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1.4 Die spezifische Rolle einer Reflexion des Gebets für die Theologie

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»Oratio est propriae religionis actus« – »Das Gebet ist der ureigenste Vollzug der Religion« (Thomas von Aquin, s.th. II–II, q 83 a 3). Mit diesem lakonischen Satz charakterisiert Thomas das Gebet als innersten Kern der Religiosität – wir würden heute sagen: der Spiritualität. Ohne Gebet wäre Religion nicht Religion und ein spirituelles Leben unmöglich. Die Reflexion dessen, was Gebet ist, kann also nicht beliebig zur Disposition gestellt werden. Ohne Theologie des Gebets wäre Theologie keine Theologie und eine Theologie der Spiritualität nicht möglich.

Insbesondere aber schlägt die Theologie des Gebets zu zwei theologischen Disziplinen eine besondere Brücke:

– Im Sinne des alten Satzes »Lex orandi est lex credendi« (»Das Gesetz des Gebets ist das Gesetz des Glaubens«) ist jedes Gebet »sprechender Glaube« (Gisbert Greshake 2005, 57) und ein Bekenntnis. Die Lehre der Kirche darf der Praxis ihres Betens nicht widersprechen, sondern muss sich vielmehr daran orientieren. Und wiederum möchte ich betonen: es geht hier nicht nur um das Gesetz liturgischen Betens! Nicht nur die Orationen der liturgischen Bücher sind normgebend für die kirchliche Dogmatik, sondern auch die persönlichen Gebete und Gebetsformen der Gläubigen – von den Gebeten großer Heiliger bis zu Ausdrucksformen des gläubigen Volkes in anderen Kulturen, von den Gebetsvertonungen der Gregorianik bis zu den Gebetstänzen in Afrika. Sie alle sind loci theologici, theologische Orte, auf die die kirchliche Lehre zurückgreifen muss. Dass umgekehrt dogmatische Festlegungen auch kritisierend und korrigierend auf die Gebetspraxis der Gläubigen einwirken müssen, versteht sich von selbst. Niemand glaubt allein, niemand betet allein. Beten ist immer Ausdruck gemeinschaftlicher Vollzüge und Bezüge.

– In einer Abwandlung möchte ich aber ebenso sagen: »Lex orandi est lex vivendi« (»Das Gesetz des Gebets ist das Gesetz guten Lebens«). Beten ist »praktischer Glaube« – es gibt menschlichem Handeln Orientierung und Korrektur, Motivation und Gelassenheit. Die christliche Gebetspraxis ist also nicht nur normgebend für die kirchliche Dogmatik, sondern auch für die kirchliche Morallehre. Wie sich Glaubende im alltäglichen Leben praktisch verhalten, wird durch ihr Beten maßgeblich mitbestimmt. – Wiederum gilt auch die Umkehrung: Moraltheologische Einsichten müssen kritisierend und korrigierend auf die Gebetspraxis der Gläubigen einwirken. Es gibt im christlichen Beten Auswüchse der Unbarmherzigkeit und Intoleranz, aber auch der Passivität und falsch verstandenen Gottvertrauens. Solche Auswüchse dürfen nicht unkommentiert hingenommen werden.

Wenn die Theologie des Gebets somit gerade zu Dogmatik und Moraltheologie eine Brücke schlägt, darf sie zu Recht als Herzstück der Theologie insgesamt bezeichnet werden. Im komplexen Gebäude theologischer Traktate und Themen kommt ihr durchaus eine besondere Rolle zu. Das Gebet ist der ureigenste Gegenstand der Theologie.

1 »Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.« Marx/Engels-Werke, Berlin 1946ff, Bd. 1, 378.

2 E θεοόγος ε, π ροσεύξ ληθς, κα ε ληθς π ροσεύξ, θεολόγος ε.

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