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Kapitel 3Die junge Lady
ОглавлениеDie Geschichte von Fenshaw Castle sollte bis in jene Zeit zurückreichen, in welcher der sagenhafte König Artus einst Britannien vereinte. Da die Anlage ursprünglich als damals typische Ringburg mit einzelnem Wehrturm errichtet worden war, konnte dies sogar zutreffen. Von der alten Form war jedoch kaum mehr etwas zu erkennen, da viele Generationen der Fenshaws an ihrer Burg gebaut, und sie verbessert und vergrößert hatten. Doch im Gegensatz zu manchem anderen ländlichen Schloss war Fenshaw Castle noch immer die einstige Wehrhaftigkeit anzusehen.
Der einst dominierende Wehrturm war nun ein bescheidener Bestandsteil des dreigeschossigen Haupthauses, dessen Vorbau von massigen Marmorsäulen gestützt wurde. Eine geschwungene Freitreppe führte zum Eingangsportal. Große bleiverglaste Fenster zeugten nicht nur vom Wohlstand des Besitzers, sondern auch von Helligkeit im Inneren des Baus. Wilder Wein hatte im Mauerwerk Halt gefunden und rankte bis zum zweiten Stockwerk empor. Vom grauen Stein hoben sich die weißen Fensterrahmen und Sturmläden ab.
Vor dem Haupthaus lag der große Innenhof, in dessen Mitte ein verspielt wirkender Brunnen stand, der von alten Eichen umgeben war. Bänke luden zum verweilen ein. Um den Innenhof zogen sich die Reste der einstigen Schutzmauer. An ihrer Innenseite waren Wirtschaftsgebäude, Stall, Remise und Gesindehaus angeordnet, dazu zwei Scheunen, in denen Tierfutter und Getreide gelagert wurde. Während der feine Kies vor dem Haupthaus sorgfältig gesäubert und geharkt wurde, ließen sich in den hinteren Bereichen jene typischen und wenig wohlriechenden Hinterlassenschaften finden, die auf die Haltung von Hühnern, Enten, Schweinen und Pferden hinwiesen.
Insgesamt vermittelte Fenshaw Castle eher den Eindruck eines Gutsherrnhofes, statt den eines Adelssitzes. Zudem lag der Besitz des Geschlechts derer von Fenshaw nicht in einem gepflegten Park, sondern dominierte, von einem flachen Hügel aus, ein großes Tal, in dem es saftige Weiden und üppigen Baumbestand gab.
Nur unmittelbar vor der Hauptzufahrt war ein kleiner Park angelegt, dessen Rasenfläche akkurat gepflegt wurde. Vereinzelt standen hier Büsche oder kurze Hecken, die allerdings nicht der Zierde, sondern als Hindernis dienten, da seine Lordschaft und dessen Tochter hier gelegentlich ihre Reitkünste perfektionierten.
Der Besitz erstreckte sich bis weit jenseits der bescheidenen Berge, wo auf fruchtbarem Boden Landwirtschaft betrieben wurde. Inzwischen waren mehrere Höfe und zwei Dörfer entstanden, die für die Fenshaws arbeiteten. Während das Leben der Bauern und Handwerker unter dem vorherigen Lord noch sehr bescheiden gewesen war, hatte der jetzige vieles unternommen, um das Los seiner Bediensteten zu verbessern. Es gab überdurchschnittlichen Lohn, Abwasserkanäle sorgten im Dorf für mehr Gesundheit, und Lord Fenshaw bezahlte einen Arzt, der sich hier niedergelassen hatte. Das waren keineswegs Selbstverständlichkeiten und die Bediensteten dankten es seiner Lordschaft, dessen Rechnung mehr als aufging: Zufriedene Menschen leisteten mehr als Fronarbeiter.
Das Geschlecht der Fenshaws war überaus wohlhabend.
Wahrscheinlich wurde der Grundstock des Wohlstandes einst durch Raubrittertum und Wegelagerei erworben. Zu den Zeiten des Königs Artus ein übliches Verfahren für den Adel, um sein Vermögen zu mehren. Später waren Landwirtschaft und Viehzucht hinzugekommen. Der Reichtum des derzeitigen Lords begründete sich vorwiegend auf der Produktivität zweier Fabriken, eines Kohlebergwerks und diverser Aktienbeteiligungen. So traditionell der Adlige auch in seinen Ansichten war, so bediente er sich doch gerne modernster Technik, wenn dies Ertrag und Vermögen steigerte. Zwei Eisenbahnen verbanden seine Werke und das Bergwerk miteinander, und in den Anlagen standen Dampfmaschinen. So altmodisch Fenshaw Castle auch wirken mochte, so war in den Besitztümern des Lords längst die Moderne eingezogen.
Die Fenshaws hatten die fatale Eigenschaft, ihr Leben höchst selten im Bett zu beenden. Wenigstens, was die männliche Linie des Geschlechts betraf. Die meisten waren auf dem Schlachtfeld geblieben und zwei sogar, während der Rosenkriege, hingerichtet worden. Doch jedem von ihnen war es rechtzeitig gelungen, für einen Stammhalter und die Fortführung der Linie zu sorgen. Lord Ambrosius George Cornelius Fenshaw bildete hier eine Ausnahme, die ihn zutiefst betrübte, denn seine verstorbene Gemahlin hatte ihm zwar eine bezaubernde Tochter, jedoch keinen Sohn geschenkt.
Samantha Agnes Philomena Fenshaw musste schon als Kind akzeptieren, dass ihr Vater oft abwesend war und sich nicht um sie kümmern konnte. So war es sicher verständlich, dass Butler James und die Zofe Zenora zu ihren vertrauten Personen wurden, während sie zu Verwalter Evans und Haushälterin Clementia ein eher distanziertes Verhalten zeigte. Verwalter und Haushälterin waren aufgrund ihrer Tätigkeit sehr daran interessiert, dass auf Fenshaw Castle alles seinen geregelten Gang nahm, wohingegen die kleine „Sam“, wie sie gelegentlich hinter vorgehaltener Hand genannt wurde, als Kind ein reges Interesse zeigte, jeden Winkel zu erkunden. Sie entwickelte dabei erst zögernd ein Verständnis für Zerbrechlichkeit von Gegenständen und dass ihre eigenhändige Verbesserung manchen ehrwürdigen Gemäldes stieß durchaus auf geteilte Anerkennung. Ihr Vater begegnete dem mit Verständnis, jedoch auch mit der Sorge, wie sich sein kleiner Wildfang wohl später in die Gesellschaft des Adels einfügen werde. Da er einfach nicht in der Lage war, auf die Lebhaftigkeit seiner Tochter mit Strenge zu reagieren, entschloss sich Lord Fenshaw schließlich, Samantha auf eine Schule für höhere Töchter in London zu schicken.
Als Lady Samantha zurückkehrte, war sie zu einer tatsächlichen Lady geworden. Zumindest, was das äußere Erscheinungsbild und ihre Umgangsformen betraf. An ihrer Neugierde und Wildheit hatte sich hingegen nur wenig geändert.
Samantha Fenshaw war nun eine junge Dame von einundzwanzig Jahren. Sie war attraktiv, doch keine ausgesprochene Schönheit. Das etwas zu breite Gesicht, in dem die großen blauen Augen dominierten, wurde durch lange dunkle Haare eingerahmt. Der Mund mochte eine Spur zu breit sein, doch die vollen Lippen versprachen Sinnlichkeit. Die Lady war relativ klein und verabscheute Mieder aus ganzem Herzen, so dass sie ein wenig rundlicher wirkte, als es dem Schönheitsideal entsprach.
Schon als kleines Mädchen war sie durchaus selbstbewusst aufgetreten. Einem Kind sah man dies nach, doch für eine junge Dame der Gesellschaft war es problematisch, wenn sich dieses Selbstbewusstsein mit Intelligenz, Klugheit, sozialem Engagement und der Eigenschaft paarte, sich in Themen einmischen zu wollen, die, nach fester Überzeugung der Männer, ausschließlich diesen vorbehalten waren.
Genau dies beschäftigte Verwalter Evans, der mit Butler James in den parkähnlichen Bereich vor Fenshaw Castle gegangen war, in dem die junge Lady wieder einmal ihre Reitübungen abhielt. Während die junge Dame wenig damenhaft mit ihrem schwarzen Hengst über die Hindernisse setzte, standen die beiden Männer unter einer der alten Eichen und sahen mit besorgter Miene zu. Evans, weil er sich um das Ansehen der jungen Lady sorgte, und James, weil dieser um die Gesundheit der Reiterin fürchtete, da Samantha es sichtlich genoss, immer waghalsigere Hindernisse anzureiten.
„Sie reitet wie ein Mann“, knurrte Evans missvergnügt. „Kein Damensattel und dann auch noch Hosen… Wie sollen wir da einen passenden Gentleman für unsere junge Lady finden? Eine Dame soll das Herz des Mannes erfreuen und ihm Nachkommenschaft sichern.“
„Und sie sollte eine wundervolle Singstimme besitzen und Spinett oder zumindest Cello spielen können“, fügte James hinzu. „Und jenen Charme, der einem jungen Galan vermittelt, wie dankbar unsere Lady ist, seine Aufmerksamkeit erregen zu dürfen.“
„So ist es, James“, stimmte Evans zu. „Genau so ist es oder sollte es doch sein.“
Evans schien nicht zu bemerken, dass der Butler seine Worte ironisch gemeint hatte.
Die Familie von James diente den Fenshaws nun schon seit vielen Generationen. Das war Tradition, ebenso wie die Verschwiegenheit und die perfekten Manieren, die einen englischen Butler auszeichneten. James hörte, in den Jahren seiner Tätigkeit für seine Lordschaft, manches Gespräch mit an, welches seine Lordschaft mit Gästen, Bediensteten oder seiner Tochter geführt hatte. Nicht in vollem Umfang, aber doch in genug Einzelheiten, um sich ein persönliches Bild und eine eigene Meinung zu bilden. Über seine Lordschaft ebenso wie über die junge Lady, und James war stolz darauf, den Fenshaws zu dienen.
Beide Männer waren schlank und mittelgroß. Beide trugen einen der Mode entsprechenden Bart, doch damit hörte die Ähnlichkeit auch auf. James war um die Vierzig und trug den üblichen Anzug eines Butlers, stets bemüht, ein unbewegtes Gesicht zu zeigen. Der Anzug von Evans war dunkel und kontrastierte stark zu der grellroten Weste des Verwalters. Evans dunkles Haar zeigte die ersten Spuren von Grau, das Gesicht die Falten des Alters.
Evans wusste sehr genau, dass James bei seiner Lordschaft eine besondere Vertrauensstellung einnahm, auch wenn er davon ausging, dass der Butler, aufgrund seiner Verschwiegenheit, dem Lord nicht alles berichtete, was in Fenshaw Castle vor sich ging. Dennoch hütete sich der Verwalter stets, zu offensichtliches Missfallen zu Entscheidungen ihres Herrn zu äußern. An diesem Morgen schien er seine übliche Vorsicht zu vergessen.
„Der Titel und das Vermögen seiner Lordschaft… Mit mehr wird die junge Lady Samantha nicht aufwarten können, um einen geeigneten Ehemann zu finden“, seufzte der Verwalter. „Ganz im Vertrauen, James, Sir Richard hatte beim letzten Besuch bei seiner Lordschaft einen gewissen Unmut darüber geäußert, dass sich unsere junge Lady in das Gespräch der Herrschaften einmischte.“
„Sir Richard ist ein alter Griesgram“, hielt James nun dagegen. „Der äußert seinen Unmut wenn die Sonne scheint und er äußert ihn ebenso, wenn es regnet. Major Kellford erwähnte einmal, dass es wohl eine Zeit geben werde, an der die Frauen ihre Meinung gleichberechtigt mit den Männern äußern könnten.“
„So ein Unfug“, ereiferte sich Evans. „Major Kellford war zu lange in Indien stationiert. Die dortige Sonne hat ihm sicher das Hirn verbrannt. Ein schreckliches Land. Ich frage mich, warum die Königin es dem Empire einverleibte. Immer nur Sonne. Nein, ich schätze die natürliche erhöhte Luftfeuchtigkeit guter englischer Landluft.“
„Auch in Indien regnet es.“ James kannte die Ansichten von Evans und hatte es längst aufgegeben, diese ändern zu wollen. Immerhin war der Mann ein exzellenter Verwalter.
„Nur sehr selten“, knurrte Evans. „Und dann in derartigen Mengen, das man zu ersaufen droht. Und die Menschen dort sind schrecklich. Ich verstehe nicht, warum der Major sogar sechs von diesen furchtbaren Leuten mit nach England gebracht hat.“
„Das sind eigentlich keine Inder, Evans“, korrigierte der Butler. „Das sind Gurkhas aus Nepal. Ehemalige Soldaten aus dem Regiment des Majors.“
„Furchteinflößende Burschen.“ Evans senkte die Stimme. „Ich bin sicher, die stehlen wie die Raben. Man hört ja so Einiges über Ausländer.“
„Meinen Sie, dass alle Ausländer stehlen?“
„Das liegt bei Ausländern in ihrer Natur. Dagegen kommen sie einfach nicht an.“
„Keine schöne Vorstellung.“
„Freut mich, dass wir einer Meinung sind.“
James schüttelte lächelnd den Kopf. „Na ja, ich habe mir gerade überlegt, dass wir Engländer im Rest der Welt ja eigentlich auch Ausländer sind, nicht wahr?“
Man spürte, das Evans protestieren wollte, doch diesem fiel kein vernünftiges Gegenargument ein. So verschränkte er die Arme und stand schweigend neben dem Butler, während sie die junge Lady bei ihren Reitübungen beobachteten.
Soeben setzte Samantha mit ihrem Hengst über ein weiteres Hindernis hinweg. Es war sehr hoch und die junge Lady hätte den Sprung beinahe falsch berechnet. Die Hufe des Pferdes streiften den Balken, der in der Hecke verborgen war und das Tier kam kurz ins Straucheln, als es wieder den Boden berührte. Gras und Staub stiegen unter den trommelnden Hufen auf, als die Einundzwanzigjährige die Zügel frei gab und einen triumphierenden Schrei ausstieß. Ihre langen Haare wehten im Reitwind aus. Der Hut, den Samantha zum Schutz gegen die Sonne getragen hatte, war längst von ihrem Kopf geweht und von James aufgehoben worden.
„Sie ist eine exzellente Reiterin“, unterbrach der Butler das Schweigen. „Morgen soll ich ihr die Duellpistolen seiner Lordschaft geben. Sie will wieder einmal schießen üben.“
„Entsetzlich“, ächzte Evans. „Bogenschießen würde ein junger Gentleman ja vielleicht noch akzeptieren, aber Pistolen?“
„Sie schießt gut.“
„Umso schlimmer.“ Der Verwalter fächelte sich etwas Luft mit der Hand zu. „Am Ende will sie noch an einem Schießwettbewerb teilnehmen.“
„Ja, das würde manchem hochnäsigen Kerl nicht gefallen, wenn sie ihn blamiert.“ Die Zufriedenheit in der Stimme von James war nicht zu überhören.
Ein Stück abseits stützten sich zwei der Gärtner auf ihre Geräte und sahen der Reiterin zu. Als Evans dies bemerkte, fuhr er zu ihnen herum. „Verdammt, Kerls, habt ihr nichts zu tun?“
Hastig begannen die Männer, den Rasen zwischen den Eichen erneut zu kürzen und das herabgefallene Knüppelholz aufzusammeln.
Jenseits der Mauer von Fenshaw Castle war aus dem Innenhof helles Klingen hörbar. Der Schmied fertigte wohl neue Hufeisen an oder besserte metallene Werkzeuge aus. Bald stand die Ernte an und so waren Sensen und Messer zu schärfen oder neu zu schmieden, der Hufbeschlag der Pferde zu prüfen und die mit Eisen beschlagenen Wagenräder vorzubereiten.
Evans blickte in den Himmel hinauf. „Wir werden Regen bekommen. Ausgerechnet jetzt, wo das Getreide voll steht. Hoffentlich wird der Regen nicht zu stark.“
Am Himmel war noch keine Wolke in Sicht, aber James hütete sich, Evans Meinung in Frage zu stellen. Seit einigen Jahren litt der Verwalter unter Rheuma und wenn ihn dies plagte, so war das ein untrügliches Zeichen für einen Wetterumschwung.
Auf der ungepflasterten Straße, welche das Schloss mit der Siedlung verband, war Bewegung zu sehen. James beschattete seine Augen mit der Hand. „Da kommt eine Kutsche, Evans. Und sie kommt schnell.“
„Dann bringt sie schlechte Neuigkeiten“, knurrte der Verwalter. „Ein Zweispänner. Kommt also aus der Stadt und hat eine lange Fahrt hinter sich.“
Für kurze Fahrten wurden Einspänner genutzt, die schweren Postkutschen und Pferdebusse waren hingegen mit vier oder mehr Pferden bespannt. Das Gefährt, welches sich dort näherte, war somit eine private Fernkutsche. Diese konnte man mieten, doch die Beobachter erkannten nun ein Wappen an der Tür des Aufbaus.
„Das ist was offizielles“, seufzte Evans. „Wie ich es sagte… Gewiss sind es schlechte Neuigkeiten.“
James hastete bereits auf die junge Lady zu, die das Gespann noch nicht bemerkt hatte und ihr Pferd zügelte, als der Butler ihr ein Zeichen gab.
„Eine Kutsche?“ Lady Samantha wandte sich um Sattel um und spähte zur Straße hinüber. „Vielleicht endlich Nachricht von meinem Vater!“
Samantha machte Anstalten zur Straße zu reiten und James griff mit verlegenem Gesichtsausdruck an das Zaumzeug. „Eure Ladyschaft wollen einem Gast doch sicher nicht derart gewandet gegenüber treten, nicht wahr?“
Die junge Frau runzelte die Stirn und lachte dann unbeschwert. „Ich weiß, James, es schickt sich nicht für eine junge Lady, in Hosen aufzutreten.“ Sie registrierte seine Verlegenheit und lächelte sanft. „Na schön, ich werde dem Haus Fenshaw keine Schande machen und mich schnell umziehen. Führen Sie unseren Gast in die kleine Bibliothek, James, und kümmern Sie sich um sein Wohlergehen, bis ich mich, äh, formeller umgezogen habe.“
Samantha zog ihr Pferd nun endgültig herum und trabte in Richtung der breiten Zufahrt, die in den Innenhof führte. James hingegen blieb keine andere Wahl. Obwohl es in seinem Beruf üblich war, unter allen Umständen mit langsamem Schritt zu gehen, musste er nun laufen, um das Haupthaus vor der Kutsche zu erreichen. Verwalter Evans schloss sich ihm aus dem gleichen Grund an.
Ein Stallbursche kam heran und nahm die Zügel des Pferdes. Normalerweise kümmerte sich die junge Lady selbst um das Wohlergehen ihres Reittieres, doch jetzt fehlte ihr die Zeit. Sie hastete die breite Rundtreppe empor, betrat die Vorhalle und durchquerte diese, um die Stufen zum Obergeschoss zu erreichen. „Zenora!“, rief sie. „Zenora! Wir bekommen Besuch!“
Samantha stieß die Tür zu ihrem Zimmer auf und begann Jacke und Hemd auszuziehen. „Zenora!!“
„Ich bin ja schon da, Mylady. Ich hatte Euch noch nicht erwartet. Das Bad ist noch nicht bereit.“ Zenora war ein wenig kurzatmig, denn die Ankunft der Lady hatte sie überrascht. Eigentlich hatte diese erst kurz vor dem Mittag zurückkehren wollen. Darauf hatten sich die Dienerschaft und die Küche vorbereitet. „Was ist geschehen? Wir erwarten Besuch?“
„Ein Zweispänner aus der Stadt“, berichtete Samantha. „Für das Bad ist jetzt keine Zeit. Die kleine Wäsche muss reichen. Bring mir ein Tageskleid. Etwas dezentes, Zenora.“ Sie stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. „Und eines dieser verdammten Mieder.“
„Oh.“ Zenora nickte und trat an einen der Schränke, während Samantha nun auch aus der restlichen Kleidung schlüpfte und zum Waschtisch trat, um sich, zumindest grob, vom Schweiß und Geruch des Ausritts zu befreien.
Zenora war eine schlanke Afrikanerin in Samanthas Alter. Ihre Großeltern waren noch als Sklaven nach England gekommen. Inzwischen war die Sklaverei verboten, doch Freiheit bedeutete für einen Menschen mit dunkler Hautfarbe noch lange nicht, auch die gleichen Rechte zu genießen. Zenora hatte das Glück, mit ihrer Familie bei den Fenshaws aufgewachsen zu sein. Seine Lordschaft hatte das Mädchen nicht nur als Spielgefährtin seiner Tochter akzeptiert, sondern ihm auch gestattet, am Privatunterricht von Samantha teilzuhaben. So besaß Zenora eine Bildung, die den meisten anderen Menschen ihres Standes verwehrt blieb. Die Afrikanerin wurde zur Zofe der jungen Lady, was sie weit über den Status einer gewöhnlichen Bediensteten erhob. Sie war Dienerin, Gesellschafterin und Vertraute von Samantha.
Als Samantha frische Unterwäsche angezogen hatte, hielt Zenora das Mieder schon bereit. Hastig stieg die junge Lady hinein und Zenora half ihr, das Kleidungsstück in die richtige Position zu bringen, denn unten im Hof war das Knirschen zu hören, mit dem die Räder der Kutsche über den Kies mahlten.
„Ich hasse diese Dinger“, stellte Samantha fest. „Sie schnüren die Luft ab.“
Zenora zog die langen Bänder am Rücken der Korsage enger. „Sie machen eine gute Figur“, versuchte sie ihre Freundin zu trösten. „Männer mögen eine schlanke Taille.“
„Willst du etwa sagen, dass ich dick bin?“
„Niemals“, versicherte Zenora. „Ihr habt eine ausgezeichnete Figur, Mylady. Doch das Mieder hilft, sie noch ein klein wenig perfekter zu machen.“
Samantha hielt die Luft an, als Zenora die Bänder endgültig schnürte. „Die Männer wären nicht so erpicht auf eine Wespentaille, wenn sie selbst so ein Ding tragen müssten.“
„Oh, ich hörte, dass manche Männer das tun.“ Zenora lachte. „Vor allem jene Männer, die sich in der Leibesmitte schon ein wenig runden.“ Sie reichte die Tournüre und half Samantha, das Teil um deren geschnürte Taille zu befestigen. Während das Mieder die schlanke Figur betonen sollte, hatte die Tournüre zum Ziel, das Gesäß einer Dame von Welt überproportional zu betonen. Es war ein höchst unpraktisches Kleidungsstück, doch die herrschende Mode sollte bewusst machen, dass ihre Trägerin es nicht nötig hatte, körperlich zu arbeiten. Zwei Unterröcke folgten, dann kam ein Tageskleid aus grünem Samt mit kurzer Schleppe.
„Rasch noch die Haare, Mylady“, mahnte Zenora und steckte die Haarflut Samanthas mit ein paar Nadeln und einem Schmuckreif auf. „So, jetzt seid Ihr präsentabel.“
Lady Samantha hatte bequeme Kleidung zu schätzen gelernt, aber sie musste akzeptieren, dass die Zugehörigkeit zur feinen Gesellschaft mit gewissen Zwängen verbunden war. Zwängen, denen sie folgen musste, wollte sie den Ruf der Fenshaws nicht schädigen, und der ihres Vaters lag ihr sehr am Herzen. Seine Beeinträchtigung konnte den Wunsch des Vaters, als berühmter Entdecker in die Geschichte einzugehen, zunichte machen.
Zenora war gerade damit fertig, einen Hauch von Rosenwasser um die Lady zu legen, als es dezent an der Tür pochte. Die Afrikanerin öffnete und einer der Hausdiener stand vor ihr. „Empfehlung von Mister Evans, Madam.“ Er reichte ihr ein kleines Silbertablett mit zwei Visitenkarten.
Als Zenora sie an Samantha übergab, runzelte diese die Stirn und erblasste ein wenig. „Sir Archibald von der Royal Society in London und Vize-Admiral Sir Bernhard von der Admiralität… Zenora, das hat nichts Gutes zu bedeuten.”
„Soll ich Euch begleiten, Mylady?“
„Nein.“ Sam schüttelte den Kopf. „Egal, was da kommen mag, das muss ich alleine durchstehen.“
Samantha war bewusst, dass der Besuch zweier solcher Persönlichkeiten nur im Zusammenhang mit ihrem Vater stehen konnte und die Männer sicher keine gute Nachricht brachten. Sie versuchte einen gefassten Eindruck zu machen und zwang sich zu einem Lächeln, als sie in die kleine Bibliothek trat.
Die kleine Bibliothek war ein kreisrunder Raum, ringsum von hohen Regalen umgeben, in denen Tausende von Büchern standen. Hier gab es neue gedruckte Werke ebenso, wie alte Handschriften. Die Inhalte waren breit gefächert. Bibliotheken vermittelten den Eindruck von Bildung. In der besseren Gesellschaft war es seit langem üblich, Bücher als Meterware zu erwerben und ungelesen in die Regale oder Schränke zu stellen. Die Fenshaws waren jedoch von Leseleidenschaft beseelt und hatten viele der Schriften studiert.
In der Mitte des Raumes lag ein kostbarer runder Teppich, auf dem ein Tisch stand, der von bequemen Polstersesseln umgeben war. Hier saß der Lord oft bei einem Glas Wein, während er eines der Bücher studierte. Jetzt saßen dort die beiden unerwarteten Gäste, die sich rasch erhoben, als Samantha eintrat. James hielt sich dezent im Hintergrund. Er hatte gerade frischen Tee serviert und zog sich auf einen Wink der jungen Lady zurück.
„Sir Archibald. Sir Bernhard.“ Die Gentlemen deuteten eine Verbeugung an. Beim Handkuss berührten ihre Lippen den Handrücken nicht, was ein exzellentes Benehmen attestierte. „Was kann ich für die Gentlemen tun?“
Sir Archibald war klein und sichtlich korpulent. Seine opulenten Koteletten waren schlohweiß und kontrastieren stark zu dem strengen schwarzen Gehrock und dem hellblauen Binder. Er stützte sich auf einen Gehstock mit goldenem Knauf. Sein Gesicht zeigte ein betrübtes Lächeln.
„Ich bedauere außerordentlich, Eure Ladyschaft, doch ich fürchte, dass es keine guten Nachrichten bezüglich Eures verehrten Herrn Vaters gibt.“
Obwohl sie es ahnte, fühlte sich Samanthas Herz plötzlich wie ein Eisklumpen an. „Ist er… Ist er…?“
„Es gab einen schrecklichen Unfall auf See“, sagte Sir Archibald und warf einen hilfesuchenden Blick zu seinem Begleiter. „Ein Sturm, Euer Ladyschaft, bei dem das Schiff Eures Vaters wohl, äh, gesunken ist.“
„Gesunken?“ Samantha tastete nach einem Halt. Der Offizier stützte sie und half ihr in einen der Sessel. „Gesunken? Er ist… tot?“
„Ich fürchte ja, Mylady.“ Sir Archibald zog ein Tuch aus dem Gehrock und tupfte sich imaginären Schweiß von der Stirn. „Wir haben es gerade erst erfahren und haben uns natürlich beeilt, Euch die traurige Nachricht zu überbringen.“ Er sah erneut zu dem Seeoffizier. „Sir Bernhard kann Euch aber Genaueres berichten. Äh, Sir Bernhard?“
Der Vize-Admiral war jünger und sah in seiner beeindruckenden Uniform vortrefflich aus. Der dunkelblaue Rock und der Zweispitz waren mit goldener Tresse besetzt. Auf den goldenen Epauletten glitzerten silberne Sterne. Der leichte Bauchansatz verriet jedoch, dass er schon eine Weile nicht mehr auf See gewesen war und das bequemere Leben in der Admiralität in London genoss. „Ein chinesischer Handelskapitän suchte den Gouverneur von Hongkong auf und übergab den Pass seiner Lordschaft.“
„Den Pass? Was ist das?“, fragte Samantha verwirrt.
„Ein Dokument, welches dessen Inhaber im Detail beschreibt und somit dessen Identifikation erleichtert“, assistierte Sir Archibald. „Es ist zwar auf internationalen Reisen nicht erforderlich, erleichtert aber die Identifikation bei einer Bank im Ausland, wenn man Geldgeschäfte tätigen will.“
„Aha. Ich wusste nicht, dass mein Vater ein solches Dokument besaß“, gab Samantha zu. „Und was hat es mit dem Pass auf sich?“
„Nun, das Schiff des chinesischen Kapitäns stieß nach einem schweren Sturm auf treibende Trümmer und einige, äh, Körper“, führte der Vize-Admiral aus. „Die Toten waren bereits in einem zu, äh, geschädigten Zustand, um sie noch bergen zu können. Die Chinesen bestatteten sie daher auf See, stellten vorher aber das private Eigentum sicher.“ Der Gesichtsausdruck des Offiziers ließ ahnen, dass er davon ausging, dass die Chinesen die Leichen skrupellos gefleddert hatten. „Darunter war der Pass seiner Lordschaft. So sehr ich das auch bedauere, aber es ist wohl sicher, das Euer Vater verstorben ist.“
Samantha schwieg. Sie war nicht in der Lage, etwas zu erwidern.
Der Vize-Admiral räusperte sich. „Aufgrund des Berichtes des chinesischen Kapitäns und der vorgelegten Beweise schien es sinnlos, ein Suchschiff der Navy zu entsenden.“
„Ich verstehe.“ Sam´s Stimme klang seltsam tonlos.
„Wenn ich etwas für Euch tun kann…?“ Sir Archibald sah sie mitfühlend an.
Zögernd schüttelte die junge Frau den Kopf. „Nein, ich… Bitte lassen Sie mich nun allein.“
Die beiden Männer nickten sich zu und verließen die Bibliothek.
Butler James wartete vor der Tür.
„Es wäre gut, wenn jemand nach der Ladyschaft sehen würde“, verkündete Sir Archibald dem überraschten Butler. „Wir mussten ihr leider vom Tod seiner Lordschaft berichten.“ Er fügte hinzu, was er wusste. Eigentlich war es nicht seine Art, einem Bediensteten solche Dinge anzuvertrauen, doch die junge Frau war nun ohne weitere Familie und der Butler würde am ehesten wissen, wie man ihr in dieser Stunde beistehen konnte.
„Grundgütiger“, ächzte James schockiert. „Ich, äh, werde sofort die Zofe ihrer Ladyschaft informieren. Wenn ich darauf hinweisen darf, dass ein Imbiss für…“
Der Vize-Admiral winkte ab. „Wir müssen sofort nach London zurückkehren. Das soll keine Unhöflichkeit sein. Wenn ihre Ladyschaft etwas zu sich gefunden hat, stehen wir natürlich zu ihrer Verfügung.“
Sir Archibald nickte. „Wenn es in der Nachbarschaft jemanden gibt, welcher der Lady in dieser schweren Zeit beistehen kann…“
„Ich werde einen Boten zu Major Kellford senden“, meinte James betrübt. „Ein sehr guter Freund ihres Vaters und auch ihrer Ladyschaft.“
Die beiden Besucher verabschiedeten sich mit einem Nicken. Wenig später verließ die Kutsche den Hof.
Inzwischen hatte Butler James die Zofe Zenora mit wenigen Worten verständigt.
„Ich werde nach ihr sehen“, versicherte die Farbige entschlossen. „Und du holst ihr einen Sherry. Nein, besser einen Whiskey. Den kann sie jetzt vertragen.“
Als Zenora in die kleine Bibliothek trat, saß Samantha noch immer in dem Sessel. Sie hielt den Kopf gesenkt und hatte die Hände in den Schoß gelegt.
„Es tut mir schrecklich leid“, sagte die Zofe mit sanfter Stimme.
Sam hob den Kopf und zu Zenora´s Erstaunen zeigten sich keine Tränen in deren Gesicht.
„Ich glaube es nicht, Zenora. Ich kann und will es nicht glauben, dass mein Vater tot ist“, sagte die junge Lady mit aller Leidenschaft in ihrer Stimme.
„James erzählte, dass es wohl Beweise gibt.“
„Das ist mir gleichgültig!“, schrie Samantha auf. „Mein Vater ist viel zu stur, um einfach so zu sterben!“
Dann, endlich, brachen sich die Tränen Bahn.