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1.3 Das »Fach«: Theologie der Spiritualität
ОглавлениеIn welchem Zusammenhang steht die Frage nach der Theologie des Gebets? In welchem theologischen »Fach« stellen wir sie? Das Gebet ist in allen Religionen Teil der Spiritualität. Nun gibt es an manchen theologischen Fakultäten wie z.B. in Wien einen eigenen Lehrstuhl für »Theologie der Spiritualität« oder sogar eigene (Master- bzw. Lizentiats-)Studiengänge wie in Münster oder Nijmegen, Rom oder Chicago. Meist aber wird dieser spezifische Zugang einem der anderen theologischen Fächer zugeschlagen. Zumindest gilt damit die theologische Reflexion der Spiritualität fast an allen Fakultäten als ein eigenständiger Zugang mit einzelnen Lehrveranstaltungen und einer eigenen Abteilung in der Bibliothek. Im deutschen Sprachraum haben sich daher die betreffenden TheologInnen aller Konfessionen, die aus unterschiedlichsten theologischen Disziplinen stammen, zur »Arbeitsgemeinschaft Theologie der Spiritualität« zusammengeschlossen und treffen sich regelmäßig zu Tagungen.
Was meint der Begriff Spiritualität? Der Begriff wurde erst in den 1960er und 1970er Jahren aus dem Französischen ins Deutsche und in andere Sprachen übertragen. Sein Gebrauch im nicht frankophonen Sprachraum ist mithin noch relativ jung. Historisch steht die weltweite Einführung des Begriffs Spiritualität für den kirchlichen Aufbruch in der Zeit des II. Vatikanischen Konzils: Das Konzil hat »spiritualité« dynamisiert und globalisiert.
Etymologisch steht am Ursprung die lateinische Wurzel »spiritualitas«, die bereits in frühchristlichen Schriften verwendet wird – erstmals im ersten Clemensbrief (als Adverb »spiritualiter«) und dann gehäuft bei Tertullian. »Spiritualitas« ist ihrerseits vom Adjektiv »spiritualis« abgeleitet – einem frühchristlichen Neologismus zur Übersetzung des neutestamentlichen Begriffs »πνευματικς«, geistlich (fünfzehnmal bei Paulus, bes. 1 Kor 2,10–3,3; fünfmal in Eph, Kol und zweimal in 1 Petr). Diesen wiederum setzt Paulus den Begriff σαρκικς, fleischlich, entgegen, was die theologische Verwendung des Adjektivs wie des Substantivs prägt: Fleischlich ist jemand, der sich völlig im Diesseits verschließt, spirituell der, der sich dem Wirken des Heiligen Geistes öffnet.
In den letzten beiden Jahrzehnten ist der Begriff »Spiritualität« ein Modewort geworden – mit dem Nachteil, dass er sehr schillernd verwendet wird. Für seine Definition möchte ich vier Elemente vorschlagen:
1) Spiritualität ist Leben aus dem Heiligen Geist (aus der göttlichen Gnade, aus der Verbundenheit mit Jesus Christus).
2) Spiritualität ist Leben im Umgang mit der Wirklichkeit. Dualistisch verstandene Weltferne oder Wirklichkeitsenthobenheit ist kein Kennzeichen authentischer Spiritualität. Vielmehr wird diese gerade in der alltäglichen Wirklichkeit die Spuren Gottes zu entdecken versuchen. Spiritualität deutet die »Zeichen der Zeit« (GS 4). Nichts in dieser Welt ist von einem spirituellen Umgang prinzipiell ausgeschlossen. Spiritualität meint eine bestimmte Form der Wahr-Nehmung der je geschichtlich vorfindbaren Situation in Einheit von Erkennen und Tun.
3) Spiritualität ist eine »Gestalt des Glaubens« (Bernhard Fraling 1970, 193): Sie ist mehr als eine bloße innere Grundhaltung, etwa der Hingabe, des gläubigen Vertrauens, der Hoffnung (vgl. Hans Urs von Balthasar 1965, 715). Sie umfasst diese zweifellos, schließt aber zudem deren geschichtlich bedingten, je konkreten Ausdruck ein, ist also »fleischgewordene«, in einem Lebensstil gelebte Grundhaltung.
4) Spiritualität im Singular ist die eine, »epochale Grundgestalt des Glaubens« (Bernhard Fraling 1970, 193): Natürlich gibt es notwendig (!) Spiritualitäten verschiedener Individuen, Gruppen oder Bewegungen im Plural. Zunächst aber bezeichnet Spiritualität die in einer Zeit und einer Religion vorfindbare Grundgestalt geistlichen Lebens. Vorrangige Trägerin christlicher Spiritualität ist demzufolge die Kirche, deren Überlieferung in Schrift und Tradition die Gestaltwerdung der Spiritualität in eine konkrete Zeit hinein erst ermöglicht und deren Liturgie ihr den zentralen Kristallisationspunkt bietet. Christliche Spiritualität ist – bewusst oder unbewusst, gewollt oder nicht – immer kirchlich.
Aus diesen vier Komponenten lässt sich nun die Definition der Spiritualität in einem Satz zusammenfassen:
Gegenstand der Spiritualität ist immer die Einheit von individueller und struktureller Wirklichkeit. Strukturelle Rahmenbedingungen als Ermöglichungsgrund individuellen Verhaltens müssen gleichermaßen spirituell durchdrungen und gestaltet werden. Klassisches Beispiel hierfür sind die Ordensregeln, Meisterstücke einer in Normen und Leitbilder gegossenen Spiritualität. Die Sorge um angemessene Strukturen in Kirche und Staat – in demokratischen Gesellschaften vorwiegend eine (kirchen-)politische Aufgabe – ist folglich keinesfalls nebensächlich. Im Gegenteil: Mystik und Politik sind untrennbar miteinander verbunden. Politik ohne Spiritualität wäre herz-los: Ihr fehlte die tragende Mitte. Und Spiritualität ohne politischen Biss bliebe halb-herzig: Sie wäre in romantischen Träumen gefangen. Die klassische Zweiteilung von Weltdienst und Heilsdienst als material voneinander abtrennbaren Bereichen ist damit überholt: In allem menschlichen Tun und Überlegen geht es um das Heil der Welt.
Spiritualität markiert in einer pluralen Welt einen Glaubensstandpunkt. Dieser mag pointiert und dezidiert vertreten werden, er bleibt rechtfertigungspflichtig (!) und wird zugleich gerade so, nämlich als dezidiert vertretener kommunikabel, rechtfertigungsfähig gegenüber Menschen anderer Religion oder Weltanschauung (vgl. Andreas Renz/Hansjörg Schmid/Jutta Sperber 2006 [Hg.]), aber auch zwischen Menschen desselben christlichen Glaubens – sei es, um strittige Fragen zu klären, sei es, um diese Spiritualität weiterzugeben. Dazu muss er freilich vernunftmäßig erschlossen und plausibel dargestellt werden. Denn die Vernunft ist in der abendländischen Tradition die anerkannte Basis jeden Dialogs.
Genau dieser vernunftbasierte Dialog ad intra und ad extra über christliche Spiritualität ist Aufgabe des Fachs »Theologie der Spiritualität« als eines eigenen Faches oder Fachbereichs innerhalb des theologischen Fächerkanons. Sein Materialobjekt ist die christliche Spiritualität. Sein Formalobjekt ist einerseits die (primär) philosophische Anthropologie. Sie stellt aus der Außenperspektive des (relativ) distanzierten Beobachters die Frage, inwieweit Spiritualität dem menschlichen Existenzvollzug dient, ihn spiegelt und etwas über den Menschen und seine Gottesvorstellung sagt. Sein Formalobjekt ist andererseits die theologische Analyse. Diese untersucht aus der Binnenperspektive des engagierten Teilnehmers (also des spirituell lebenden Christen), inwieweit das Evangelium etwas von der christlichen Spiritualität und diese etwas von Gott sagt. Nach Karl Rahner ist Theologie immer zuerst und zuletzt Anthropologie: Da Gott verborgen bleibt, können wir letztlich nur über uns und über unsere Offenheit auf das absolute Geheimnis hin sprechen. Die beiden Formalobjekte der Theologie der Spiritualität lassen sich also gar nicht voneinander trennen.
In der hier vorgeschlagenen Ausrichtung ist die Theologie der Spiritualität Teil der systematischen Theologie. Natürlich muss sie auf biblische, historische und praktische Erkenntnisse zurückgreifen. Doch wird sie diese in einen systematischen Fragehorizont einordnen. Das gilt logischerweise auch für die hier vorgelegte Abhandlung einer Theologie des Gebets. Diese kann v.a. – und das soll von vorneherein eigens betont werden – nicht primär oder ausschließlich liturgiewissenschaftlich erfolgen. Zu keiner Zeit war christliches Beten beschränkt auf die Liturgie. Wenngleich dem liturgischen Beten im kirchlichen Leben eine herausragende Rolle zukommt, wäre es doch eine Verkümmerung der Spiritualität, würden die ChristInnen nur in der Liturgie und nur in liturgischen Formen beten. Eine Theologie des Gebets muss also material weiter ausgreifen als eine liturgiewissenschaftliche Untersuchung, sie hat aber auch formal eine viel fundamentalere Perspektive: Es geht ihr nicht um Ort und Bedeutung des Gebets in der Liturgie, sondern im menschlichen Leben ganz allgemein.