfschmerzen wurden wieder stärker. Er brauchte dringend Aspirin, drehte sich um und ging ins Bad. Um die Badewanne herum klebte vertrocknetes Blut, inzwischen schwarz geworden.

Erstaunlich, wie viel Blut in einem Körper ist, wie viel waren es, sieben, acht Liter? Und warum ist es so zäh und wird schwarz, wenn es trocknet?

Warum dachte er über die Konsistenz von Blut nach? Plötzlich wollte er nichts als raus aus dieser Wohnung, aus diesem Scheiß-Provinznest, aus diesem Land. Am besten so weit weg wie möglich! Scheiß doch auf das Aspirin. Er verließ das Bad und ging zurück in den Flur, da hörte er ein Geräusch aus dem hinteren Teil der Wohnung. Der Flur machte eine leichte Biegung, angrenzend daran lagen das Wohn- und Schlafzimmer. Ein säuerlicher Geschmack machte sich in seinem Mund breit. Er ging nach hinten und betrat den Schlafraum. Ein alter Mann stand mit dem Rücken zu ihm. Er war mittelgroß, hatte weißes welliges Haar und war etwas übergewichtig. Seine Kleidung war farblos, seine Haltung gebückt. Er hielt einen Umschlag in den Händen. Max räusperte sich, aber es kam keine Reaktion. Er hatte vergessen, dass Herrmann nicht besonders gut hörte, also klopfte er laut gegen den Türrahmen. Der alte Mann drehte sich um, starrte seinen Sohn entgeistert an und steckte hastig einen Umschlag in die Brusttasche seiner Anzugjacke.

»Hallo Papa«, sagte Max.

Katharsis. Drama einer Familie

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