Читать книгу Das Kanonenboot - Michael Schenk - Страница 7
Kapitel 5Wyatt Duncan
ОглавлениеDas Jahr 1870 zeigte, dass sich Hongkong immer mehr zu einem Juwel in der Krone des britischen Empire entwickelte. Hongkong war 1841 während des ersten Opiumkrieges durch England besetzt worden. Für die Engländer war der freie Handel mit Opium von großer wirtschaftlicher Bedeutung, während das chinesische Kaiserreich ihn zunehmend als Bedrohung sah, da immer mehr Chinesen der Sucht des Rauschmittels verfielen. Das Verbot des Handels hatte England mit brutaler Gewalt beantwortet und seine Interessen rücksichtslos durchgesetzt. Zwei Jahre später war Hongkong, durch den Vertrag von Nanking, zur britischen Kronkolonie geworden. Seitdem machten Stadt und Hafen einen rasanten Aufstieg als Freihandelszone und wichtigster Militärhafen der Royal Navy.
Die Bucht von Hongkong besaß ungefähr die Form eines weit offenen Hufeisens und war von Bergen umgeben. Die Stadt hatte inzwischen fast 120.000 Einwohner, die meisten davon Chinesen, und präsentierte sich nicht nur als Handelszentrum, sondern auch als Beispiel englischer Lebensweise und Kultur.
Entlang des Hafens standen die Häuser der Kolonialherren. Sie alle glichen viereckigen Klötzen mit geweißten Fassaden. Sie alle besaßen drei Stockwerke und vor den Fenstern Säulengänge mit Rundbögen. An vielen Bauten waren Stoffmarkisen befestigt, die Schutz vor der Sonne boten.
Der östliche Teil der Stadt war den Engländern vorbehalten. Hier gab es Pferderennbahnen, Paradeplätze, die große Garnison in den Victoria Barracks, Kricket- und Polofelder. Es gab Hotels, das Postamt, Geschäfte, den Komplex der Stadthalle sowie Museen und Büchereien. Sie alle repräsentierten jene Bequemlichkeit, die dem europäischen Geschmack entsprach.
Chinesische, europäische und amerikanische Schiffe ankerten im Hafen oder der vorgelagerten Reede. Unmengen kleiner Wasserfahrzeuge brachten Waren von den Schiffen an Land oder beluden diese. Vorräte wurden aufgefrischt, und Schiffe überholt und auf die weitere Reise vorbereitet. Unübersehbar war die Gegenwart der Royal Navy, die mit fast einem Dutzend Schiffen ihren Anspruch manifestierte. Meist waren es kleinere Kriegsschiffe und Dampffregatten, aber es lagen auch zwei der großen hölzernen Segelschiffe hier, die mit ihren vierundsiebzig Kanonen als Linienschiff dienten und schon zu Admiral Nelson´s Zeiten die Macht Britanniens zur See demonstriert hatten.
Im westlichen Teil der Stadt dominierten hingegen die chinesischen Bewohner, mit ihren typischen Geschäften, Märkten und Teehäusern. Hier wurde den Europäern auch manches Vergnügen geboten, über welches das Auge des britischen Gesetzes großzügig hinweg sah.
Die Vorteile lagen nicht ausschließlich in der Hand der Europäer. Kulis, Schiffer und Fischer sowie die chinesischen Händler profitierten ebenfalls von der englischen Freihandelszone. Viele erlangten einen Wohlstand, der mit dem im Kaiserreich nicht zu vergleichen war.
Hongkong war auf dem besten Weg, den großen chinesischen und asiatischen Häfen den Rang abzulaufen. Es war ein Schmelztiegel der unterschiedlichsten Menschen und Nationen, die hier ihren Interessen nachgingen. Viele europäische Geschäftsleute arbeiteten in der Kronkolonie. Mancher von ihnen wurde mächtig und vermögend. Man nannte diese Männer „Tai-pan“ und die meisten ihrer offiziellen Geschäfte wurden in der Queen´s Road oder deren näherer Umgebung getätigt.
Es gab allerdings auch den „kleinen“ Handel, der im Verborgenen blühte. Er war gelegentlich riskant, versprach aber durchaus beachtliche Gewinne. Da sich die britische Polizei für manchen dieser Handelspartner brennend interessiert hätte, fanden die Gespräche zu derlei Geschäften weit abseits der großen Handelshäuser statt. Sehr beliebt waren Orte, an denen man Geschäft und Vergnügen miteinander verbinden konnte.
Wyatt Duncan war Amerikaner aus dem Süden der U.S.A. und betrachtete die steifen Umgangsformen der britischen Gesellschaft mit einer gewissen Amüsiertheit. Wyatt hatte im nordamerikanischen Bürgerkrieg für die Befreiung der Sklaven gekämpft und war, trotz seiner Jugend von zweiundzwanzig Jahren, ein abgehärteter Kämpfer. Wie so viele andere Soldaten des Nordens oder Südens, hatte er am Ende des fünfjährigen Krieges nicht mehr in ein normales Leben zurückgefunden. Er war zu einem Entwurzelten geworden, der sich mit Glücksspiel durch das Leben schlug und den die Abenteuerlust schließlich nach Hongkong verschlug.
Wyatt war ein hochgewachsener Mann mit langen blonden Locken, die ihm weit über den Nacken fielen. Er hatte sich einen Spitzbart wachsen lassen, der ihn ein wenig älter erscheinen ließ, denn Chinesen schätzen erfahrene Geschäftspartner. Auf seiner rechten Wange hob sich eine Narbe ab. Sie war nicht sehr auffällig und warnten seine Gegenüber, dass der Amerikaner nicht unerfahren war, wenn es darum ging, sein Leben zu verteidigen. Wyatt mochte kein sehr hübsches Gesicht habe, aber die Damen fanden es durchaus anziehend.
Wyatt Duncan hob sich schon in seiner Kleidung von den anderen Europäern ab. Zu seiner robusten Jeans und hohen Schaftstiefeln trug er eine lange Lederjacke, an deren Ärmel und Rückennaht Lederfransen herabhingen. Sie dienten keineswegs nur der Zierde, sondern schützten den Träger bei Regen, da das Wasser in den dünnen Riemchen gesammelt wurde und abtropfte.
Auf dem Kopf trug er den schwarzen Feldhut mit der gelben Quastenschnur der U.S.-Kavallerie, in der er gedient hatte. Ein siebenschüssiger Winchester Sattelkarabiner und ein großkalibriger Army-Colt, in einem geschlossenen Gürtelholster, bildeten seine sichtbare Bewaffnung. Ein furchteinflößendes Bowie-Messer war im Schaft des linken Stiefels verborgen, eine zweiläufige Derringer-Pistole in dem des rechten.
Wyatt Duncan war keineswegs ein Freund von Gewalt, doch das Leben hatte ihn gelehrt, auf solche vorbereitet zu sein. An diesem Tag hatte er das unangenehme Gefühl, bald auf seine Erfahrungen zurückgreifen zu müssen und er war erleichtert, dass sein Freund Pierre ihn begleitete.
Pierre Grenaux schien in vielen Dingen das Gegenteil seines Freundes zu sein. Der Franzose war klein, dunkelhaarig und nach der neuesten Mode gekleidet. Er trug einen seidenen Binder zu seinem Anzug und pflegte eher gezierte Umgangsformen. Er war kein ausgesprochener Kämpfer, verfügte aber über ein beachtliches Wissen, was den asiatischen Raum betraf, da er hier geboren war. Pierre sprach fließend Mandarin und Kantonesisch und war daher ein unverzichtbarer Partner für Wyatt.
Im von Europäern und Engländern bewohnten Stadtteil waren die Straßen oft von Bäumen gesäumt und die Geschäfte befanden sich in den Fassaden der Häuser. Hier gab es viele Chinesen, die jedoch zum größten Teil einfachen Verrichtungen nachgingen oder Fahrgäste mit ihren Rikschas kutschierten. Wohlhabende Chinesen trugen lange seidene Gewänder mit reichen Stickereien, dazu ihre typische Kopfbedeckung, die vorgeschriebene Halbglatze und den traditionellen langen Zopf. Nur wenige von ihnen bevorzugten westliche Kleidung. Das einfache Volk beschränkte sich auf weite Hosen und ein schlichtes Übergewand, häufig in Form einer Bluse.
Der Wechsel zum chinesischen Stadtteil war abrupt. Hier wimmelte es von einfachen Stadtbewohnern und kleinen oder großen Marktständen, an denen die verschiedensten Waren angeboten wurden. Meeresfrüchte, Getreide, Obst, große und kleine Tiere, auch jene, die von den Chinesen als Delikatesse betrachtet wurden. Gewürze, Stoffe, Haushaltswaren, Kleidung und vieles mehr wurde präsentiert. Wort- und Gestenreich wurde um den Preis verhandelt. Die Luft war erfüllt von den verschiedensten angenehmen und unangenehmen Gerüchen. Stimmen schwirrten durcheinander. Man hörte die verschiedenen Dialekte aus dem Kaiserreich. Selbst unter den Chinesen war die sprachliche Verständigung nicht immer einfach. Wo die Worte fehlten, wurden sie durch hektische Gesten ersetzt. Mancher Händler ließ sich nach den Regeln des Feng Shui beraten, um in Erfahrung zu bringen, wo er sein Geschäft oder seinen Stand am Gewinnbringendsten errichten sollte.
Hier waren weit weniger Europäer zu sehen. Das seltsame Gespann aus Wyatt Duncan und Pierre Grenaux erregte Aufmerksamkeit, während sich die beiden hochgewachsenen Männer ihren Weg bahnten. Kinder eilten heran und bettelten um Münzen oder Süßigkeiten.
Allgegenwärtig schien das Lächeln zu sein. Chinesen waren sehr traditionsbewusste und höfliche Menschen. Es war ihnen anerzogen, die Gefühle hinter einem oft maskenhaften Lächeln zu verbergen. Für die Europäer, welche dies nicht gewöhnt waren, war es daher manchmal schwierig, die wahre Stimmung ihres Gegenübers zu erkennen. Dies gab den Chinesen bei manchen Geschäftsverhandlungen einen gewissen Vorteil. Ihr Lächeln entsprach dem, was die Europäer ein Pokerface nannten.
Hier lag ein gewisses Problem für Wyatt und Pierre, denn die beiden Freunde planten ihren derzeitigen Geldmangel durch etwas Glücksspiel zu beheben. Aus diesem Grund waren sie an diesem Tag auf dem Weg zum „goldenen Drachenhort“.
Chinesen besaßen eine Vorliebe für alles, was mit Drachen zu tun hatte und zeigte dies gerne in Form von Schnitzereien, Stickereien, Gemälden oder Namengebungen.
Der Drachenhort der hübschen Sun-Ling wäre schwerlich in der Lage gewesen, einen wahrhaftigen Drachen in sich aufzunehmen, es sei denn, sehr kurz nach dem schlüpfen aus dem Ei. Das Gebäude war eher klein und unscheinbar. Es war ein Eckhaus, dessen oberes Stockwerk über den Eingangsbereich hinaus ragte und von schlanken Säulen gestützt wurde. Fensteröffnungen und Dach zeigten die bei Chinesen beliebte geschwungene Form und wurden von farbenprächtigen Schnitzereien betont. In Ermangelung goldener Farbe war die Fassade in einem grellen Gelb gestrichen, von dem sich das mit grellroten Ziegeln gedeckte Dach stark abhob.
Die „goldene Drachenhöhle“ war eine Mischung aus Spielhalle und Opiumhöhle, in der man Geld machen oder verlieren konnte, ebenso wie sein Leben. Obwohl der schlechte Ruf des Hauses bekannt war, zeigte die Polizei nur wenig Interesse an den Vorgängen. Dies war verständlich, denn es galt, auch die Reputation jener englischen Gentlemen zu wahren, die hier gelegentlich inoffiziell einkehrten.
„Unsere finanzielle Situation ist ein wenig bescheiden“, hatte Pierre trübsinnig festgestellt. „Das Leben in Hongkong ist nicht billig, wenn man einen gewissen Mindeststandard halten will.“
„Ja, und wenn man eine der englischen Ladies ausführen möchte“, hielt Wyatt dagegen. „Verdammt, Pierre, du solltest weniger flirten.“
„Als Franzose muss man einen gewissen Ruf rechtfertigen.“ Pierre Grenaux lachte unbeschwert. „Wir Franzosen sind als charmante Frauenhelden bekannt, ebenso wie ihr Amerikaner als primitive Rüpel.“
„Dafür reden wir Amerikaner nicht wie ihr um den heißen Brei herum, sondern packen die Dinge an.“
„Nun, das wirst du ja gleich unter Beweis stellen können.“
Wyatt betrachtete die vor dem Eingang herumlungernden Männer. Zwei von ihnen hielten primitive Holzknüppel, aber der Amerikaner war sicher, dass jeder der Männer ein Messer verborgen hielt. Eine dieser langen bösartigen Klingen, mit denen Chinesen sehr gut umgehen konnten. Zwar war es ihnen verboten Waffen zu tragen, aber hier, in der chinesischen Stadt, machten sich zunehmend die Triaden breit. Diese Verbrecherorganisationen übernahmen immer mehr die Kontrolle der Spielhöllen und Opiumhöhlen.
„Wir machen es wie üblich“, murmelte Wyatt. „Wir tun so, als würden wir kein Wort von ihrer Sprache verstehen. Das macht die Burschen selbstsicher. Sie werden untereinander reden, wie sie mich am Besten über den Tisch ziehen können. Du bleibst dicht hinter mir, gibst mir notfalls ein Zeichen und deckst mir den Rücken.“
„Ja, und wie üblich wird niemand meinen Rücken decken“, brummte Pierre. „Mein Rücken ist aber sehr empfindlich.“
Die Chinesen am Eingang deuteten eine Verbeugung vor den beiden Männern an und ließen sie passieren. Sie betraten eine Empore, die als Vorraum diente. Drei Stufen führten in den großen Raum hinunter, in dem es von Besuchern und Tischen wimmelte. Der Raum war von einer breiten Gallerie umgeben, die von zierlichen Säulen gestützt war und auf der weitere Tische standen. Während man oben verschiedene Speisen zu sich nehmen konnte, war der untere Hauptraum dem Spiel vorbehalten. Türen führten in die angrenzenden Räume, zu denen verschwiegene Kammern gehörten, in denen man Opium rauchte und sich anderen Vergnügungen hingab.
Die wenigen Frauen, die hier zu sehen waren, trugen allesamt hochgeschlossene und lange Gewänder, wie sie der aktuellen Mode der Qing-Dynastie entsprachen. Ob eine von ihnen zu den Liebesdienerinnen gehörte, war nicht zu erkennen. Intimitäten spielten sich allenfalls in den hinteren Räumen ab.
Auf der Empore saßen drei Musiker, die traditionelle chinesische Musik spielten. Es gab Stücke, die für westliche Ohren nahezu schmerzhaft und disharmonisch klangen, doch die hier präsentierten Melodien klangen angenehm, ja, fast sinnlich.
Eine schlanke Chinesin mittleren Alters trat Wyatt und Pierre entgegen und verneigte sich lächelnd. Sie trug ein schimmerndes goldenes Kleid, hochgeschlossen und mit einem großen rot gestickten Drachen auf der Brust. Ihre schwarz glänzenden Haare waren mit einem Jadekamm hochgesteckt, lange Perlengehänge zierten die Ohrläppchen. Sun-Ling war die offizielle Besitzerin des Etablissements und die Höflichkeit gebot ihr, die Gäste persönlich zu begrüßen, vor allem, wenn diese keine Chinesen waren.
„Ich will ein wenig Karten spielen“, erklärte Wyatt, „und vielleicht später ein Pfeifchen rauchen.“ Er lächelte gewinnend. „Vielleicht können Sie mir jemanden nennen, der unsere Sprache spricht und als Spielpartner geeignet ist?“
Sun-Ling lächelte erneut und nickte. Ein kurzer Blick in die Gesichter der neuen Gäste hatte ihr bereits verraten, dass diese wohl keine Opiumsüchtigen waren oder das Rauschmittel zumindest nur sehr selten genossen. Dabei war es bei den Geisterhäutigen durchaus beliebt. In England, Frankreich und den U.S.A. gab es eine Vielzahl von offiziellen Opiumhöhlen.
„Die verehrten Gäste haben Glück“, antwortete sie in einwandfreiem Englisch. „Der ehrenwerte Händler Yang-Tian beehrt mich mit seinem Besuch. Er spricht die englische Zunge und ist einem Spiel nie abgeneigt.“ Sie wandte sich zur Seite und deutete zur gegenüberliegenden Seite des Raumes. „Der Mann im blauen Gewand mit der Goldstickerei.“ Erneut verneigte sie sich vor Wyatt. „Möge mein verehrter Gast dies nicht für unhöflich halten, doch im „goldenen Drachenhorst“ werden keine Waffen benötigt.“
Schweigend schnallte Wyatt seinen Waffengurt ab und übergab ihn an einen bereitstehenden Bediensteten. Sicherlich ging Sun-Ling davon aus, dass die neuen Gäste auch verborgene Waffen trugen, doch sie fragte nicht nach und begnügte sich mit dem Revolver. Wyatt hatte keine Zweifel, dass auch andere Gäste über entsprechende Mittel zur Verteidigung verfügten.
Die Besitzerin schritt den beiden voraus, in Richtung auf den Tisch, an dem der Händler saß. Auch hier verneigte sie sich und wechselte ein paar Sätze auf Mandarin mit ihm. Yang-Tian musterte Wyatt und Pierre und machte dann eine einladende Geste.
„Mögen die ehrenwerten Englischmänner sich setzen“, sagte Sun-Ling. „Ich werde einen Bediensteten schicken, der nach ihren Wünschen fragt.“
An den meisten Tischen wurde mit Leidenschaft Mah-Jongg gespielt oder gewürfelt. Kartenspiele waren hier offensichtlich nicht so beliebt und Yang-Tian schien froh zu sein, endlich einen geeigneten Spielpartner gefunden zu haben.
Das fast weiße Haar des Chinesen bewies sein hohes Alter. Er trug einen Oberlippenbart, dessen Enden weit nach unten hingen und in die kleine Perlen eingeflochten waren. Das war ein eher ungewöhnlicher Schmuck, der wohl auf den Wohlstand des Besitzers hindeuten sollte. Ein Anzeichen von Eitelkeit, denn die meisten erfolgreichen Händler traten bescheiden auf. Yang-Tian war schlank und seine Gesichtszüge zeigten keine Anzeichen, dass er Alkohol oder Opium zugeneigt war.
„Die verehrten Englischmänner interessieren sich für Sap Sam Cheung?“, erkundigte sich der Händler und deutete auf ein Kartenspiel, das auf dem Tisch lag.
Wyatt kannte dieses Spiel, das eine Art von Poker war, bei dem jeder Spieler dreizehn Karten eines 52-Karten-Decks erhielt. Obwohl man es eigentlich mit vier Personen spielte, war dies auch zu zweit möglich. „Yeah, ich habe es einmal gesehen und finde es sehr interessant.“
„Ein Neuling?“ Der Chinese runzelte die Stirn.
Wyatt zuckte mit den Schultern. „Ich spiele Poker, ehrenwerter Yang-Tian.“
„Hm.“ Der Händler lächelte. „Und um welchen Einsatz?“
Wyatt zog ein Bündel Geldscheine aus seiner Jacke und legte es auf den Tisch. Sein Freund Pierre hielt den Atem an, denn es war ihre letzte Geldreserve.
Der Chinese beugte sich vor und nahm einen der Scheine in die Hand. „Dollars? Keine Pfund?“
„Ich bin Amerikaner und es ist gutes Geld“, antwortete Wyatt.
„Amerikanischmann? Ah.“ Yang-Tian betrachtete sein Gegenüber mit Interesse. „Nicht viele Amerikanischmann in Hongkong.“
„Das wird das Spiel für Sie sicherlich interessant machen“, meinte Wyatt.
Der Händler nickte. Er sah nun Pierre an, der die unausgesprochene Frage mit einem Kopfschütteln beantwortete. „Ich verstehe nichts von Karten“, log der Franzuose ungerührt. „Ich sehe lieber zu, wie mein Freund sein Geld verliert.“
Yang-Tian lachte vergnügt und klatschte in die Hände. „Sehr vergnüglich. Gut, beginnen wir.“
Der Chinese gab ein Zeichen und an einem der Nachbartische erhob sich ein stämmiger Mann, trat heran und öffnete eine Tasche, die er bei sich trug. Scheinbar kannte der Händler den Wert der amerikanischen Dollars, denn er raunte seinem Begleiter ein paar Worte zu und jener stellte Taels vor seinen Herrn. Die kleinen silbernen „Schiffchen“ entsprachen recht genau dem Gegenwert der Geldscheine, die vor Wyatt lagen.
Eigentlich hätte Pierre lieber hinter seinem Freund gestanden, um einen besseren Überblick zu behalten und schneller reagieren zu können, aber es gab genug freie Polsterstühle und da es andernfalls unhöflich gewesen wäre, nahm er Platz.
Als andere Besucher des „goldenen Drachenhorstes“ bemerkten, dass sich hier eines der seltenen Kartenspiele anbahnte, wurde der Tisch rasch von einer Gruppe neugieriger Männer umlagert, die zusahen, wie die Karten gemischt und verteilt wurden.
Jeder der Zuschauer registrierte sehr schnell, dass hier zwei erfahrene Spieler aufeinander getroffen waren.
Wyatt Duncan kannte ein paar unfeine Tricks, mit denen er seine Chancen vielleicht hätte verbessern können, doch in diesem Fall hütete er sich, sie zu versuchen. Sein Gegenüber war viel zu gut, um einen solchen Versuch nicht zu bemerken, und der Amerikaner ahnte, dass es ihm und Pierre dann schwer gefallen wäre, das Etablissement unbeschadet zu verlassen. Zudem musste er zugeben, dass auch Yang-Tian, wenigstens soweit Wyatt dies feststellen konnte, absolut ehrlich spielte.
Das erste Spiel diente dem Abtasten der Gegner. Wyatt begriff sofort, dass es schwierig sein würde, die Dollars auf dem Tisch zu vermehren. Das „13-Karten-Spiel“ war offensichtlich eine wirkliche Leidenschaft des Chinesen. Glücklicherweise zeigte dieser seine Fähigkeiten sofort. Ein Profi hätte den Amerikaner zunächst durch schwaches Spiel in Sicherheit gewiegt. Ihn ein paar Mal kleine Beträge gewinnen lassen, um ihm dann alles abzunehmen.
Yang-Tian verzichtete darauf. Mit sicherem Blick schätzte er ein, dass die beiden Fremden über keine großen Reserven verfügten. Möglicherweise wäre es ihm gelungen, ihnen das Geld in wenigen Runden abzunehmen, doch das hätte ihn um das seltene Vergnügen des Spiels gebracht.
So wechselte der Erfolg immer wieder die Seiten des Tisches. Dennoch wurde deutlich, dass die Anzahl der Dollarscheine vor Wyatt allmählich abnahm. Pierre Grenaux sah dies mit zunehmender Sorge. Sie waren auf der Verliererstraße. Der Franzose überlegte, wie er und Wyatt das Spiel abbrechen könnten, ohne vor den Chinesen das Gesicht zu verlieren. Er erinnerte sich einer Taktik, die schon bei anderer Gelegenheit zum Erfolg geführt hatte und begann damit, gelegentlich dezent zu hüsteln.
Als ein neuer Zuschauer an den Tisch trat, bemerkte Wyatt, wie der Mann Yang-Tian ein Zeichen gab. Der nickte unmerklich, spielte die Runde jedoch in Ruhe zu Ende. Ein paar Dollars gelangten wieder in Wyatt´s Besitz. Während der Amerikaner die Karten neu mischte, beugte sich der Neuankömmling nun zu Yang-Tian und sprach rasch auf ihn ein.
Wyatt achtete nicht sonderlich darauf, da er ohnehin keinen der zahlreichen chinesischen Dialekte verstand. Er glaubte die Worte „Loo fennschu“ zu verstehen, während er erneut austeilte. Yang-Tian gab eine kurze Erwiderung und machte dem Neuankömmling mit einer herrischen Geste deutlich, sich wieder zurückzuziehen.
Pierre hüstelte erneut und diesmal zog er ein Leinentuch aus seiner Jacke und rang sichtlich nach Atem. Dabei legte er eine Hand an Wyatt´s Oberarm und krallte sich förmlich an seinem Freund fest.
Yang-Tian musterte den Franzosen, schwieg aber aus Höflichkeit.
Wyatt hingegen erkannte, dass sein Freund einen guten Grund haben musste, hier den Kranken zu spielen. Sie hatten den Trick schon einige Male angewandt, wenn es galt, rasch und unbeschadet zu verschwinden. Pierre musste eine potenzielle Bedrohung erkannt haben.
„Die alte Krankheit, mein Freund?“, fragte er mitfühlend.
Pierre nickte und machte einen erschöpften Eindruck. „Nur schlimmer als je zuvor.“
„Was für eine Krankheit?“, erkundigte sich Yang-Tian. „Ich hoffe, es ist nichts Ernstes. Manche ehrenwerte Fremde vertragen das hiesige Klima nur sehr schlecht.“
„Eigentlich sollte er in diesem Zustand nicht unter Menschen sein.“ Wyatt seufzte vernehmlich. „Die Ärzte versicherten uns, der Husten sei vorüber und die Ansteckungsgefahr damit vorbei.“ Er zog sein eigenes Tuch hervor und hielt es demonstrativ vor Mund und Nase. „Aber das Fieber ist wohl doch sehr tückisch.“ Der Amerikaner zuckte mit den Schultern. „Nun ja, ein paar Leute sind ja auch daran gestorben.“
Die meisten Chinesen hatten zwar das Husten wahrgenommen, ihm aber keine größere Bedeutung beigemessen. Auch die Erklärung des Amerikaners beunruhigte kaum jemanden, da man sie nicht verstand, bis einer der Männer sie hastig übersetzte. Plötzlich gab es wieder Platz rund um den Tisch, denn viele der Zuschauer wichen unvermittelt zurück.
Yang-Tian´s Gesicht zeigte wieder ein Lächeln, doch nun wirkte es Maskenhaft. „Der ehrenwerte Freund sollte sicher schnell wieder in die Hände der Ärzte gelangen.“
Pierre hustete erneut und diesmal konnte er nicht verhindern, dass ein paar feuchte Flecken auf der Lederjacke von Wyatt entstanden. „Arzt… wäre gut“, ächzte er zwischen zwei weiteren Hustenanfällen.
„Ich bedauere sehr“, brummte Wyatt und bemühte sich um ein enttäuschtes Gesicht, „aber unter diesen Umständen…“
„Nun, vielleicht können wir unser Spiel bei einer anderen Gelegenheit einmal fortsetzen, ehrenwerter Amerikanischmann.“ Der Kaufmann deutete eine höfliche Verbeugung an.
Nur Minuten später verließen die beiden Freunde den „goldenen Drachenhort“. Die Chinesen wichen zur Seite, während Wyatt seinen Freund stützte, der immer weder von quälendem Husten geplagt wurde.
Erst eine Querstraße weiter blieben sie stehen. Pierre wischte sich seufzend den Mund ab. „Verflucht, mein Freund, ich brauche unbedingt etwas zu trinken. Ich habe einen derart rauen Hals…“
„Was war los?“ Wyatt sah sich vorsichtig um, doch niemand schien ihnen gefolgt zu sein. „Warum der schnelle Aufbruch? So schlecht stand es gar nicht. Ich hätte durchaus…“
„Hast du gehört, was der Bote diesem Yang-Tian gemeldet hat?“
„Du weißt, ich spreche dieses Kauderwelsch nicht. Irgendwas von „Lu fennschu“ oder so ähnlich.“ Wyatt lachte. „Vielleicht gibt es ein spezielles Feng-Shui für Kartenspiele.“
„Im Gegensatz zu dir konnte ich sehr genau verstehen, um was es ging.“ Pierre´s Gesicht war todernst. „Glücklicherweise haben die Burschen das nicht gewusst, sonst wären wir nicht mehr lebend aus dem Drachenhorst entkommen.“
Unwillkürlich legte Wyatt die Hand an das geschlossene Holster seines Waffengurtes, denn er wieder zurückerhalten hatte. „Verflucht, jetzt sag mir endlich, was da los war.“
„Es ging nicht um irgendein Feng-Shui, sondern um einen Lord Fenshaw. Einen englischen Lord“, erklärte der Franzose. „Der Bote berichtete Yang-Tian, man habe die englischen Behörden mit den Papieren des Lords täuschen können. Da man diesen somit für tot halte, werde man auch nicht mehr nach ihm suchen.“
„Lord Fenshaw? Kenne ich nicht. Was hat das zu bedeuten?“
„Manchmal bist du ein wenig schwer von Begriff, mein amerikanischer Freund“, seufzte Pierre. „Offensichtlich befindet sich ein englischer Edelmann in den Händen der Chinesen, aber aus irgendeinem Grund wollen die, dass die Behörden den Mann für tot halten.“
„Das ist nicht unser Problem“, knurrte Wyatt. „Unser Problem ist vielmehr, dass wir bald ein paar Rechnungen zu bezahlen haben.“
„Wie ich es schon sagte, manchmal begreifst du wirklich nicht sehr schnell.“
Der Amerikaner errötete. „Schön, dann erkläre mir, worauf du hinaus willst.“
„Ein Lord ist ein recht bedeutender Mann in England. Man wird sich sicher als dankbar erweisen, wenn wir die Leute darüber informieren, dass der Bursche nicht tot ist, sondern noch lebt.“
„Erwartest du eine Belohnung? Das kannst du vergessen. Die Behörden hier sind nicht gerade spendabel.“
„Ja, das mag sein, aber ich dachte auch nicht an den Generalgouverneur.“ Pierre lächelte. „Aber der Lord Fenshaw hat doch sicher eine Frau oder Familie. Die sind sicherlich dankbar, wenn wir ihnen eröffnen, dass Fenshaw noch lebt. Ich könnte mir vorstellen, dass die sich auch erkenntlich zeigen.“
„Hm, möglich“, räumte Wyatt ein. „Wir könnten den Leuten einen Brief schreiben und ihnen mitteilen, was wir gehört haben.“
„Nein, nein, nein. Sei nicht so dumm.“ Der Franzose lachte. „Wenn wir etwas herausschlagen wollen, dann müssen wir das geschickter anfangen. Es genügt, wenn wir Fenshaw´s Angehörige darauf hinweisen, dass wir wissen, dass der Lord noch lebt und dass wir bereit sind, uns mit ihnen hier, in Hongkong, zu treffen.“
„Ach. Und du meinst, die kommen prompt hierher und bringen einen Sack voller Geld für uns mit?“
„Natürlich müssen wir das sorgfältig formulieren, mein Freund.“ Pierre klopfte Wyatt auf die Schulter. „Ich denke, es ist besser, wenn ich den Brief aufsetze. Ich führe die elegantere Feder.“
„Wir wissen doch noch nicht einmal, an wen wir den Brief schicken sollten.“
„Ja, ja, schnell mit dem Colt und langsam im Denken“, spottete Pierre. Bevor sein Freund aufbrausen konnte, lächelte er entwaffnend. „Heraldik, mein Freund, Heraldik. Hier gibt es ausgezeichnete Bibliotheken in Hongkong. Dort finden sich auch Bücher über den englischen Adel. Mitsamt Wappen, Stammsitz und allem, was so dazu gehört.“