Читать книгу Aloha in Surf City - Michael Reisinger - Страница 6
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ОглавлениеBeep. Beep. Beep. Joe schreckt hoch. Um ihn herum ist es dunkel. Sein Herz schlägt schnell und immer noch spürt er dieses seltsame Gefühl der Erregung. Wo ist Katerina? Verwirrt schaut er sich um. Doch er sieht nichts als die Inneneinrichtung eines Schlafzimmers. Genau genommen seines Schlafzimmers. Beep. Beep. Beep. Der Wecker schlägt unerbittlich Alarm. Joe drückt wie ferngesteuert auf die Ausschalttaste. Dann liegt er für einen Moment einfach nur da und versucht das Chaos in seinem Kopf zu ordnen.
Langsam, sehr langsam kommt Klarheit. Das Ganze war nur ein Traum! Aber was für einer. Überhaupt, es war ja nicht der einzige diese Nacht. Vorher gab es noch den Traum mit dem Flugzeugabsturz. Joe kann sich nicht erinnern, wann er je so eine intensive Traum-Nacht gehabt hat. Er verbringt eine Minute damit, alles Geträumte zu rekonstruieren. Das, komischerweise, gelingt ihm gut. Dabei gehört er doch normalerweise zur gepeinigten Mehrheit der Menschen, die ihre Träume Sekunden nach dem Aufwachen wieder vergessen haben. Joe investiert eine weitere Minute um die Träume zu analysieren. Das, nicht weiter verwunderlich, gelingt ihm überhaupt nicht.
Was sollte das Ganze? Keine Ahnung. Haben diese Träume irgendeine tiefere Bedeutung? Er glaubt mal eher nicht. Wohl eher etwas Falsches zu Abend gegessen. Oder zu spät gegessen? Ja, das wird es sein. Er hat gestern erst kurz vor Mitternacht sein Abendbrot gehabt, ein Umstand der auf die Tatsache zurück zu führen ist, dass er den ganzen Abend davor damit verbracht hat, sich übers Telefon mit Vivian zu streiten.
Oh Gott, der Streit! Jetzt hätte Joe gerne den Zustand dämlicher Benommenheit wieder, den er vor wenigen Augenblicken noch besessen hat. Doch es ist zu spät. Sein Gehirn hat die Informationen hochgeladen und beginnt in Hyperspeed die Ereignisse des vergangenen Abends vor Joes innerem Auge abzuspielen. Es ist furchtbar. Warum foltert ihn sein Unterbewusstsein nur so? Die schönen Dinge scheint es immer schnell zu vergessen aber die schrecklichen, die werden wieder und wieder hervorgekramt. Damit man ja nur schön leidet und sich mies fühlt!
Vivian ist eigentlich eine tolle Frau. In mancher Hinsicht sogar seine Traumfrau. Doch das trifft nur auf bestimmte Aspekte ihres Seins zu. Körperlich, oh ja. Sie ist sehr attraktiv. Talentiert im Bett? Check und Doppel-Check. Aktiv und abenteuerlustig? Ja. Humorvoll? Ja. Ein Kumpel-Typ? Ja. Ja,… aber! Sie ist alles oben genannte und wahrscheinlich sollte er unendlich dankbar sein, so eine tolle Freundin zu haben, aber es gibt halt leider ein Aber. Sie kann ihm keine Sicherheit geben und damit keine Freiheit. Verständlich, oder? Nicht wirklich. Zumindest für Joe nicht. Verstehen tut er das Ganze nicht. Er weiß, dass er diese Gedanken in sich trägt und dass jedes Mal wenn er daran denkt sein Herz furchtbar zu schmerzen beginnt, als ob ihm jemand mit einer Nadel reinsticht. Das Schlimmste an diesem Gefühl ist, dass er nicht die geringste Ahnung hat, was es zu bedeuten hat.
Noch schlimmer, er weiß nicht mal, ob er sich alles nur einbildet! Ist es wirklich ein begründetes Gefühl die Beziehung betreffend, oder aber nur eine Projektion seiner sonstigen Unzufriedenheit? Denn Joe ist nicht besonders stolz auf sein Leben, auf das von ihm Erreichte. So kämpft er immer wieder mit großem Selbstzweifel. Mangelndes Selbstbewusstsein ist leider seine große Schwäche, eine grausame Bürde, gegen die er sich unendlich machtlos fühlt und die ihm viel Frustration bereitet.
Diese schlechten Selbstwertgefühle hängen auch mit seinem Job zusammen, den Joe abgrundtief hasst. Seit nun mehr fünf Jahren arbeitet er in dem gleichen Callcenter. Am Anfang musste er selber noch telefonieren, sowohl für die Hotline, langweilig, als auch für Werbeaktionen, erniedrigend. Mittlerweile ist er zum Trainer aufgestiegen und für die Einschulung der neuen Mitarbeiter zuständig. Auch wenn ihm diese Tätigkeit besser gefällt als das reine Telefonieren, so ist es weit weg von dem, was er sich für sein Leben erträumt hat. Doch Joe hat keinen besseren Plan. Er hat keinen Traumjob oder sonstigen großen Ziele, auf die er hinsteuern könnte. Und reich oder mit besonderer finanzieller Unterstützung seitens der Eltern gesegnet ist er leider auch nicht. Darum bleibt Joe in diesem Job, vorläufig zumindest. Bis sich etwas Besseres auftut. Ein Satz, den er vor zwei Jahren auch schon gesagt hat.
Der Job löst in ihm das Gefühl der Unfreiheit aus und dadurch mangelt es ihm komischerweise auch an Sicherheit. Immer wieder dieses Paradoxon. Früher dachte Joe immer, Sicherheit und Freiheit wären konkurrierende Dinge, das eine das andere ausschließend, doch heute ist er sich da nicht mehr so sicher. Warum fühlt er permanent, beides nicht zu besitzen und zwar gleichzeitig? Er hat immer auf Sicherheit geachtet, sein ganzes Leben danach ausgerichtet und doch nie den Zustand vollkommener Sicherheit erreicht. Und frei hat er sich auch nie gefühlt. Joe kommt sich vor wie ein Hamster im Laufrad, der so schnell laufen kann wie er will und doch nicht von der Stelle kommt.
Und genau dieses Gefühl hat er auch bei Vivian. So viel Hoffnung hatte er in diese Beziehung gelegt, dass sie ihm endlich die fehlende Stabilität und den so lang ersehnten Halt gibt. Dafür war er auch bereit seine Freiheit aufzugeben, denn alles hat seinen Preis, oder? Doch das Resultat ist äußerst unbefriedigend, denn nun fühlt er sich, als ob er weder das Eine noch das Andere hat. Viv ist nämlich eine Frau, die genau andersrum tickt wie er. Für sie ist Sicherheit nicht so wichtig, sondern sie will einfach nur so intensiv wie möglich leben. Erfahrungen sammeln und Spaß dabei haben. Das Leben so genießen, wie es daher kommt. So viel Positives mitnehmen, wie halt nur geht. Ihre unverkrampfte, lockere Art steht Joes verkopfter Lebensweise konträr gegenüber und bewirkt bei ihm einen Dauerzustand aus Stress und Überforderung.
Daraus entstehen dann solche Streitereien wie gestern Abend. Sie hatten sich eigentlich zum gemeinsamen Filmschauen verabredet, eine ihrer typischen Aktivitäten für einen Sonntagabend. Doch kurz bevor Viv zu ihm rüber kommen sollte, hatte sie bei ihm angerufen und das Filmschauen auf einen anderen Abend verschoben. Ihre beste Freundin hatte anscheinend Karten für ein Konzert von irgendeiner Ska-Band geschenkt bekommen und natürlich war das jetzt auf einmal wichtiger als der gemeinsame Abend mit dem Freund. Und genau das hat er ihr dann auch vorgeworfen. Klar und deutlich. Tja und wie das so ist in Beziehungen, gestritten wird immer gerne und darum haben sie sich am Ende geschlagene vier Stunden miteinander gefetzt. Über seinen Kontrollwahn, seine Eifersucht und seine Verkrampfung, über ihre Verantwortungslosigkeit, ihre Launenhaftigkeit, und ihre Gleichgültigkeit. Schließlich waren beide schlecht drauf, total erschöpft und unglücklich. Super! Hat sich voll ausgezahlt!
Und als Bonus gab es noch diese schrägen Träume oben drauf! Oh Mann, ist das mal wieder ein beschissener Start in die Woche. Joe ist bei seiner Arbeit angekommen. Während er über die Ereignisse der letzten Nacht nachdachte, hat er sich geduscht, gefrühstückt, die Zähne geputzt, angezogen, ist aus der Wohnung gegangen, hat die U-Bahn genommen und steht jetzt vor der Eingangstür zum Callcenter. Bevor er das Gebäude betritt, nimmt er noch ein paar letzte tiefe Züge der kalten Winterluft, wohlwissend, dass viele Stunden mit künstlicher Luft aus der Belüftungsanlage auf ihn warten.
Nun kommt ein weiterer Gedanke in ihm hoch. Heute ist doch der Tag von dieser groß angekündigten Betriebsversammlung, die so mysteriös durch die Emailverteiler der Firma herumgegeistert ist und alle in Angst und Schrecken versetzt hat. Um was es dabei wohl gehen mag? Ein leichtes Gefühl des Unwohlseins beschleicht ihn. Die Chefs werden doch nicht etwa…? Joe versucht den fürchterlichen Gedanken beiseite zu schieben. Plötzlich hat er Bauchweh.
Augenblicke später betritt er den Konferenzraum der Firma. Ein hektisches Treiben erwartet ihn. Die gesamte Belegschaft des Callcenters ist schon da und wartet gespannt und wild durcheinander schnatternd auf die Ankunft der Chefs. Joe bahnt sich seinen Weg durch diesen wild gewordenen Hühnerhaufen und nimmt auf dem letzten freien Stuhl im hinteren Teil des Raumes Platz. Er hätte keine Sekunde später kommen dürfen. Sobald er Platz genommen hat, schwingt die Tür zum Konferenzraum ein weiteres Mal auf und ihre Lordschaften, wie Joe die Chefs leicht verächtlich bezeichnet, kommen strammen Schrittes hereingeeilt. Angeführt wird der Trupp von Herrn Dr. Schwarzer, seines Zeichens Absolvent einer Wirtschaftsuniversität und Telemarketingexperte. In Joes Augen ein Schnösel wie er im Buche steht. Er ist der oberste Chef von „ConnectU&them“ wie die Firma lächerlicherweise heißt.
Warum müssen eigentlich diese ganzen Marketingfuzzis immer mit solch bescheuerten Firmennamen daherkommen? Joe findet dafür einfach keine Erklärung, außer dass es sich bei ihnen wahrscheinlich um ziemlich verblödete Abkommen der Gattung Mensch handeln muss. Glauben die wirklich, dass ein Callcenter irgendwie wichtiger für die Menschen wird, nur weil es so einen „tollen“ Namen hat.
Nichtsdestotrotz beginnt die Veranstaltung. Dr. Schwarzer, soviel Zeit muss schon sein dass man den Titel seiner Durchlaucht erwähnt, eröffnet mit ein paar Worten. Irgendwas über den globalen Wettbewerb, vor allem über die Chancen und Risiken der Globalisierung. Weiteres Blabla über Profitoptimierung als geschenkte Chance der Investoren für jede und jeden im Team von „ConnectU&them“. Und natürlich darf nicht eine Passage über die Wichtigkeit von Veränderungen für den Erhalt und die Bewahrung des erreichten Erfolges fehlen. Der gute Doktor hat offensichtlich geübt, denn das Ganze wirkt wie eine perfekt einstudierte Einleitung zu einem hoch dramatischen Hauptteil. In diesen versucht Dr. Schwarzer nun zu wechseln und zwar durch eine lange Pause, in der er sich bemüht bedeutungsvollen Blickkontakt mit dem Publikum aufzunehmen.
Aber dazu kommt es nicht mehr. Plötzlich ertönt Lärm von draußen und Sekunden später fliegt die Tür zum Konferenzzimmer sperrangelweit auf und eine Gruppe junger Menschen stürmt herein. Terroralarm? Für eine Sekunde befürchtet Joe genau das, denn die Medien haben ihn hervorragend trainiert in der Fähigkeit, gleich vom Schlimmsten auszugehen. Doch die jungen Frauen und Männer schauen so gar nicht nach klassischen Terroristen aus, also keine langen Bärte, bösen Blicke und so. Darüber hinaus haben sie auch keine erkennbaren Waffen, nicht mal ein Taschenmesser kann Joe in ihren Händen erkennen. Vielleicht Aktivisten? So langsam dämmert Joe, um wen es sich hier handeln könnte. Das müssen Aktivisten dieser Jugendbewegung sein, die seit einiger Zeit Konzerne heimsucht. Dabei decken sie deren Missstände mit diversen Aktionen schonungslos auf. Wenn Joe sich nicht komplett irrt, dann wird das jetzt richtig lustig werden.
Im nächsten Augenblick schon schreit die Anführerin durch den ganzen Raum: „Ihr seid alle gefeuert! Ihr seid alle gefeuert! Ihr seid alle gefeuert!“ Ihre Kolleginnen und Kollegen stimmen mit ein und so schallt ein bizarrer Chor durch das Konferenzzimmer. Und genau so läuft das meistens ab, bei dem was diese Jugendbewegung so macht: in Veranstaltungen der Konzerne zu platzen und diese mit bizarren Aktionen bloß zu stellen, bis aufs Unterhemd. Es ist eine neue Ausdrucksform von Jugendrebellion. Und es ist gerade der angesagteste Hype im Studentenmilieu, weshalb man wöchentlich in der Zeitung von irgendwelchen Aktionen liest und was für schlimme Hausfriedensbrüche und Erregungen öffentlichen Ärgernisses nicht damit einhergehen. Die Medien haben sich festgelegt, dass die Aktivisten böse sind, doch Joe teilt diese Meinung nicht. Sie mögen klischeehaft sein, manche von ihnen das Ganze mehr als Belustigung oder als aufregenden Kick betreiben. Aber dafür besitzen diese jungen Menschen einen Idealismus, der in unserer zynischen, kalten und materialistischen Welt schon so gut wie verloren gegangen scheint. Und das beruhigt Joe ungemein.
Was ihn weniger beruhigt ist der Inhalt des Singsangs. Was diese Aktivistin anschneidet ist die nicht unbedeutende Tatsache, dass er gerade dabei ist seinen Job zu verlieren. Nicht das ihm irgendetwas an diesem Job liegt, aber die damit einhergehende Sicherheit, die würde er doch vermissen. Ehrlich gesagt sehr sogar. Auf einmal schlägt sein Herz schneller, sein Atem wird flacher und seine Kehle fühlt sich an, als ob sie jemand kräftig zudrücken würde. Scheiße nochmal, wenn die Lady Recht hat ist er arbeitslos!
Woher diese Jugendbewegung ihre Informationen bekommt ist ein großes Mysterium. Dennoch liegen sie auf rätselhafte Weise oft richtig, ein Phänomen das nun Land ein Land aus zur Legendenbildung beigetragen hat. Und das bei der Belegschaft hier im Raum die traurige Gewissheit auslöst, dass sie alle, aber wirklich alle gefeuert sind.
Großes Chaos bricht aus. Dr. Schwarzer und seine Hilfsscheriffs vom Management versuchen unter Einsatz hohler Phrasen zu beruhigen. Aber sie wissen nur allzu genau, dass ihnen die Aktivistin ihre kleine Show gestohlen hat, indem sie die bittere Wahrheit knallhart auf den Tisch geworfen hat anstatt sie häppchenweise zu servieren. Die Aktivisten schreien weiter ihre Parolen, ihre Anführerin dabei am lautesten. Die Belegschaft bricht in Wut und Ärger aus und fängt an, die Manager zu bedrängen. Dadurch verliert einer von Dr. Schwarzers Assistenten die Nerven. In einem verzweifelten Versuch die Aktivisten los zu werden, packt er deren Anführerin bei den Haaren und versucht sie mit brutaler Gewalt zur Tür zu ziehen. Die Aktivistin schreit unter großen Schmerzen laut auf.
Das ist zu viel! Joe, eigentlich ein friedlicher Mensch, dazu völlig unerfahren in der Ausübung körperlicher Gewalt und vor allem normalerweise äußerst kopfgesteuert, springt auf, rennt zu dem Assistenten der immer noch sein Opfer malträtiert und haut ihm so richtig eine aufs Maul. Also genauer genommen auf die Nase. Warum? Joe weiß es nicht, denn für einen Moment hat er aufs Nachdenken und Analysieren und sich Sorgen machen vergessen; stattdessen hat er einfach etwas getan, was sich im kurzen Augenblick wunderbar anfühlt. Der Augenblick währt so lange wie der Assistent schmerzvoll aufschreit, die Aktivistin loslässt, nach hinten taumelt und die Nase ungläubig und überaus vorsichtig mit seiner Hand abtastet.
Der Moment ist vorbei als der Assistent wieder klar sehen kann, Joe anvisiert und ihn mit einer Tracht Prügel bedenkt. Zu Joes Nachteil muss dabei erwähnt werden, dass der Assistent nach seiner Figur zu urteilen wohl zumindest Mitglied eines Fitnessstudios sein muss und vielleicht auch etwas Kampfsporterfahrung mitbringt, abzuleiten aus der Präzision der Schläge. Und schon ist Joes Boxerkarriere vorbei und er selbst zu Boden gegangen. Nichtsdestotrotz fühlt er immer noch große innere Zufriedenheit. Endlich mal hat er etwas gemacht, ohne vorher groß darüber nachzudenken und ohne es mit Maßstäben der Kategorie Sicherheit zu bewerten. Das Resultat, wie körperlich schmerzhaft es auch sein mag, fühlt sich dennoch richtig an.
Zu seinem Glück schreitet auch schon Herr Hillington ein und beruhigt den aufgebrachten Assistenten von Dr. Schwarzer wodurch der ungleiche Kampf offiziell ein Ende nimmt. Joe ist Hillington dafür sehr dankbar. Der glatzköpfige Mitvierziger ist, oder wohl besser gesagt war, Joes direkter Vorgesetzter bei „ConnectU&them“ und eigentlich als dieser auch ganz ok. Ein bisschen beamtenhaft, sehr beamtenhaft wenn man es genau nimmt, aber eigentlich ein ganz guter Kerl. Korrekt. Sehr korrekt und sehr, sehr langweilig. Eine Vorschau in Joes Zukunft, wenn er weiter bei „ConnectU&them“ bleiben hätte dürfen.
Während Hillington den Assistenten beruhigt kümmert sich die Aktivistin um Joe und hilft ihm auf. Dabei treffen sich ihre Augen und im Bruchteil einer Sekunde ist er wie elektrisiert. Meine Güte hat diese Frau schöne Augen! Wahrscheinlich die schönsten Augen, die er je gesehen hat. Einen Hauch mysteriös, energiegeladen und dennoch tiefgründig, verspielt und kokettierend, ein wenig verrucht und vor allem so unglaublich lebendig. Oh Gott, strahlt diese Frau eine Lebenskraft aus! Einfach umwerfend. Sie streckt ihm ihre Hand zum Handschlag hin. „Hi. Ich bin Anna. Anna Nagresia. Danke für die Rettung!“ Sie lächelt ihn an. „Joe.“ Mehr bringt er nicht raus und auch das nur mit gebrochener Stimme. Ihr Lächeln verbreitert sich. Flirtet sie mit ihm?
Plötzlich muss Joe an Viv denken und es befällt ihn ein schlechtes Gewissen. „Sind Sie in Ordnung?“ Er versucht auf die sachliche Ebene zu wechseln. Sie bejaht die Frage mit einem Kopfnicken, garniert mit einem leichten Hauch von Enttäuschung in ihren Augen. Doch auch sie wird sachlich: „Wir müssen eh los. Danke nochmal. Und… Und alles Gute für die Zukunft.“ Ein letzter Blick, nun gefüllt mit aufrichtigem Mitleid. Dann ist Anna aus der Tür raus. Und mit ihr alle Aktivisten. Übrig bleiben eine wütende Belegschaft und Chefs, die in dieser Lektion gespürt haben wie es wohl ist, Kapitän der Titanic zu sein.
Zwei Stunden später steht Joe wieder vor seiner Wohnungstür. In seinem Kopf finden tausend Sachen gleichzeitig statt was zu einer Totalverstopfung aller Kanäle führt. Aber Joe ist unheimlich froh dass sein Gehirn gerade nicht richtig funktioniert, denn eigentlich will er überhaupt nicht nachdenken. Er weiß eh dass bald, sehr bald, der Gedanke an seine Arbeitslosigkeit die Kontrolle über seine grauen Zellen übernehmen wird. Bis dahin möchte er nur kurz etwas essen und dann Viv anrufen um diesen unsäglichen Streit von gestern Abend aus der Welt zu schaffen. Joe steckt den Schlüssel in die Tür und sperrt auf.
Sekunden später hat ihn der Schlag getroffen. Vivs Mantel ist weg. Genauso ihre Schuhe, die sie als „Reserve für besondere Notfälle“ in seinem Vorraum deponiert hatte. Und an der Wand fehlt das kitschige Surfbild, das aufzuhängen er sich unter sanftem Druck ihrerseits bereit erklärt hatte. Was ist hier los? Wieder mal beschleunigt sein Puls.
Oh mein Gott, sie wird doch nicht? Zwei Räume später, die beide an Inventar verloren haben, plus einen Wohnungsschlüssel mehr am Schlüsselboard, ist es traurige Gewissheit. Vivian hat ihn verlassen. Der Abschiedsbrief am Esstisch scheint gleiches nahelegen zu wollen. Joe fühlt sich auf einmal so leer und müde. So unendlich müde. Zu müde sogar um den Brief zu lesen. Es ist ihm eh schon klar was drin stehen wird. Er geht schnurstracks ins Schlafzimmer und haut sich in voller Montur, inklusive Straßenschuhe in sein Bett. Sekunden später ist er eingeschlafen…