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2.1 Beten – sich seine Identität schenken lassen. Entdeckungen der Analytischen (Sprach-)Philosophie
ОглавлениеEine wichtige Inspirationsquelle der philosophischen Annäherung an das Phänomen des Betens ist die Analytische Philosophie. Entwickelt am Beginn des 20. Jh., sucht sie die Lösung philosophischer Probleme durch die Analyse des alltäglichen Sprachgebrauchs philosophischer Schlüsselbegriffe. Sie entwickelt sich zunächst zu einer eigenen »Schule«, später zu einer eher pluriformen Richtung der Philosophie, die schließlich als Methode in zahlreiche philosophische Ansätze Eingang gefunden hat. Im Gegensatz zur vorwiegend kontinentaleuropäischen Existenzphilosophie findet sie ihren Verbreitungsraum hauptsächlich im angloamerikanischen Bereich. Auch ihre deutschsprachigen Vertreter wie Rudolf Carnap und Ludwig Wittgenstein wandern dorthin aus. Ihre Begründer sind George Edward Moore (1873 London–1958 Cambridge) und Bertrand Russell (1872 Trellech, Wales–1970 Penrhyndeudraeth, Wales). Ziel ist nicht wie in der zeitgleich entstehenden Phänomenologie die Etablierung von Wahrheiten, sondern die Analyse von Begriffen. Dies führt zur »linguistischen Wende«, d.h. zur Beschäftigung mit der Sprache als zentralem Ansatz. Treffend charakterisiert das eine programmatische Äußerung von John Langshaw Austin (1911 Lancaster–1960 Oxford): Es gehe um die Analyse der Alltagssprache unter der Frage, »was wir wann sagen würden und … warum, und was wir damit meinen« (John Langshaw Austin 1975, 185). Die Sprachanalyse könne damit als »linguistische Phänomenologie« (John Langshaw Austin 1975, 182) bezeichnet werden, denn in der Sprache schienen die Phänomene der Wirklichkeit auf.
Bezogen auf unser Thema fragt die Analytische Philosophie v.a.: Was meinen Menschen, wenn sie beten, d.h. einen Gott oder eine göttliche Sphäre ansprechen? Welchen Gehalt, welche Bedeutung, welchen Sinn erschließt derartiges Reden? Welche Potenziale stecken darin? Fakt ist, dass viele Menschen beten – es kann also nicht sein, dass das völlig sinnlos ist. Umso mehr muss aber kritisch gefragt werden, worin denn die wirkliche Bedeutung des Betens als Sprechen liegt. Genau hier liegt die genuine Kompetenz von PhilosophInnen als SprachlehrerInnen.
Im deutschen Sprachraum hat der Religionsphilosoph Richard Schaeffler mit seiner »Kleine[n] Sprachlehre des Gebets« von 1988 wohl die umfassendste Anwendung sprachanalytischer Kategorien auf das Gebet präsentiert. Schaeffler gründet seine Überlegungen ganz »klassisch« auf die Sprechakttheorie. Nach ihr sind sprachliche Äußerungen Handlungen, die jemand vollzieht, indem er einen Satz äußert. Sprache ist Interaktion – sie bewirkt etwas.3 Was also bewirkt das Gebet? In seiner Beantwortung orientiert sich Schaeffler an dem jüdischen Philosophen Herrmann Cohen (1842 Coswig–1918 Berlin), der Kants Religionsanalyse weiterführt und zwei wesentliche Äußerungen des Gebets sieht:
a) Beten heißt, den Namen (Gottes) anrufen und sich so Identität schenken lassen: Im Anrufen eines Namens erinnert sich der Rufende an die Identität des Angerufenen und kann diesem begegnen. Er erinnert sich damit aber zugleich an seine eigene Identität, die wesentlich von der Beziehung zu dem Angerufenen geprägt ist. So kann er sich diese neu aneignen in Kontinuität und Differenz: Er bleibt derselbe, indem er sich wandelt und die alte Beziehung neu aufnimmt. Gerade wenn sich zwei Menschen begegnen und mit Namen ansprechen, die sich jahrelang nicht gesehen haben, kann man das intensiv erleben und beobachten.
Genau das geschieht aber beim Anrufen nicht nur des Namens eines Mitmenschen, sondern auch des Namens Gottes: Im Gebet bindet der Mensch seine Identität und Kontinuität an den ewigen, stets da seienden Gott (Ex 3,15), dessen »uralte Taten« immer neu aufleuchten (so der Text der Oration zur Exodus-Lesung in der Osternacht). Diese Identität wird ihm geschenkt und garantiert. Er braucht keine Angst darum haben, dass sie verloren gehen könnte. Denn Gott wird als der angerufen, »dessen Treue allein sicherstellt, dass unsere Vergangenheit bei ihm … unverloren ist und dass wir auf dem Wege in unsere Zukunft unsere Identität nicht verlieren« (Richard Schaeffler 1988, 30). Bei Gott bleibt der Mensch in Erinnerung, er geht nicht verloren.
b) Beten heißt erzählen und so (diachron) die eigene Lebensgeschichte ordnen und (synchron) die Beziehung zum Gegenüber stärken: Im Beten bringt der Betende erzählend sein Leben vor Gott. Solches Erzählen hat nach dem US-amerikanischen Philosophen Arthur Coleman Danto (*1924 Ann Arbor, MI) die Funktion, die Gegenwart im Blick auf die Vergangenheit zu organisieren und umgekehrt die Vergangenheit im Blick auf die Gegenwart. Erzählen ordnet, deutet und klärt. Der Blick des Betenden auf die in der Bibel erzählte Heilsgeschichte klärt seine eigene, ganz persönliche Lebensgeschichte, indem sich Analogien auftun und umfassendere Perspektiven sowie durchgehende Linien sichtbar werden. Umgekehrt lässt seine Lebensgeschichte viele Begebenheiten der Heilsgeschichte leichter verstehen (diachron).
Erzählen verbindet aber auch die Lebensgeschichten der kommunizierenden Personen: Das »Weißt du noch?« dient der Vergewisserung und Stärkung ihrer Beziehung (synchron). Ob lang Verheiratete am Hochzeitstag nochmals von ihrer Hochzeit erzählen oder Eltern ihren Kindern Begebenheiten des eigenen Lebens – immer geht es darum, die kollektive Identität zu stärken und die Gemeinschaft zu vertiefen. Geteilte Erzählungen schweißen zusammen.
Beide Funktionen findet Schaeffler auch im Gebet verwirklicht. Diachron betrachtet wird Gott angerufen als »der, dessen vergangene Taten der Mensch so erzählen kann, dass er dadurch für seine eigene Lebensgeschichte Deutung und Maßstab empfängt … und dem der Mensch seine eigenen Taten und Leiden so erzählen kann, dass sie sich dadurch zu einem ›geraden‹ Weg zusammenfügen« (Richard Schaeffler 1988, 69). Und synchron stärkt und bereichert das Erzählen vor Gott die Beziehung zu ihm.
Aus Cohens und Schaefflers Analyse ergeben sich – noch immer unabhängig davon, ob es Gott gibt – zwei wesentliche Forderungen an gelingendes Beten: Es muss erstens ein angemessenes Anrufen des Namens vermitteln und zweitens erzählen. Beides ist nicht selbstverständlich.
– Viele der noch immer im kirchlichen Gebet verwendeten Gottesnamen treffen nicht das gesunde Empfinden (den »sensus fidei«) der Glaubenden. Sie verunmöglichen die religiöse Identitätsbildung mehr, als dass sie sie fördern. Hier könnte der Islam mit seiner Sammlung der »99 Gottesnamen«, die in Wahrheit weit über 100 sind, einen ehrfürchtigeren und aufmerksameren Umgang mit der Gottesanrede lehren. Und das Judentum, das seinen (einzigen) Gottesnamen nur schreibt und liest, aber nicht ausspricht, könnte die Kostbarkeit unterstreichen, die ein treffender Name für Gott bedeutet. Er ist wie der Kosename, den Geliebte einander geben. Er enthält eine Kraft, die Berge zu versetzen weiß.
– Auch das Erzählen ist bei weitem nicht immer die Grundmatrix christlichen Betens. Obwohl die sog. Anamnese des liturgischen Betens hier einen guten Anhaltspunkt böte, bleiben die narrativen Elemente des Gebets oft abstrakt und blass. Zudem wird oft nur von der allgemeinen Heilsgeschichte erzählt, nicht aber von der eigenen Lebensgeschichte – so als wäre das eigene Leben kein Teil der Heilsgeschichte. Dabei wäre im Sinne Schaefflers gerade die gelungene Verbindung beider das befreiende und eröffnende Element des Gebets.