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Kapitel 9Am Äquator

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Es war früher Nachmittag und die Lüneburg fuhr unter Segelkraft. Am Vortag hatten die Passagiere beobachten können, wie eines der Segel von den Rahen gelöst und ein anderes aufgezogen wurde. Vollmer erklärte dazu, dass das alte Segel geflickt werden müsse. Die Frauen fanden Gelegenheit, dem Segelmacher und seinen Gehilfen bei ihrer Arbeit mit Handschuh, Nadel und Faden zuzusehen. Sie waren überrascht vom Geschick und der Schnelligkeit der Seeleute. Kapitän Hansen erlaubte einem seiner Maate, ihnen das Spleißen von Tauwerk vorzuführen und auch einige der Knoten, die in der Seefahrt erforderlich waren.

„Leinen und Taue an Bord werden geteert, damit sie Wetter und Wasser besser widerstehen“, erklärte der Mann. „Aber natürlich geht immer wieder etwas zu Bruch.“ Er lachte unbeschwert. „Ist bei Maschinen aber auch nicht anders. Külver, das ist unser Maschinist, jammert immer wieder über lockere Ventile, Kolben mit zu viel Spiel, und herausspringende Klauenkupplungen.“

Den ganzen Tag bemühte sich der zweite Offizier Vollmers um die beiden englischen Damen. Schließlich fiel Samantha auf, dass der Deutsche wohl die Absicht hatte, sie und Zenora von den Vorgängen an Bord abzulenken, denn plötzlich schien es ein Geheimnis auf der Lüneburg zu geben.

Es herrschte eine ungewohnt hektische Betriebsamkeit, ohne dass Samantha oder Zenora die Ursache herausfanden. Überall Getuschel, welches sofort verstummte, wenn eine der Frauen in die Nähe kam. Unter der Besatzung gab es Männer, in deren Gesichter Vorfreude abzulesen war, doch auch andere, die Ängstlichkeit verrieten. Es schien, als sei eine Verschwörung im Gange, in welche auch die Offiziere des deutschen Handelsschiffes eingebunden waren. Selbst Tyrone Kellford schien zu den Eingeweihten zu gehören. Samantha hatte ihn mit Kapitän Hansen flüstern sehen, doch der Major ließ sich nicht entlocken, über was man da gesprochen hatte.

Offensichtlich bereitete es der Besatzung Vergnügen, die beiden Frauen im Ungewissen zu lassen, was vor allem Zenora missfiel, die keine Überraschungen liebte.

„Die hecken etwas aus, Sam“, meinte die Farbige missmutig.

„Ja, aber es ist sicher nichts gefährliches“, versuchte die junge Lady ihre Freundin zu beruhigen.

„Alle wissen etwas, nur wir nicht“, knurrte Zenora. „Selbst Kellford´s Gurkhas scheinen etwas zu wissen. Die rennen schon den ganzen Tag mit einem derartig dämlichen Grinsen herum, dass einem Angst werden kann.“

„Ein paar der Seeleute sehen aber überhaupt nicht fröhlich aus“, meinte Samantha lachend. „Vor allem die beiden Schiffsjungen scheinen sich am Liebsten verkriechen zu wollen.“

Im Niedergang, jener Treppe, die unter Deck führte, waren Schritte und das leise Pochen von Kellford´s Gehstock zu hören. Das Gesicht des Majors zeigte ein Lächeln, als er zu Samantha und Zenora trat. „Gleich ist es so weit.“

„Ist was so weit?“, fragte Sam. „Erfahren wir nun endlich das große Geheimnis, dass man schon den ganzen Tag vor uns zu verbergen versucht?“

Kellford lachte vergnügt. „Ja, so kann man sagen. Wir bekommen Besuch und das brauchte seine Vorbereitungen.“

„Besuch?“

Der Major hob die Hand mit dem Stock und deutete zur Brücke. Dort trat Vollmer auf den Laufgang und schlug die Schiffsglocke an. Auch wenn man längst über ausgezeichnete Chronometer verfügte, hatte man sich in der Seefahrt die Tradition bewahrt, zu „glasen“, indem man die Glocke schlug. Der Brauch stammte aus jenen Zeiten, in denen die Stunden noch mit Sanduhren, den „Glasen“ bestimmt wurden. Das der deutsche Offizier die Glocke jetzt erklingen ließ, war jedoch ungewöhnlich.

Die Mannschaft schien jedoch auf dieses Zeichen gewartet zu haben. Sie strömte an Deck und mancher Mann machte ein ausgesprochen vergnügtes Gesicht, während die Schiffsjungen und drei andere Matrosen von ihnen zum Vordeck geschoben wurden. Deren Mienen zeigten Unbehagen, ja sogar Furcht.

„Das wird doch jetzt keine Bestrafung, oder?“ Zenora sah dem Treiben mit wachsendem Unbehagen zu. „Ich meine, so eine Auspeitschung oder so?“

„Ach, Unsinn.“ Kellford klemmte den Stock in die Achselhöhle und rieb sich in Vorfreude die Hände. „Wir überqueren jetzt gerade den Äquator, der die nördliche von der südlichen Erdhalbkugel trennt, und es ist Brauch, dabei jene zu „taufen“, welche diese Linie zum ersten Mal überschreiten. Keine Sorge, Ladies, diesmal wird es recht sanft zugehen, da man Rücksicht auf die weiblichen Passagiere nehmen will.“

Am vorderen Niedergang war Gerumpel und Stampfen zu hören.

Als Erstes wurde die Spitze eines mächtigen Dreizacks sichtbar, dann folgte ein Kopf mit einer riesigen Krone, unter dem lange krause Locken von grauer Farbe hervorquollen. Der Mann trug ein sackartiges Gewand, an dem Seetang und Muscheln klebten. Ihm folgte sofort ein Zweiter, dessen hemdartiger Überwurf über und über mit Sternen versehen war. Ein Dritter trug ein riesiges Buch, der Vierte ein furchteinflößendes riesiges Rasiermesser. Am Schluss folgte ein Mann, in dessen Händen eine gewaltige Spritze lag.

Sam und Zenora starrten noch verwundert auf die seltsame Gruppe, als sechs schmächtige Männer wieselflink aus dem Niedergang strömten, die Lendenschurze aus Seetang trugen, mit grimmigen Gesichtern um sich blickten und dabei Klingen schwangen, in denen Samantha nun die Kukris erkannte. Fraglos handelte es sich hier um die Gurkhas des Majors.

„Wer wagt sich da in das Reich von Neptun, dem König der Meere?“, fragte der riesige Bursche mit dem Dreizack.

Die Stimme klang verdächtig nach jenem Maat, der die Frauen am Vormittag in die Geheimnisse von Leinen und Tauen eingewiesen hatte. Nun erkannte Samantha auch, dass der Dreizack aus Pappe bestand, die man goldfarben bemalt und auf einen Besenstiel genagelt hatte. Auch die Krone war nicht echt, ebensowenig wie der mächtige Haarschopf, der, bei allen Mitgliedern der Gruppe, aus den Unterteilen jener Schwabber bestand, mit denen gewöhnlich das Deck geschrubbt wurde.

Kapitän Hansen trat vor, grüßte den „König der Meere“ ehrerbietig und berichtete, dass die Lüneburg auf Fernreise nach China sei.

Der Mann mit dem Fernrohr nickte bedächtig. „Als Hofastronom des Neptun kann ich nach langen und sorgfältigen Berechnungen feststellen, dass dieses Schiff nun jene Grenze des Wasserreiches überfährt, welche die Nordhalbkugel von der Südhalbkugel trennt.“

Neptun hörte das mit unbewegtem Gesicht und gab dem Mann mit dem riesigen Buch einen Wink. Der schlug es auf. „Als Schreiber Neptuns führe ich das große Buch, in dem alle Namen jener stehen, die von der nördlichen Halbkugel herunter kommen und noch nicht gereinigt und getauft wurden. Ich sehe hier ein paar Namen von Seeleuten, die dringend der Taufe bedürfen.“

„Man führe mir die Täuflinge vor“, befahl Neptun und stieß seinen Dreizack so heftig auf den Boden, das Samantha schon befürchtete, die Pappe könne sich lösen.

Prompt rannten die Meerespolizisten Neptuns mit erhobenen Kukris auf die versammelte Mannschaft zu. Die ausgewählten Täuflinge versuchten, sich zwischen den anderen Matrosen zu verbergen, wurden jedoch von ihren johlenden Kameraden gepackt und den grimmig dreinblickenden Polizisten ausgehändigt.

„Ah, welch übler Gestank“, meldete sich der Mann mit der Spritze zu Wort. „Als Arzt Neptuns ist es nun meine Pflicht, sicherzustellen, dass keine Krankheiten des Nordens in den reinlichen Süden verschleppt werden.“ Langsam und mit gestelzt wirkenden Schritten umrundete er jeden einzelnen der Gruppe, murmelte unverständliche Worte und sein Gesicht wurde immer Sorgenvoller. „Grauenhaft, wirklich grauenhaft. Ein jeder dieser Täuflinge ist mit den Krankheiten des Nordens behaftet und bedarf der Behandlung.“

„Ein jeder von ihnen?“, fragte Neptun mit ernster Stimme.

„Ja, Majestät, so bedauerlich das auch ist, aber es war nicht anders zu erwarten“, bestätigte der Arzt.

„Bei einem solchen Massenanfall von Krankheiten werden wir Hilfe bei der Reinigung brauchen“, sinnierte der König der Meere. „Ich hoffe doch, die bereits getauften Männer der Lüneburg werden dabei behilflich sein.“

Erneutes Gejohle bei der Besatzung.

Samantha und Zenora sahen der nun folgenden Zeremonie mit Neugierde und einem gewissen Schaudern zu, denn die Taufe war durchaus kein sanfter Akt. Ein großer Waschzuber wurde gebracht und die Täuflinge mussten sich bis auf die Unterwäsche entkleiden. Schwungvoll half man ihnen dann in den Zuber, der mit einer undefinierbaren Mischung gefüllt war. Dann wurden die Ärmsten mit Besen abgeschrubbt, so dass man meinen konnte, von Wäsche und Haut bliebe nicht viel übrig.

„Normalerweise werden die Täuflinge entkleidet und mit Pech und anderem Zeug beschmiert, dass man ihnen dann wieder vom Leib schrubbt“, erklärte Kellford. „Rau, aber herzlich gemeint. Halt ein Seemannsvergnügen.“

„An dem gelegentlich auch die Passagiere teilnehmen.“ Vollmer war unbemerkt herangekommen. „Wobei man sich bei den Damen gewöhnlich mit einem Eimer Seewasser als Taufmittel begnügt.“

„Sehr rücksichtsvoll“, knurrte Zenora. „Und warum werden die Jungs von Major Kellford nicht getauft?“

Der Deutsche räusperte sich. „Haben Sie sich die Messer von den Burschen einmal angesehen? Der Major versicherte uns zwar, dass seine Leute jeden Spaß mitmachen, aber man weiß ja nie…“

Während die übrige Mannschaft sichtlich ihren Spaß hatte, waren von den Täuflingen immer wieder Schmerzenslaute zu hören. Samantha dachte voller Mitgefühl an jene Seeleute, deren bloße Haut mit den groben Besen geschrubbt wurde. Dieser Brauch kam ihr doch etwas grob und barbarisch vor.

„Nun, den Täuflingen macht das oft keinen rechten Spaß“, räumte Vollmer auf ihre Frage hin ein, „aber wer selber einmal zum Opfer Neptuns geworden ist, der will sich den Spaß bei anderen nicht entgehen lassen. Keine Sorge, wir achten schon darauf, dass die Männer keinen wirklichen Schaden erleiden. Außerdem bekommen die armen Kerle ja bald ihre Medizin.“

Tatsächlich zog man die nunmehr Getauften aus dem Zuber, setzte sie auf die Decksplanken und rief sodann den Arzt herbei, der sich vergewissern musste, dass kein nördlicher Krankheitserreger übrig geblieben sei.

„Die Säuberung hat geholfen“, stellte der Mann mit der Spritze fest. „Doch um sicher zu sein, muss ich noch eine Medizin verabreichen.“

Diese Aussicht schien den mitgenommenen Täuflingen wiederum zu gefallen, auch wenn das Verabreichen der Medizin zunächst damit verbunden war, ihnen große Trichter in den Mund zu schieben. Dann setzte der Arzt des Neptun seine Spritze an.

„Erstklassiger Rum vom Allerfeinsten“, erläuterte Vollmer. „Das nimmt ihnen die Schmerzen. Den Rest des Tages sollen sie dann ruhig ihren Rausch ausschlafen.“

Neptun wandte sich nun wieder Kapitän Hansen zu und versicherte diesem, alle an Bord seien nun vorbereitet und das Schiff könne den Äquator guten Gewissens überqueren. Dann verschwand der Herrscher der Meere mit seinem Gefolge wieder im Niedergang.

Ob die Täuflinge eher von der groben Behandlung oder dem reichlichen Rum benommen war, ließ sich nicht mit Sicherheit sagen, als sie wenig später unter Deck verschwanden. An diesem Abend gestattete Kapitän Hansen der Besatzung ein kleines Bordfest und die Sonne versank zum Klang von Shanties und Gigues im Meer.

Das Kanonenboot

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