Читать книгу Im Geheimnis geborgen - Michael Rosenberger - Страница 6
Einführung: Scheinbar völlig nebensächlich?
ОглавлениеEine Lebenszeitbudgetanalyse des deutschen Statistischen Bundesamts destatis von 2001/2002 zeigt, dass jedeR Deutsche im Laufe seines bzw. ihres Lebens durchschnittlich rund zwei Wochen für das Beten verwendet. Zwei Wochen – einen halben Monat, ungefähr 0,5 Promille der Lebenszeit. Der Zeitanteil des Gebets am gesamten Leben und Erleben ist damit extrem gering. Es scheint, als sei das Gebet für das durchschnittliche menschliche Leben in der modernen Industriegesellschaft ziemlich unwichtig.
Allerdings wäre der Schluss von der Menge auf die Wichtigkeit ein Kurzschluss. Auch der Sexualität widmen die Deutschen im Laufe ihres Lebens nur 1,5 Monate und damit 1,5 Promille der gesamten Lebenszeit. Aber niemand käme auch nur entfernt auf den Gedanken, dass Sexualität für das menschliche Leben unwichtig sei. Im Gegenteil wissen wir, wie entscheidend ein sinnerfüllender Umgang mit der eigenen Sexualität für das Gelingen des Lebens ist. Die (Zeit-)Menge sagt also wenig bis gar nichts über die existenzielle Relevanz eines Vollzugs.
Eher schon könnte heute die Zahl einschlägiger Internetseiten ein grober Indikator für die Wichtigkeit eines Gegenstands sein. Was den Menschen wichtig ist, darüber werden sie sich in dem Medium austauschen, das zum ersten und wichtigsten Kommunikationsort geworden ist. Und in der Tat: Nimmt man eine Suchmaschine und gibt die Schlagworte der zitierten Lebenszeitbudgetanalyse von destatis ein, dann holt das Gebet gegenüber allen Vollzügen außer der Sexualität deutlich auf. Zwar bleibt es mit 6 Mio. Internetseiten weiterhin das Schlusslicht, doch der Abstand hat sich deutlich verringert. Offenbar geht es um einen für viele Menschen auch in der Moderne wichtigen Grundvollzug.
Selbst Menschen, die selber keine Gebetspraxis pflegen, gehen nicht selten der Frage nach, was denn Beten sei und was es womöglich »bringe«. Kommen sie in eine Klosterkirche, nehmen sie staunend und interessiert am Gebet der Mönche oder Nonnen teil und bewundern deren spirituelle Verwurzelung. Erleben sie das regelmäßige Tischgebet einer befreundeten Familie, drücken sie dafür ihren Respekt aus. Werden sie ZeugInnen einer muslimischen Gebetszeit, nötigt ihnen das nachdenkliche und ehrfürchtige Stille ab. Das Gebet beeindruckt und fasziniert also auch im aufgeklärten 21. Jh.
Dem trägt zwar eine unübersehbare Zahl praktischer Gebetsanleitungen und Gebetssammlungen Rechnung. Aber die Palette wissenschaftlich-theologischer Reflexionen bleibt sehr überschaubar und klein. Eine solche möchte dieses Büchlein im Sinne einer überblicks- haften Einführung liefern. Nach einer Eingrenzung der Fragestellung und einer Einordnung in das »Fach« Theologie der Spiritualität (Kap. 1) soll zunächst die anthropologische Bedeutung des Betens analysiert werden (Kap. 2), ehe sein dezidiert theologischer Gehalt (Kap. 3 und 4) und seine Bedeutung für das Verständnis der Kirche (Kap. 5) in den Blick kommen. Der Schatz jüdischen und christlichen Betens in der Bibel soll wenigstens kurz gestreift werden (Kap. 6), ehe die Aufmerksamkeit sich auf Ausdrucksformen (Kap. 7) und Gestalten (Kap. 8) des Betens richtet. Die seit Jahrhunderten am heißesten umstrittene Frage der Wirksamkeit des Bittgebets (Kap. 9) und die heute überaus dringliche Frage einer zeitgemäßen Gebetspädagogik (Kap. 10) schließen das Büchlein ab.
Als begrifflicher Leitfaden durch die gesamte Abhandlung dient der theologische Begriff des Geheimnisses. Spiritualität und Gebet können wir nicht rational-distanziert analysieren wie das Funktionieren eines Automotors oder das Gesetz der Schwerkraft. Vielmehr braucht es eine ganzheitliche, rationale und emotionale Annäherung an das Phänomen des Betens. Diese aber, so lautet eine uralte Erkenntnis der Theologie, ist nur möglich, wenn wir uns dem Geheimnis des menschlichen Lebens öffnen und dieses zulassen.
Was meint die Rede vom Geheimnis? Die Dogmatische Konstitution »Dei Filius« des I. Vatikanischen Konzils räumt im Jahr 1870 zwar ein, dass »eine gewisse Erkenntnis der Geheimnisse« des Lebens durch die Herstellung von Analogien zu innerweltlichen Vorgängen möglich sei. Doch nie sei das jene Art der Erkenntnis, wie sie üblicherweise der Vernunft zu eigen ist: Ein »Durchschauen der Wahrheiten« (perspicere veritatum) mag im Bereich der Naturwissenschaften möglich sein – im Bereich der Fragen nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen sei es unmöglich. »Denn die göttlichen Geheimnisse … bleiben mit dem Schleier des Glaubens selbst bedeckt und gleichsam von einem gewissen Dunkel umhüllt« (DH 3016).
Was das I. Vaticanum von Gott sagt, gilt selbstverständlich ebenso vom Menschen: Jeder Mensch ist und bleibt sich selbst und anderen ein Leben lang ein Geheimnis – sein Leben ist ihm permanent eine Frage, deren letzte Antwort er nicht ergründen kann (Karl Rahner 1967, 192). Der Grund der menschlichen Person ist ein unauslotbarer Abgrund. Damit steht der Mensch aber immer und unausweichlich vor der Frage, ob er sich dem Geheimnis seines Lebens anvertrauen kann oder ob er gegen es ankämpft wie gegen Windmühlenflügel; ob er sich fallen lassen kann und erfährt, dass das Geheimnis in der Lage ist, ihn zu tragen, oder ob er sich ängstlich verkrampft und sich dieser Erfahrung verschließt; ob er im Geheimnis daheim ist und Heimat findet oder ob es ihm fremd und bedrohlich bleibt.
Ein Geheimnis hat – solange es nicht zum angstbesetzten, zerstörerischen Tabu wird, sondern Freiheit, Ehrfurcht und Demut atmet – etwas Bergendes, Schützendes. Im Geheimnis kann ein Mensch daheim sein und Vertrauen in die Gutheit seines Lebens finden. Genau darum geht es wohl verstanden im christlichen Glauben. Der Glaube will beheimaten, bergen, wärmen und behüten. Doch tut er das recht verstanden nicht, indem er Gott und die Welt durchschaut und für alles eine glatte Antwort bietet. Vielmehr nähert er sich scheu und mit größter Vorsicht dem Geheimnis. Im Glauben wird das Geheimnis Gottes und des Lebens größer, nicht kleiner. Aber gerade dadurch immer wunderbarer.