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Kapitel 6

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Die alte Handelsstraße war schon lange vor der Zeit des Ersten Bundes

angelegt worden und hatte die einstigen Handelsmetropolen der Königreiche

miteinander verbunden. Sie war breit und mit großen Steinplatten gepflastert,

damit sie auch bei schwieriger Witterung genutzt werden konnte. Doch die

Zeit war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Erdreich hatte sich unter den

vielen Lasten gesenkt und verdichtet, jedoch an einigen Stellen stärker als an

anderen, und so wies der Weg gelegentlich Unebenheiten auf, wo Steinplatten

abgesackt waren oder sich gehoben hatten.


Über viele Jahrtausendwenden hatten die Füße und Hufe von Händlern,

bewaffneten Begleitern und Lasttieren die Straße benutzt, dann hatten die

massiven Scheibenräder den Platten zugesetzt. Erst in den letzten Jahren

waren die neuen Speichenräder aufgekommen. Sie waren leichter als die

Scheibenräder und zugleich stabiler, was es den Händlern erlaubte, größere

Lasten mitzuführen. Aber jeder Belastbarkeit waren Grenzen gesetzt, und an

eine dieser Grenzen stieß nun das Rad von Helderims Wagen.


Die Steinplatte stand nur ein kleines Stück hervor, aber das rechte

Vorderrad des Frachtwagens traf die Kante sehr unglücklich. Ein heftiger

Schlag ging durch das Fahrzeug, zerbrach den Eisenreifen, der als Schutz um

das Rad gezogen war, und ließ das Holz zersplittern. Mit einem Ruck sackte

der Wagen auf dieser Seite ein. Helderim wurde in weitem Bogen vom Bock

geschleudert und landete unsanft auf dem Boden, während das Fahrzeug

schleifend und knirschend noch ein Stück die Straße entlanggezerrt wurde, bis

ein Begleiter zu Hilfe kam und den Zugtieren in die Zügel fiel.


»Bei den Finsteren Abgründen«, fluchte ein Reiter im grünen Umhang und

mit dem Rosshaarschweif der Schwertmänner am Helm, bevor er rasch aus

dem Sattel stieg, um sich nach Helderim zu bücken. »Ist Euch etwas

geschehen, guter Herr Helderim?«


»Ihm geht es gut«, erklang eine unwirsche Stimme aus dem Inneren des

Wagens. »Seht lieber nach mir, Schwertmann. Ich habe sehr gelitten.«


Entlang der langen Kolonne erschollen Rufe und Flüche, bis schließlich

der gesamte Tross zögernd zum Stehen kam. Weitere Männer eilten herbei

und sahen eine Bewegung hinter der Plane aus dunklem Leinen, die den Blick

ins Wageninnere verdeckte.


»Warte, Gunwyn, meine Liebe«, ächzte der schmächtige Händler, »ich bin

sofort bei dir.«


Er schüttelte dankend die Hand des Pferdelords ab und humpelte mit

schmerzverzerrtem Gesicht zum Wagen zurück. Sein kostbar besticktes

Wams war aufgerissen, ebenso wie seine Hose, und auch seine Hände waren

abgeschürft, doch schien er dafür keinen Blick zu haben, als er sich halb auf

den schräg stehenden Wagen zog und besorgt die Plane zur Seite schob. »Ich

bin schon da, Gunwyn, meine Liebe, ich bin schon da.«


Helderim war in aufrichtiger Sorge, als auf seinen Ruf hin zwischen dem

Stoff zwei zierliche Füße erschienen, die hilflos in der Luft strampelten und

dabei Stück für Stück zwei beeindruckend voluminöse Waden zutage

förderten. »Warte, Gunwyn, meine Teuerste und Beste«, keuchte der Händler

angestrengt, »ich helfe dir.«


Der abgesessene Pferdelord sah die Umstehenden auffordernd an. »Helft

dem guten Herrn. Manche Last lässt sich nur gemeinsam bewältigen.«


Hände langten zu, und der Wagen wankte ein wenig, während drei oder

vier Männer sich bemühten, dem Händler zu helfen, und andere die Zugtiere

ausspannten. Der Staub, der über der Kolonne gehangen hatte und ihr wie ein

Schleier gefolgt war, begann sich langsam zu senken, als von vorne eine

Gruppe Reiter heranpreschte. Über ihren Köpfen flatterte der Wimpel eines

Beritts, auf dem das Symbol der Schwertmänner von Eternas prangte.


»Was ist denn nun schon wieder los?«, stieß Garwin erregt hervor, als er

sein Pferd neben dem Wagen zügelte. »Wieso geht es denn nicht …? Ah,

verdammt!« Er überblickte die Situation und stützte sich, leicht vorgebeugt,

auf sein Sattelhorn. »Bei allen Abgründen der Finsternis, das ist jetzt schon

das vierte Mal, dass eines dieser verfluchten Räder zerbricht!«


Helderim hatte endlich die Hand seines geliebten Weibes ertastet und

zerrte, unterstützt von den anderen Männern, mit Kräften daran, um seine

Gunwyn aus ihrer misslichen Lage zu befreien. »Es ist nicht meine Schuld,

Hoher Herr Garwin, ganz gewiss nicht. Die Straße ist schlecht und die Wagen

sind schwer beladen … Für eine solche Last wurden sie nicht gebaut!«


»Helderim?!« Der Aufschrei endete in einem grimmigen Fluch, als

Helderims Weib erneut den Halt verlor und in den Wagen zurücksackte.


Der Händler sah Garwin Hilfe suchend an. »Seht es mir nach, Hoher Herr,

aber …«


»Schon gut, schon gut«, knurrte Garwin und ließ sich zurücksinken.

»Kümmert Euch um Euer Weib.« Er sah die Umstehenden an. »Und ihr

kümmert euch gefälligst darum, dass wir bald weiterkönnen. Zieht ein neues

Rad auf, verdammt. Wir haben schon genug Zeit verloren.«


Ein anderer Pferdelord sah grinsend auf den Frachtwagen. »Dazu muss der

Wagen erst leichter werden.«


Garwin sah den Mann wütend an. »Dann helft gefälligst dabei und grinst

nicht so dämlich, guter Herr! Umso schneller kommen wir weiter.«


Das Gesicht des Schwertmanns verzog sich ärgerlich. Zunächst schien er

eine scharfe Erwiderung geben zu wollen, aber dann wandte er sich zur Seite,

spuckte aus und ließ sich aus dem Sattel gleiten. Wortlos trat er an den Wagen

heran. Mit vereinten Kräften gelang es, Gunwyn über den Kutschbock

hinwegzuhelfen, sodass sie sich schließlich erschöpft an den Straßenrand

sinken lassen konnte. Besorgt fächelte ihr Helderim frische Luft zu.


Garwin neigte sich im Sattel. »Während der gute Herr Helderim sein Weib

versorgt, könnt Ihr den Wagen richten, Männer. Und beeilt Euch, wir haben

noch einen Zehnteltag Wegstrecke vor uns.«


Einige der Männer stöhnten auf, während andere nur kaum vernehmlich

murrten.


»Wozu diese Eile, Hoher Herr?«, wandte ein Händlergehilfe ein. »Die

Tiere brauchen ohnehin eine Rast, und wir können sie ebenso gebrauchen.

Der gute Herr Nedeam sagte uns, wir lägen gut in der Zeit.«


»So, sagt er das, der gute Herr Nedeam?«


»Ja, Hoher Herr, das sagt er.« Der Händlergehilfe war nicht bereit, vor

dem Sohn des Pferdefürsten zurückzustecken.


»Wir sollten wirklich eine Rast einlegen oder gar das Nachtlager

aufschlagen.« Der Pferdelord am Wagen sah Garwin eindringlich an. »Wir

werden einen Viertel Zehnteltag benötigen, um das Rad zu wechseln, Hoher

Herr Garwin.«


»Ich habe nicht um Eure Meinung gebeten«, wies Garwin den Mann

zurecht. »Sollte ich Euren Rat benötigen, Schwertmann, dann werde ich es

Euch wissen lassen. Und jetzt beeilt Euch gefälligst, Ihr Händlergehilfen.

Meine Schwertmänner werden mit anpacken, dann geht es schneller.«


Garwin zog sein Pferd herum, und der Wimpelträger und seine Begleiter

folgten ihm, als er zur Spitze der Kolonne zurückritt.


Einer der Gehilfen spuckte aus. »Er hat einen sehr begrenzten Wortschatz,

der Hohe Herr Garwin. Immer nur ›Eilt Euch‹ und ›Schnell‹. Ich habe auf der

ganzen Reise kaum ein freundliches Wort von ihm vernommen. Dabei sind

wir gut vorangekommen und weit vor der Zeit.« Erneut spuckte er, doch

diesmal in die Hände. »Nun denn, lasst uns den Wagen neu berädern.«


»Wir sollten ihn zuvor entladen«, sagte ein anderer. »Dieser wertlose

Plunder wiegt schwer.«


»Willst du ihn erst mühsam abladen und dann wieder aufladen?« Ein

Dritter ging zu dem hinter ihnen wartenden Wagen und kam mit einem

massiven Balken zurück. »Damit heben wir ihn an. Ist ja nicht das erste Mal,

dass ein Rad zerbricht.«


»Und bei der Eile des Hohen Herrn wird es auch nicht das letzte gewesen

sein.« Der Pferdelord schob den Hebel unter den Wagenkasten und prüfte das

Gewicht. »Wenn es so weitergeht, werden uns die Ersatzräder ausgehen. Zwei

Mann noch zu mir, dann können wir den Wagen hochdrücken.«


Helderim fächelte seiner Gunwyn noch immer Luft zu und blickte dabei

trübselig an der Kolonne entlang. Mehrere Hundertlängen maß die Schlange

der Transportwagen, die berittenen Schwertmänner der Vor- und Nachhut

nicht eingerechnet. Dreißig Wagen hatte Helderim aufgeboten, um den

Transport des Goldes durchführen zu können, und einige der Fahrzeuge hatte

er sich ausleihen müssen. Das würde ihn einiges kosten, aber Helderim

versprach sich ein gutes Geschäft davon, denn Garodem hatte ihm eine

Menge Schüsselchen für den Transport des wertlosen Weichmetalls in

Aussicht gestellt. Als Händler war es ihm wohl bewusst, dass sich die

Bedeutung des Goldes wandelte. Auch wenn die meisten Angehörigen des

Pferdevolkes es immer noch für wertlos hielten, würde sich dies bald ändern.

Die goldenen Schüsselchen waren offizielles Zahlungsmittel im Reich Alnoa

und weitaus praktischer als die Umrechnung einer Ware in den Wert einer

anderen. Früher oder später würde auch der König des Pferdevolkes seine

eigenen Schüsselchen schlagen, und dann würde das weiche Metall an

Bedeutung gewinnen.


Doch er war sich nicht sicher, ob sein Entschluss, diese Handelsreise

durchzuführen, richtig gewesen war, denn bislang war sie nur

unverhältnismäßig strapaziös gewesen.


Helderims Wohlstand zeigte sich in seinen reich verzierten Gewändern und

war begründet in seinem Handel. Längst war der schmächtige und rührige

Mann über das Stadium hinaus, in dem er sich mit seinem Geschäft auf

Eternas, die Hauptstadt der Hochmark, beschränkte. Er selbst hätte sich

durchaus damit begnügt, weiterhin seinen kleinen Laden zu führen und

ehrlichen Handel mit den Bewohnern der Stadt und ihren Besuchern zu

treiben. Aber seine Frau, die gute und voluminöse Seele, hatte es verstanden,

ihm die Vorzüge der Handelsreisen nahezubringen.


»Helderim, mein Guter und Bester«, so pflegte Gunwyn dann mit

Nachdruck zu sagen, »dein Name hat Klang in den Marken des Pferdevolkes.

Deine Vergrößerungssteine, die schwachen Augen zu starkem Sehen

verhelfen, und die Qualität deiner Waren haben sich herumgesprochen.

Zudem bist du ein Held, denn schließlich hast du einst den König Reyodem

vor einem mörderischen Grauen Wesen gerettet. Willst du denn, dass ich,

dein aufopferndes und dich liebendes Weib, mich den ganzen Tag in unserem

kleinen Laden quäle? Viele Händler kommen in die Hochmark, und du musst

nehmen, was sie dir bieten. Warum gehst du nicht hinaus in die Marken und

treibst dort selber Handel? Sieh nur, wie schäbig unser Laden ist, der deinem

Namen nicht gerecht wird. Zudem wäre es schön, einmal etwas anderes zu

sehen als immer nur die engen Gassen von Eternas.«


Aber Helderim war sich dennoch nicht sicher gewesen, ob er sich wirklich

persönlich auf die lange Reise begeben sollte, aber nachdem sein holdes Weib

immer öfter über Kopfschmerzen klagte und dies auf die Gebirgsluft der

Hochmark zurückführte, besann er sich auf seine fürsorgliche Pflicht ihr

gegenüber. Nun würde er froh sein, wenn diese Reise überstanden war, und

ihm grauste es bei der Vorstellung, dass noch weitere Transporte folgen

sollten.


»Helderim, mein Guter und Bester, du musst diesem Hohen Herrn Garwin

sagen, dass ich arg gelitten habe und eine Rast benötige«, meldete sich

Gunwyn zu Wort, während die Männer den Wagen aufrichteten, das zerstörte

Rad von der Vorderachse zogen und hastig das neue aufsetzten. »Oder sprich

besser mit dem guten Herrn Nedeam. Nein, doch eher mit Dorkemunt, der hat

mehr Verständnis für meine Gebrechen als dieser Grobian Garwin.«


»Der Hohe Herr Garwin führt die Eskorte«, seufzte Helderim

entsagungsvoll. »So wurde es von unserem Pferdefürsten bestimmt. Die guten

Herren Nedeam und Dorkemunt reiten nur als einfache Pferdelords mit.«


»Ein Fehler, Helderim, mein Guter und Bester, ein arger Fehler, wenn du

mich fragst.« Gunwyn drehte sich und stützte sich auf, um sich dann ächzend

zu erheben. »Er ist kein feinfühliger Mensch, dieser Garwin, ganz gewiss

nicht.«


»Man munkelt, er solle an der Aufgabe, den Beritt zu führen, wachsen«,

erwiderte Helderim und strich hastig Schmutz von Gunwyns Gewand. »Und

es heißt, Nedeam und Dorkemunt sollen ihn dabei beraten.«


»Was für ein Unsinn«, erwiderte Gunwyn entschieden. »Dann hätte unser

Pferdefürst den Wimpel doch besser gleich in Nedeams Hand gelegt.«


»Mag sein, ich kann das nicht beurteilen«, wich Helderim aus.


Die bisherige Reise war in höchstem Maße unerfreulich verlaufen. Die

Kolonne bestand aus dreißig schweren Frachtwagen und fünf Fahrzeugen, auf

denen sich Vorräte und Ausrüstung befanden. Mehr als hundert Männer

waren nötig, um die Wagen und Tiere zu lenken und zu versorgen. Neben den

zweihundertfünfzig Zugtieren wurden noch fünfzig Ersatzpferde mitgeführt.

Hinzu kam ein voller Beritt der Schwertmänner Garodems. Die Karawane

hatte sich von der Hochmark aus auf der nördlichen Handelsroute bewegt,

war dann durch die südlichen Ausläufer des Gebirges gezogen und am

Hammerturm vorbei zu den Furten des Eisen gelangt, wo sie nach Südosten

auf die mittlere Route abbog, um am Fluss Rorin entlang die Königsstadt

Enderonas zu passieren. Die Straße verlief dann weiter durch die Südmark

mit ihrer Hauptstadt Hedan, und ein Stück hinter Lheonaris waren sie

schließlich auf die Straße von Gendaneris gewechselt, die sie über Rhokaris

nach Gendaneris führen würde. Bis sie ihr Ziel erreichten, würden sie eine

Strecke von insgesamt fast tausend Tausendlängen bewältigt haben. Mit den

schweren Wagen bewältigten sie rund sechs Tausendlängen am Zehnteltag und

knapp sechsunddreißig in einer Tageswende.


Garwin hatte sie unermüdlich angetrieben und Mensch und Tier nur wenig

Ruhe gegönnt, obwohl die Luft heiß und drückend war. Man war froh, dass

die alten Handelsstraßen meist in der direkten Nähe eines Flusses verliefen

und es dort, wo sie vom Flussverlauf abwichen, gute Wasserstellen gab.

Warum der Sohn des Pferdefürsten sie derart antrieb, wusste keiner zu sagen.

Vielleicht war er einfach, wie die anderen Pferdelords des Beritts auch, von

ihrem quälend langsamen Vorankommen frustriert, denn ohne die Fahrzeuge

wären die Reiter bequem sechsmal so rasch gewesen, aber sie mussten

Rücksicht auf die Kolonne nehmen, schließlich waren sie ja zu ihrem Schutz

abgestellt.


»Es kann weitergehen«, rief einer der Männer vom Wagen herüber. »Das

neue Rad ist aufgezogen und sitzt fest. Wollt Ihr die Zügel wieder selber

führen, guter Herr Helderim?«


Der Händler nickte und half seiner Gunwyn auf den Bock. »Du solltest von

nun an vorne bei mir sitzen, Gunwyn, meine Liebe, auch wenn es dort etwas

beengt sein mag. Wenn wieder eine Steinplatte vorsteht …«


Sein geliebtes Weib seufzte missmutig. »Wenn Garwin nicht diese

ungebührliche Hast zeigen würde … Wir konnten nicht einmal eine einzige

der Städte besuchen, an denen wir vorbeigekommen sind. Ich finde das nicht

richtig. Wann haben wir schon einmal die Gelegenheit, andere Orte zu

sehen?«


»Auf der Rückfahrt werden wir das nachholen«, erwiderte Helderim und

nahm die Zügel auf.


»Nicht, wenn wieder dieser Garwin den Beritt führt«, orakelte Gunwyn.


Unter lauten Zurufen begann sich die Kolonne schließlich zögernd in

Marsch zu setzen. Erneut war das knirschende Mahlen der Räder zu hören

und das Klappern der Hufe, begleitet vom Schnauben der Zugtiere und den

Stimmen der Mitreisenden.


Helderim musste sich eingestehen, dass Gunwyn in gewisser Weise recht

hatte. Die wenigsten Männer und Frauen der Hochmark hatten Gelegenheit,

die anderen Marken des Pferdevolkes zu besuchen. Allenfalls, wenn der

Pferdefürst die Losung gab, rückten die Beritte aus, aber dann mussten sie

zum Kampf eilen und hatten wenig Muße für die Schönheit des Landes oder

die Sehenswürdigkeiten anderer Marken. Inzwischen hatten sie jedoch das

Land des Pferdevolkes längst hinter sich gelassen und die Grenze zum Reich

Alnoa überschritten. Diese war nicht befestigt, da beide Reiche miteinander

verbündet waren. Doch gab es kleinere Wehranlagen, die als Stützpunkt für

Streiftrupps der alnoischen Truppen und zur Signalübermittlung dienten.

Gefahr drohte hier, an der inneren Grenze, nur von kleinen Banden

umherstreifender Räuber. Kein ernst zu nehmender Kriegstrupp konnte bis

hier vordringen, ohne von den Besatzungen der äußeren Grenzfesten entdeckt

und von sofort alarmierten Truppen gestellt zu werden.


Das Königreich von Alnoa war ein Land, das den Menschen der Marken

fremd war. Auch wenn ihnen die Landschaft hier der ihren sehr ähnlich

erschien, unterschieden sich die Siedlungen doch von denen des Pferdevolkes.

Die Gehöfte und Ansiedlungen waren größer, und die Ackerflächen dehnten

sich scheinbar unendlich aus. Die meisten Häuser bestanden nicht aus Holz

oder Naturstein, sondern aus einem weißen, glatten Stein, der in den Marken

nahezu unbekannt war. Zudem waren die Fenster hier mit durchsichtigem

Klarstein verschlossen und die Städte von weißen Mauern und hohen Türmen

umgeben.


Aus der vierzig Reiter starken Nachhut lösten sich soeben zwei Männer

und trabten an der Kolonne entlang nach vorne, wo der Wimpel des Beritts

lustlos im schwachen Wind flappte. Die Handelsgehilfen und Begleiter riefen

ihnen aufmunternde Worte zu, als sie Nedeam und Dorkemunt erkannten.


Beide dirigierten ihre Pferde neben Garwin, und Nedeam grüßte den Sohn

des Pferdefürsten mit einer lässigen Bewegung. »Auf ein Wort, Hoher Herr

Garwin.«


»Was gibt es?« Der Angesprochene nahm seinen Helm ab und wischte sich

Schweiß von der Stirn. »Meldet mir nur nicht, es sei erneut ein Rad

gebrochen. Wir kommen langsam genug voran.«


»Habt Ihr den Rauch gesehen, Scharführer Garwin?«


»Den Rauch?« Garwin blickte über Nedeams Schulter zurück. Links der

Handelsstraße stand in weiter Ferne eine dunkle Rauchsäule am Himmel.

»Sicher habe ich ihn gesehen. Was ist damit?«


»Dort müsste die alnoische Stadt Mintris liegen.« Nedeam sah nun

ebenfalls in die Richtung.


Garwin nickte. »Ja, das denke ich auch. Worauf wollt Ihr hinaus, guter

Herr Nedeam?«


»Wo Rauch ist, da ist auch Feuer.«


»Ah, wirklich?« Garwin lachte amüsiert. »Ich glaube, davon hörte ich

schon einmal.«


Nedeams Blick wurde ernst. »Es muss ein großes Feuer sein. Nicht bloß

ein Feld, das von einem Bauern abgebrannt wird. Nein, Hoher Herr, dies dort

ist ein sehr ausgedehntes Feuer, denn der Rauch steigt besonders dicht auf.«


»Und er muss schon längere Zeit aufsteigen«, fügte Dorkemunt hinzu.


»Ich weiß, was Ihr meint.« Garwin lächelte hintergründig. »Vielleicht

brennt es dort in der Stadt. Aber das ist nicht unsere Sache, Ihr guten Herren.

Die Herren des Reiches der weißen Bäume werden eine Brandwehr

eingerichtet haben, so wie es auch in unseren Städten üblich ist.« Sein Blick

wurde spöttisch. »Oder glaubt Ihr, von dort drohe uns Gefahr?«


»Wir wissen nicht, was dort wirklich brennt und wie weit das Feuer

entfernt ist«, sagte Nedeam eindringlich. »Vielleicht ist es nicht die Stadt,

sondern die Grasebene, die sich bei der Hitze entzündet hat. Es könnte ein

Lauffeuer sein, das sich ausbreitet.«


»Und Ihr, guter Herr Nedeam, meint nun, das sollte ich erkunden lassen?«

Garwin setzte den Helm wieder auf und schüttelte den Kopf. »Der Wind treibt

es nicht auf uns zu, und es ist weit entfernt. Ich werde unsere Kräfte nicht

vergeuden und sinnlos eine Streife durchs Land jagen.«


»Eine Streife und etwas Bewegung könnten aber nicht schaden.« Nedeam

zuckte die Schultern. »Unsere Männer sind eine solch langsame Reise nicht

gewöhnt, ebenso wenig die Pferde. Sie lassen sich immer schwieriger im

langsamen Schritt halten. Reiter und Pferd drängt es nach Bewegung, Hoher

Herr. Die Männer des Beritts wären froh, wenn sie Streife reiten und der

Kolonne, wenn auch nur für kurze Zeit, den Rücken kehren könnten.«


»Es ist üblich, auf einem Marsch mit Geleitschutz zu reiten«, meldete sich

Dorkemunt erneut zu Wort. »Vorhut, Nachhut und Flankenschutz zählen

dazu. Und eine Streife, die ungebunden das Gelände erkundet und nach

Gefahren Ausschau hält.«


»Nichts gegen Eure Fähigkeiten als Züchter von Wolltieren und Hornvieh,

guter Herr Dorkemunt, und ich will auch nicht Eure Verdienste im Kampf

schmälern, aber dies ist kein Kriegsmarsch, auf dem die Losung gilt.« Garwin

seufzte. »Aber ich gebe Euch insofern recht, als den Männern ein wenig

Bewegung nicht schaden kann. Gut, stellt also eine Streife auf, Dorkemunt.

Acht Pferdelords unter Eurer Führung, wenn es Euch beliebt.«


»Wenn es Euch beliebt«, murmelte der kleinwüchsige Pferdelord

missmutig, als er und Nedeam zur Nachhut zurückritten. »Nedeam, mein

Freund, ich sage dir, es war ein Fehler, Garwin den Wimpel zu überlassen. Er

trägt ihn nicht einmal selbst, sondern hat die Lanze einem anderen Mann

übergeben, der sie hinter ihm herträgt. Das ist nicht richtig. Verdammt,

Nedeam, ich wäre stolz darauf, die Wimpellanze in deiner Hand zu sehen. Du

hättest sie verdient.«


»Garwin muss lernen, die Männer zu führen, und dieser Transport ist eine

gute Übung für ihn. Garodems Entscheidung war vollkommen richtig.«


»Übung? Bah.« Dorkemunt neigte sich im Sattel vor und spuckte aus.

»Natürlich muss unser Hoher Herr lernen. Und zwar verdammt viel, wenn du

mich fragst. Aber nimmt er in irgendeiner Weise Rücksicht? Er treibt Männer

und Tiere pausenlos an, missachtet die Zeiten, in denen die Pferde geführt

werden sollten, und ignoriert die Bedürfnisse des Beritts. Nun gut, Nedeam,

dies sind Schwertmänner Garodems, und sie sind Enthaltsamkeit gewöhnt,

aber ebenso die Traditionen unseres Volkes. Ich hingegen bin kein

Schwertmann, sondern ein einfacher Pferdelord. Auch ich bin Enthaltsamkeit

und Eile gewöhnt und liebe die Traditionen unseres Volkes. Aber ich gestehe

dir ein, Nedeam, mein Freund, dass ich meine Teilnahme an diesem Ritt

bereue. Sieh dir Garwins Gesicht an, wenn wir die Wachen aufstellen und das

Nachtlager herrichten. Es amüsiert ihn offenbar, wenn wir Vorsicht walten

lassen.« Erneut spuckte der kleine Pferdelord aus. »Ah, Nedeam, ich weiß, es

ist das Vorrecht der Jugend, die Gepflogenheiten infrage zu stellen, aber er

stellt sie ja nicht einmal infrage. Er lacht einfach nur über sie, ohne zu

bedenken, dass sie sich aus den Erfahrungen vieler Kämpfe speisen. Jede

einzelne von ihnen wurde mit Blut bezahlt.«


Nedeam sah seinen Freund nachdenklich an. »Hast du deinem Herzen nun

Luft gemacht, alter Freund?«


»Die Männer sind Eile und Entbehrung gewohnt, Nedeam. Sie folgen

bereitwillig, wenn sie wissen, wofür sie sich einsetzen sollen. Vor jedem

Kampf, vor jeder Schlacht richtet ein guter Scharführer das Wort an seine

Männer. Ich glaube nicht, dass der Hohe Herr Garwin dies jemals tun wird.«


»Ich glaube, du tust ihm Unrecht.« Nedeam warf einen raschen Blick über

die Schulter zur Spitze der Kolonne, die im aufgewirbelten Staub des sich

langsam vorwärtsbewegenden Trosses verschwand. »Er weiß, dass er eines

Tages das Banner der Hochmark führen muss. Eine große Verantwortung, die

dann auf seinen Schultern ruht. Er sucht noch nach dem Weg, das Richtige zu

tun.«


»Schön, Nedeam, mein Freund, aber warum fragt er nicht einfach uns

danach?« Dorkemunt tätschelte den Hals seines Reittiers und langte nach der

Wasserflasche. »Ich sehe hier mehr als hundert gute Pferdelords, die dem

Hohen Herrn liebend gern mit Rat zur Seite stehen würden. Wenn er nur von

seinem hohen Pferd herabsteigen und fragen würde.«


»Glaube mir, das wird er tun«, versicherte Nedeam, aber seine Stimme

verriet einen gewissen Zweifel. »Garwin ist nicht dumm. Du wirst sehen.«


»Nein, dumm ist er nicht.« Dorkemunt knurrte grimmig. »Aber er hat

einen falschen Stolz. Ich sage dir, Nedeam, sobald wir einen Feind sichten,

wird der Hohe Herr blindlings auf ihn losstürmen. Ganz im Vertrauen auf

seinen starken Arm und sein scharfes Schwert.«


»Auch du vertraust deinem Arm und deiner Axt.«


Dorkemunt stutzte und lachte dann auf. »Ja, das stimmt allerdings.«


Nedeam legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. »Glaube mir, es

ist richtig, dass Garwin auf diesem Begleitritt den Wimpel führt. Bewährt er

sich, wird Garodem von Stolz erfüllt sein. Versagt er, sind wir und die

Männer zur Stelle, um einzuschreiten. Niemand sonst würde es erfahren, und

Garwin hätte sein Gesicht gewahrt, denn der Beritt würde schweigen. Das

könnte ihm die Kraft geben, ein Unrecht einzusehen und sich zu ändern.«


Dorkemunt erwiderte Nedeams Blick. »Diese Weisheit hätte ich bei dir

nicht vermutet, mein Freund.« Er nickte zögernd. »Tradition und Ehre gelten

viel in unserem Volk, das stimmt.«


»Wenn unserem Hohen Lord Garodem etwas geschähe, müsste Garwin das

Banner unverzüglich aufnehmen. So verlangt es die Tradition. Larwyn kann

es nicht führen, und Tasmund wäre nicht dazu berechtigt, da Garodem einen

Erben hat, der in waffenfähigem Alter ist. Je eher Garwin lernt, die Männer

zu führen, desto wohler ist mir, Dorkemunt, mein Freund.«


»Hm. Du bist in Sorge um Garodem?«


»Ich bin es gewöhnt, in der Schlacht Garodems Banner zu folgen und den

Ersten Schwertmann Tasmund an der Seite unseres Pferdefürsten zu sehen.

Mich erschreckt die Vorstellung, dass ich an Tasmunds Stelle treten soll.«


»Scheust du dich vor der Verantwortung?« Dorkemunt lächelte. »Jeder

Pferdelord würde dir bereitwillig folgen.«


»Würde das auch für Garwin gelten?«


Der kleinwüchsige Pferdelord zögerte kurz. »So verlangt es die Tradition

des Pferdevolkes. Ja, sie würden ihm folgen.«


»Dann lass uns ihn behutsam lehren, wie er sie zu führen hat«, sagte

Nedeam eindringlich. »Denn irgendwann wird Garwin Pferdefürst sein, und

wir müssen dann seinem Banner auf Gedeih und Verderb folgen.«


Dorkemunt trank aus seiner Wasserflasche, verschloss sie wieder und sah

Nedeam forschend an. Schließlich nickte er zögernd. »Habe ich dir schon

gesagt, Nedeam, mein Freund, dass mir diese Reise immer weniger gefällt?«


»Ich glaube, das erwähntest du schon.«


»Schön«, brummte sein Freund. »Dann lass uns endlich die Streife

aufstellen, damit mir wenigstens für ein paar Augenblicke der Wind der

Freiheit um die Nase weht.«


Die Pferdelords 05 - Die Korsaren von Umbriel

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