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Kapitel 2 Das Volk der Lederschwingen
ОглавлениеDer Pfad war steil und sein Verlauf nur für das eingeweihte Auge zu
erkennen. Einzelne Tritte führten an der aufragenden Felswand entlang, und
die Hände mussten sich in Spalten und an Vorsprünge klammern, wenn die
Füße keinen festen Halt fanden. Nur zu leicht konnte man abgleiten und in die
Tiefe stürzen. Aber die beiden Männer nahmen die Mühsal des Aufstieges
zum Geburtsfelsen gerne auf sich. Viel zu selten schlüpfte im Horst der
Lederschwingen ein Junges, und noch seltener überlebte es das Ereignis um
mehr als wenige Augenblicke. Die Lederschwingen waren mächtige Wesen,
und vielleicht hatte die Natur es mit Bedacht so eingerichtet, dass es nur
wenige von ihnen gab.
Hier oben, unter dem höchsten Gipfel der Schwarzen Berge von Uma’Roll,
war die Luft dünn, und es war kalt. Obwohl die Männer die Unbilden dieser
Höhen gewohnt waren, fröstelten sie unter dem scharfen Wind. Anschudar
und Mordeschdar hatten sich fest in ihre dicken Pelzmäntel gehüllt, die
Kapuzen hochgeschlagen. Sie hielten die Köpfe ein wenig gesenkt,
verzichteten aber darauf, die Klarsteinscheiben vor ihre hölzernen Reithelme
zu klappen.
Unter Anschudars Fuß löste sich ein Stein, und er krallte seine freie Hand
in eine Felsspalte, als er für einen Augenblick den Halt verlor.
»Aufgeregt?« Mordeschdars Stimme klang nachsichtig.
Im Grunde war Anschudar noch kein erwachsener Mann und, wenn man es
genau nahm, auch noch kein Schwingenreiter. Jeden Morgen kämmte er sich
den Bartflaum gegen den Strich, damit er dichter und kräftiger wirkte. Ja, er
war aufgeregt, aber das war nur zu verständlich. An diesem Tag, wenn die
Geburt gelang, würde Anschudar zum ersten Mal den Rücken einer
Lederschwinge bedecken und sich auf ihr in die Lüfte erheben. Dann, endlich,
würde er ein Schwingenreiter sein.
»Gib mir den Sattel, Junge. Ich bin den Pfad schon oft mit
Schwingenrekruten gegangen und weiß, wohin ich den Fuß setzen muss.«
»Es ist mein Sattel«, erwiderte Anschudar störrisch. »Also muss ich ihn
auch tragen.«
»Stell dich nicht so an. Es ist auch dein Leben, Junge, und wenn du
abstürzt, dann bin ich es, der dich bergen und zum Horst zurückschleppen
muss.«
Anschudar seufzte. Der alte Schwingenführer hatte recht. Zögernd zog er
den ledernen Sattel unter dem Arm hervor und reichte ihn dem Alten. Die
Sitzfläche war kaum zwei Handflächen groß und weich gepolstert, während
die Steigbügel plump und massiv von ihren Lederriemen hingen.
»Wir sind bald da, Anschudar«, meinte Mordeschdar. »Glaube mir, ich
kann gut nachvollziehen, wie du dich jetzt fühlst. Mir erging es nicht anders,
als ich meiner Lederschwinge zum ersten Mal begegnete.«
»Vielleicht werde ich sie gar nicht zu Gesicht bekommen«, seufzte der
Jüngere und tastete sich weiter den eisigen Pfad entlang.
»Mag sein«, brummte Mordeschdar. »Wenn deine Schwinge schlüpft und
gut aus dem Ei kommt, muss sie noch den Sturz überstehen. Viele sind daran
schon gescheitert.«
Das war eigentlich Anschudars größte Angst. Von klein auf war er zum
Schwingenreiter erzogen worden. Nicht alle Männer seines Volkes waren
dazu auserkoren, eines Tages den Bund mit einem dieser Wesen einzugehen.
Man musste über die Fähigkeit der Verbindung verfügen, durch die man die
Gedanken der Flugwesen spürte, wenn man ihre Haut berührte. Als er zum
ersten Mal aus eigener Kraft auf seinen Beinen stehen konnte, hatten seine
Eltern ihn zur Feedanaa gebracht, der Hüterin des Horstes. Sie hatte
Anschudars Gaben erkannt und über seine Zukunft bestimmt. Doch all seine
Erziehung und sein theoretisches Wissen würden vergebens sein, wenn das
für ihn bestimmte Flugwesen zu Tode stürzte.
Anschudar blickte nach oben. Nur wenige Längen noch, und sie hatten
endlich den Gipfel des Geburtsfelsens erreicht. Diese höchste Erhebung des
Uma’Roll fiel zu einer Seite steil ab. Gute eineinhalb Tausendlängen ging es
dort hinab in die Tiefe. Dieser Abgrund würde über das Schicksal seiner
Lederschwinge und Anschudars Zukunft entscheiden.
Ein Stück über sich sah er das schwarze Rund des Eises. Anschudar
bemerkte den Schatten, der über ihn fiel, und spürte einen leichten Luftzug,
als das Muttertier dicht neben ihnen am Pfad vorbeistrich. Ihre ledrigen
Schwingen bewegten sich auch hier, in der dünnen Höhenluft, mit anmutigen,
sanft wirkenden Bewegungen. Sie hatte ihr Ei bebrütet und nun, da der
Schlupf unmittelbar bevorstand, behutsam auf dem Geburtsfelsen abgelegt.
»Sie ist sicherlich ebenso aufgeregt wie du, mein Junge.« Mordeschdar
nickte unter seinem Helm und der Kapuze. »Auch für sie hängt viel davon ab.
Es muss schwer sein, ein Junges zu verlieren.«
Anschudar konnte das verstehen. Die Lederschwingen empfanden um den
Tod eines ihrer Jungen nicht weniger Trauer als die Menschen des Volkes um
den ihrer eigenen Kinder. Er sah erneut auf das Ei. »Ich glaube, es ist gleich
so weit, Schwingenführer. Das graue Netz breitet sich aus.«
»Dann sollten wir uns beeilen«, knurrte Mordeschdar. »Du musst deine
Hände an die Schale legen, bevor sie bricht.«
Die Schale begann sich unmerklich zu öffnen. Mit den zahlreichen
Sprüngen, die ihre Oberfläche überzogen, wirkte sie, als habe man ein graues
Netz darübergeworfen. Lederschwingen hatten keinen Eizahn, mit dem sie die
dicken Schalen öffnen konnten. Sie mussten ihre Körpermuskeln anspannen
und die Schwingen ausbreiten, um das Ei zu zersprengen. Die Natur hatte es
so eingerichtet, damit das Wesen bereit war, sofort nach der Geburt zu
fliegen.
Erneut strich das Muttertier um den Geburtsfelsen, und dieses Mal stieß es
einen leisen Schrei aus, der die Männer zur Eile mahnte. Hastig kletterten sie
den Pfad hinauf, bis sie endlich auf dem winzigen Gipfelplateau des
Geburtsfelsens standen. Sie achteten nicht auf die Höhe, in der sie sich
befanden. Sie waren es gewohnt, in die Tiefe hinabzusehen. Sei es vom
Boden ihres Hortes aus oder vom Rücken einer Lederschwinge.
Das Plateau maß keine zehn Längen im Durchmesser und war nahezu
kreisrund. Der Boden war von den Lederschwingen sorgfältig geglättet und
anschließend gebrannt worden, damit kein spitzer Stein die Hülle eines Eis
beschädigen konnte. Eine kräftige Bö hätte die beiden Männer einfach vom
Felsen heruntergewischt, aber der Wind ging gleichmäßig, als Anschudar mit
einem langen Schritt an das Ei herantrat, während Mordeschdar am Ende des
Pfades verharrte. Es mochte an die fünf Längen hoch sein und deren zwei im
Durchmesser haben. Anschudar zog die gefütterten Handschuhe aus und legte
die klamm werdenden Hände an die Schale des Eis. Sie fühlte sich warm an
und vibrierte leicht. Es konnte nur noch Augenblicke dauern, bis es so weit
war.
»Es ist groß«, murmelte Anschudar.
»Ja, das ist es. Wenn du Glück hast, wirst du auf einer außergewöhnlichen
Schwinge reiten können. Doch beeile dich. Du musst nun ihren Namen
denken«, mahnte der Schwingenführer. »Rasch, bevor sie schlüpft.«
Gedanken waren intensiver, wenn man sie in Worten formulierte. Das
hatte sich Anschudar gut eingeprägt. »Flieg, Showaa, meine Lederschwinge.
Flieg.«
»Showaa?« Mordeschdar nickte beifällig. »Ein guter Name. Wollen wir
hoffen, dass …«
Es knackte hörbar, und Anschudar trat instinktiv zurück. Andächtig
starrten die beiden Männer auf das Ei. Die Linien des grauen Netzes
verbreiterten sich rasend schnell, Spalten entstanden. Auch das Muttertier
hatte diesen entscheidenden Augenblick erfasst. Elegant schwang es herum
und glitt sachte heran. Ihre muskulösen Beine berührten die Männer fast, als
sie dicht über ihre Kapuzen hinwegstrichen und dann mit wohldosierter Kraft
gegen die zerbrechende Schale stießen.
Vom Schwung des Muttertieres getroffen, zerbarst das Ei endgültig und
wurde dabei vom Plateau geschleudert. Instinktiv presste Anschudar die Hand
vor seinen Mund, als er es in die Tiefe stürzen sah. Er trat hastig an den Rand,
um besser sehen zu können. Zwischen den Schalen war ein Schemen zu
erkennen. Ein gedrungener Leib, der sich aber zu entfalten schien, während er
zusammen mit den Schalen in die Tiefe wirbelte.
»Flieg, Showaa, flieg«, flüsterte Anschudar.
Es war eine brutale Auslese, die nur den kräftigsten Jungtieren eine
Überlebenschance gab. Viele stürzten in den Tod und wurden dann betrauert.
Doch nicht Showaa.
Sie flog.
Instinktiv breitete sie ihre noch feuchten Flugschwingen und Steuerhäute
aus, die im Sturzflug trockneten und offenbar fest genug waren, um den
Luftmassen Widerstand zu bieten. Aus dem Sturz wurde eine flache Kurve.
Dicht über dem Boden zog Showaa steil an, und Anschudar stieß einen
heiseren Jubelschrei aus. »Sie fliegt! Showaa fliegt!«
»Was sollte sie auch sonst tun?«, brummte Mordeschdar, um seine
Rührung zu verbergen. »Schließlich ist sie eine Lederschwinge.« Er räusperte
sich. »Bereite dich jetzt vor. Sie muss dich erkennen und als ihren
Schwingenreiter akzeptieren.«
Das Muttertier zog weite Kreise um den Geburtsfelsen und beobachtete
mit seinem Doppelpupillenauge aufmerksam sein geschlüpftes Junges. Ihre
Bauchseite hatte sich intensiv rot verfärbt, was ihre Aufregung zeigte.
Showaa flog, doch nun kam es darauf an, ob sie ihren Reiter auch anerkannte.
Anschudar nahm den Schwingensattel und trat an den Rand des
Geburtsfelsens. Showaa gewann an Höhe und kam näher. Obwohl noch ein
Jungtier, war sie schon jetzt ungewöhnlich groß. Von den beiden kurzen
Maultentakeln bis zur Schwanzspitze maß ein ausgewachsenes Exemplar gute
zehn Längen, ein Maß, das von der Spannweite ihrer Schwingen noch
übertroffen wurde. Der Rumpf einer Lederschwinge war schlank und leicht,
und die beiden muskulösen Beine wurden im Flug nach hinten an den Leib
gelegt. Der flache Schädel glich einem stumpfen Dreieck, in dessen breiter
Vorderseite sich das Auge befand. Es hatte eine elliptische Form und zwei
schlitzartige Pupillen. Jede von ihnen war mit einem der Maultentakel
gekoppelt und erlaubte es der Lederschwinge, ihre Beute auf große
Entfernung zu erkennen und den Brennstrahl zu fokussieren. Die Seiten des
Schädels liefen in kurze Steuerschwingen aus, die das Flugwesen äußerst
wendig machten. Unter dem Schädel befand sich der Fressschlitz, an der
Oberseite die Membranen für die Saugatmung. Der Kopf saß auf einem
schlauchartigen Hals, der in den schlanken Rumpf überging. Dort setzten die
dreieckigen Flugschwingen an. Die grau und grün schattierte Haut war ledrig
und hatte den Wesen ihre Bezeichnung eingetragen. Showaa war ein
Weibchen, und so schimmerte ihre Bauchseite in einem sanften Rot. Sobald
sie in die Brunftzeit kam, würde es einen intensiveren Ton annehmen. Ein
verlockendes Signal für jedes Männchen. Natürlich würde die intensive
Färbung auch andere Wesen auf Showaa aufmerksam machen, doch für die
Lederschwingen gab es keine natürlichen Feinde. Nichts konnte ihnen die
Herrschaft über die Lüfte streitig machen.
»Präsentiere ihr Sattel und Lenkstab«, raunte Mordeschdar mit heiserer
Stimme.
Anschudar hob beides über den Kopf und verkniff sich einen leisen Fluch,
als einer der schweren Steigbügel schmerzhaft gegen seine Wange schlug.
Mit der einen Hand den Schwingensattel, mit der anderen den Lenkstab in die
Höhe haltend, sah er nervös zu der kreisenden Lederschwinge hinüber.
Showaa schien unentschlossen, zog mit aufgeregten Schwingenschlägen an
dem Menschenwesen vorbei. Der dreieckige Kopf war ihm zugewandt, und
die beiden senkrechten Schlitzpupillen im ovalen Auge bewegten sich
unruhig hin und her. Sie spürte instinktiv, was ihre Aufgabe war. Jede
neugeborene Lederschwinge wusste es, denn seit Generationen lebten die
Wesen mit den Menschen des Horstes in enger Verbindung.
»Showaa!«, rief Anschudar fordernd.
Showaas Kopf schien sich ein wenig zu neigen, so als lausche sie dem
Klang der Stimme. Erneut umrundete sie den Geburtsfelsen, und die beiden
Maultentakel zuckten leicht. Sie waren leer und hielten noch nicht die zwei
Gelbsteine, die der Lederschwinge die Fähigkeit verleihen würden, ihre
Feinde zu brennen. Auch die Kammern in ihrem Leib waren kaum mit Gas
gefüllt. Es reichte gerade aus, Showaa leicht genug zum Flug zu machen. Erst
später, nach dem Fressen, würden die Verdauungsgase in die Hohlräume
strömen.
Dann, endlich, legte sich die junge Lederschwinge in eine sanfte Kurve.
Ihre muskulösen Beine schoben sich nach vorn, und die noch weichen Krallen
reckten sich dem Boden des Plateaus entgegen. Die Landung war noch ein
wenig ungeschickt, und Showaa musste sich mit den Flugschwingen
abstützen. Aber sie war Anschudars Ruf gefolgt.
Er wusste, was er zu tun hatte, und trat an sie heran. Showaa senkte ihren
Kopf, bis dieser fast den Boden berührte, und wendete ihren langen Hals, um
Anschudar zu beobachten. Ihre beiden Schlitzpupillen schoben sich
aufeinander zu, als sie auf ihren künftigen Reiter scharf stellte.
»Leg ihr den Sattel auf. Jetzt«, raunte Mordeschdar.
»Ja, ich weiß«, erwiderte Anschudar.
Showaa zuckte leicht zusammen, als der Sattel ihre Haut berührte.
Anschudar hatte die Handgriffe oft geübt, und seine Bewegungen waren
schnell und sicher. Er legte Showaa den breiten Sattelgurt um den Hals, direkt
vor dem Ansatz der Flugschwingen, und strich ihr sanft über die Kehlhaut.
Instinktiv zog sich Showaas Muskulatur zusammen, und Anschudar konnte
den Gurt endgültig festziehen. Mordeschdar nickte beifällig. Sein Schüler
hatte es genau richtig gemacht. Nicht zu fest und nicht zu locker. Das richtige
Maß war wichtig, um einen festen Sitz zu garantieren, ohne den Hals zu stark
einzuschnüren. Anschudar zog die Steigbügel mit den schweren
Bügelschuhen nach unten und sah Mordeschdar für einen Augenblick an.
Dieser nickte. »Flieg mit ihr, Schwingenreiter. Nur so findet ihr endgültig
zueinander.«
Anschudar setzte den rechten Fuß in den Bügelschuh und zog sich in den
Sattel hoch. Unter dem ungewohnten Gewicht ihres Reiters richtete sich
Showaa instinktiv auf. Anschudar hatte Mühe, sich oben zu halten, als sich
die Schwinge zu voller Größe aufbaute. Er klopfte ihr beruhigend gegen den
Hals und spürte dabei ihre Erregung.
Behutsam setzte er mit der anderen Hand das Lenkholz an, ein
fingerstarker Stab, gute zwei Spannen lang und an den Enden nach unten
gekrümmt. Dort befanden sich die Lenkdorne aus reinem Gold. Stumpf
genug, um die Haut nicht zu verletzen, und spitz genug, der Schwinge die
gewünschte Richtung anzuzeigen. Später, wenn Anschudar und Showaa sich
aneinander gewöhnt hatten, würde das Lenkholz überflüssig sein. Eine leichte
Gewichtsverlagerung des Reiters im Sattel würde dann ausreichen.
»Flieg, Showaa«, sagte Anschudar leise. »Flieg, meine Schöne.«
Die Lederschwinge ging ein wenig in die Knie, stieß sich mit ihren
muskulösen Beinen ab und breitete zugleich ihre Flugschwingen aus.
Anschudar stieß einen Schrei reinsten Entzückens aus, als Showaa über den
Rand des Plateaus in die Tiefe glitt. Er spürte das Pumpen in ihren inneren
Kammern, als sie das Gewicht des Reiters ausglich, und genoss es, wie der
Wind an seinem Gesicht vorüberstrich. Der Boden kam rasend schnell näher,
aber der junge Schwingenreiter empfand keine Furcht und vertraute auf die
Fähigkeiten Showaas. Erneut stieß er einen jauchzenden Schrei aus, als sie
den Sturz dicht über dem Boden abfing und rasch wieder an Höhe gewann.
Das Plateau fiel hinter ihnen zurück, und Anschudar ließ Showaa ihren
Willen. Sie beide sollten diesen ersten gemeinsamen Flug genießen, denn er
würde sie zusammenführen. Der Wind stach wie mit eisigen Nadeln in sein
Gesicht. Es war schmerzhaft, und doch verzichtete Anschudar auch jetzt
darauf, das Klarsteinvisier vor seinen Helm zu klappen. Zu sehr genoss er das
Gefühl der Freiheit, wie es nur ein Schwingenreiter empfand. Hoch oben
zwischen den Wolken, losgelöst von der Mühsal, die mit dem Leben am
Boden verbunden war. Frei von der Enge des Horstes, der seinem Volk
Heimat und sichere Zuflucht vor den Kriegen der anderen Völker war.
Einst hatte auch Anschudars Volk den Boden der fruchtbaren Ebenen von
Rumak bewohnt. Doch dann waren die großen Kriege ausgebrochen, der
Menschenreiche untereinander und der Menschen und Elfen gegen die
Legionen des Schwarzen Lords. Wie mächtige Mühlsteine hatten sie
Anschudars Volk zwischen sich zerrieben, bis sich einige aus ihm der
Finsternis unterwarfen und die letzten freien Rumaker in die Schwarzen
Berge von Uma’Roll flüchteten. Immer höher hinauf, bis in die eisigen
Regionen, wohin ihnen kein Mensch und erst recht kein Ork folgen konnte,
denn die Bestien des Schwarzen Lords erstarrten in der Kälte. Die Handvoll
Überlebender wäre selbst dem Tod geweiht gewesen, wäre sie dort oben nicht
auf den Horst der Lederschwingen gestoßen. Obwohl sie äußerlich so wenig
gemeinsam hatten, fanden sie in einer nahezu symbiotischen Verbindung
zueinander.
Die Flugwesen waren Allesfresser. Sie verschmähten weder Pflanzen noch
Fleisch, begnügten sich aber auch mit Aas. Darin ähnelten sie durchaus den
Menschen, doch sie hatten eine Besonderheit, die sie von allen anderen
Lebewesen unterschied: Ihre Körper waren von großen Hohlräumen
durchzogen. Kammern, in denen Verdauungsgase gesammelt und aufgetrennt
wurden. Ein Teil davon diente dem zusätzlichen Auftrieb, ein anderer Teil als
Brennstoffvorrat. Über eine knöcherne Öffnung unterhalb des Auges konnte
das brennbare Gas ausgestoßen werden. Die schlitzförmigen Pupillen
zusammen mit den beiden Maultentakeln fokussierten den Ausstoß. Dadurch
konnte das Brenngas als diffuse Wolke oder scharf gebündelter Strahl
abgegeben werden. In längst vergangenen Zeiten, als die Lederschwingen
noch von kleinem Wuchs gewesen waren, hatte das Gas dazu gedient, einen
Angreifer durch seinen infernalischen Gestank abzuwehren oder ihn zu
ersticken. Dann hatten die Flugwesen im Zuge der Jahrtausendwenden
gelernt, über ihre Maultentakel winzige Blitze abzusondern, welche das Gas
entzünden konnten. Von da an wagte sich kaum mehr ein Fressfeind an die
Schwingen heran. Wieder viele Jahrtausendwenden später hatten die Wesen
entdeckt, dass die Wirkung des Brennstrahls noch gesteigert wurde, wenn sie
in ihren Maultentakeln Brocken von Gelbstein bereithielten. Ihm entströmten
Substanzen, welche die Wirkung des Brennstrahls auf verheerende Weise
steigerten.
Gelbstein war eigentlich eine flüssige Substanz, die sich in heißen
Tümpeln sammelte und bestialisch stank. An den Rändern der Tümpel oder
wenn diese austrockneten, kristallisierte die Flüssigkeit zu gelben Brocken. Es
fiel den Lederschwingen leicht, diese zu lösen und in ihre Tentakel
aufzunehmen. Aber dann wurden die Tümpel und die Vorkommen des
Gelbsteins seltener, und es wurde immer schwieriger, ihn zu finden. Meist
war er unter der Erde verborgen. Die Lederschwingen konnten ihn riechen,
doch gelang es ihnen kaum, ihn auszugraben. Bis die Menschen zu ihnen
stießen. Nun grub Anschudars Volk für die Flugwesen nach dem Gelbstein,
und die Lederschwingen schützten mit ihrem Brennstrahl den Horst und die
darin lebenden Menschen.
Der Horst selbst war eigentlich kaum gefährdet. Er lag zu weit oben in den
eisigen Gipfeln von Uma’Roll, unerreichbar für jedes Wesen, das nicht
fliegen konnte. Aber zur Suche nach Nahrung und Brennstein musste man
den Gipfel verlassen und in die Ebenen von Rumak hinabsteigen. Nur dort
gab es noch ausreichend Wild. Doch in den Ebenen herrschten schon seit
Langem die Orks des Schwarzen Lords. Solange der Gelbstein den Feueratem
der Lederschwingen verstärkte, waren die Krieger der Finsternis zwar keine
Gefahr. Aber nun, da er selten wurde, hatte der Rat der Schwingenreiter
verkündet, dass man in einigen Jahren wohl eine neue Heimat suchen müsse,
hoch oben im Norden. Für die Schwingen und ihre menschlichen Freunde war
der Norden unbekanntes Land. Dort sollte es Zwerge und Elfen geben und
sogar Menschen, die noch immer im Krieg mit den Orks lagen. Man musste
einen neuen Horst finden, der ebenso unerreichbar in eisigen Höhen lag, und
man brauchte neue Vorkommen von Gelbstein. War beides gefunden,
könnten die Bodenläufer ihre Kämpfe ruhig austragen, denn das Volk der
Lederschwingen bliebe davon unberührt.
Anschudar verlagerte sein Körpergewicht auf den rechten Steigbügel.
Showaa folgte bereitwillig seinem Wunsch und schwenkte in eine leichte
Rechtskurve. Sie gewann zusehends an Sicherheit in ihren Bewegungen. Der
Wind strich nun unangenehm in Anschudars Gesicht, und seine Augen
begannen zu tränen. Den Lenkstab in der Rechten, griff er mit der linken
Hand unter die Kapuze seiner Felljacke. Er spürte die Glätte des Helms, den
alle Schwingenreiter trugen. In den kalten Gefilden, in denen die Schwingen
lebten, waren die sorgfältig geschnitzten und bearbeiteten Holzhelme weit
angenehmer zu tragen als die rasch auskühlenden Metallhelme. Anschudar
tastete nach dem gekrümmten Schild aus Klarstein und klappte es vor seine
Augen. Auch wenn seine Sicht nun leicht verzerrt war, bedeutete es für sie
doch eine Erholung.
Fernab entdeckte er einen winzigen Punkt am Himmel. Es war eine
Schwinge, die in ihrer einsamen Wache um den Horst kreiste. Anschudar
lächelte unmerklich. Nun war er selbst ein Schwingenreiter, und bald würden
solche Streifenflüge ebenfalls zu seinen Aufgaben gehören. Er wandte sich
um, und was er dort sah, gefiel ihm nicht. Dunkle Wolken begannen sich am
Horizont zusammenzuballen, und Anschudar meinte das Leuchten von
Blitzen zu erkennen. Ein Gewittersturm braute sich zusammen, und es sah
ganz danach aus, als würde es ein ungewöhnlich starker werden.
Anschudar mochte keine Gewitterstürme, und für die Lederschwingen
waren sie sogar gefährlich. Wenn ein starker Blitz dicht genug an einem der
Flugwesen entlangfuhr, dann konnte er das Gas in dessen Brennkammern
entzünden, und das Wesen verging in einem Feuerball. Nein, die Schwingen
mieden die Gewitterstürme, und wenn ein solches Unwetter den Horst
bedrohte, zogen sich die Flugwesen in ihre Felsnischen zurück. Daher
beobachtete Anschudar den Gewittersturm mit wachsendem Unbehagen. Die
finstere Wolkenwand wurde größer und kam immer näher. Der junge
Schwingenreiter überlegte. Es sah ganz danach aus, als würde der Sturm das
Gebirge von Uma’Roll erreichen. Das wäre schlecht. Die Blitze entluden sich
meist an den höchsten Gipfeln, und auf dem allerhöchsten lag seine Heimat,
der Horst.
»Zeit, nach Hause zu fliegen, Showaa«, seufzte Anschudar. Er verlagerte
sein Gewicht auf den linken Steigbügel und drückte mit dem Lenkstab gegen
Showaas linke Halsseite.
Die Schwinge stieß einen leisen Schrei aus, und es war offensichtlich, dass
sie froh darüber war, dem Gewittersturm die Schwanzseite zu zeigen.
Instinktiv hatte sie erkannt, dass von der herannahenden und von Blitzen
durchzuckten Finsternis Gefahr ausging. Showaa neigte sich vor und ging in
einen steilen Sturzflug über. Sie gewann an Geschwindigkeit, fing dann ihren
Flug über den unteren Ausläufern des Gebirges ab und stieg mit raschen
Schwingenbewegungen wieder auf. Die Sonne stand in ihrem Rücken, und
Anschudar konnte sehen, wie Showaas Schatten über die Felsen glitt. Für eine
Weile genoss er diesen Anblick, bis ihm bewusst wurde, dass noch ein
anderer Schatten über das Land raste: der Schatten des Gewittersturms, der
sich viel zu schnell näherte. Donner begann die Luft zu erfüllen, und die
Berge des Uma’Roll warfen das Echo vielfach und verstärkt zurück. Es würde
knapp werden.
Vor ihnen tauchte der Horst auf, ein nicht besonders großes Plateau, das in
der Nähe des Geburtsfelsens lag. Auch hier ragte am Rand eine Felsnadel auf,
doch sie war nicht so hoch und lag auch nicht an einem Steilhang, weshalb sie
für den ersten entscheidenden Sturzflug der Schwingen ungeeignet war. Das
Plateau war von einem Wall umgeben, der aus eiförmigen Gebilden bestand.
Ein Teil davon diente den Flugwesen als Unterschlupf, andere waren von den
Menschen ausgebaut und für ihre Bedürfnisse eingerichtet worden. Die
Bauten ähnelten den Eiern der Lederschwingen, waren jedoch wesentlich
größer. Sie bestanden aus Bruchsteinen und einem Ferment der Flugwesen,
welches das Gefüge verband. Die äußere Hülle bestand aus demselben
Material wie die Schale der Eier und trotzte jedem Wetter. Das Innere ihrer
Behausungen hatten die Menschen liebevoll gestaltet, Zwischendecken hatten
sie eingezogen und Türen und Fenster eingesetzt. Das Holz war in
gemeinsamer Anstrengung aus den Tiefebenen heraufgeschafft worden.
Unterhalb der Bauten klebten schalenförmige Gebilde am Fels. In ihnen
wurden Dung und organische Abfälle gesammelt und fermentiert, die
Grundlage für eine bescheidene Getreidezucht. Vier besonders große Schalen
waren rund um den Horst verteilt und dienten der Speicherung von Wasser.
Da sich jedoch die meisten Regenwolken unterhalb des Horstes entluden,
mussten Schnee oder Eis von den Gebirgsgipfeln geholt werden, um sie zu
befüllen. Doch davon gab es reichlich, sodass kein Wassermangel herrschte
und eine der Zisternen den Schwingen sogar als Badegelegenheit diente. An
der Felsnadel befand sich das einzige Gebäude, dessen Beschaffenheit an die
Häuser der anderen Menschenvölker erinnerte. Es hatte eine rechteckige
Grundform und war niedriger als die übrigen Bauten, erstreckte sich aber
stärker in die Breite. Das Dach erinnerte in seiner Form an ausgebreitete
Flugschwingen und war sorgfältig mit Erde und Steinplatten gedeckt. Die
Schwingenreiter nannten es das Arsenal, denn hier bewahrten sie ihre
Ausrüstung, Werkzeuge und die Waffen auf. In einem abgeteilten Raum
befand sich auch das bedenklich schrumpfende Lager mit Gelbstein.
Außer Anschudar und dem Streifenreiter war keine andere Lederschwinge
in der Luft, und sie beide setzten nahezu gleichzeitig auf dem Plateau auf.
Nachdem der andere Reiter seiner Schwinge den Sattel abgenommen hatte,
hastete diese mit wenigen Sätzen zu ihrem Unterschlupf hinüber. Showaa war
unruhig und bewegte ihren langen Hals nervös hin und her, sodass Anschudar
Mühe hatte, den Sattelgurt zu öffnen. Ihre noch weichen Krallen bohrten sich
in den Boden, und die beiden Pupillen suchten instinktiv nach einer Zuflucht
vor dem Unwetter. Ihr Reiter berührte eine der Lenkschwingen ihres Kopfes
und deutete zu einem der künstlich geschaffenen Bauten. »Dort, Showaa.
Dort ist es sicher.«
Das Flugwesen stieß einen heiseren Schrei aus und trabte im wiegenden
Schritt ihrer Art auf das riesige Ei zu. Anschudar hatte Mühe, ihr zu folgen.
Normalerweise hätte er sich bei den anderen Schwingenreitern im Arsenal
eingefunden, aber Showaa war gerade erst geschlüpft und daher unerfahren.
Der Horst war ihr noch fremd, und so versuchte ihr Reiter, das nervöse Wesen
zu beruhigen.
Die Donnerschläge hallten übermächtig und schmerzten in den Ohren.
Schatten der Wolken hatten den Horst der Lederschwingen erreicht und
hüllten ihn in Dunkelheit. Eine Finsternis, die immer wieder vom grellen
Aufflackern eines Blitzes erhellt wurde. Anschudar drängte Showaa in ihren
Unterschlupf und strich ihr besänftigend über die Lenkschwingen. Die beiden
Schlitzpupillen in ihrem Auge schienen aufeinander zuzulaufen und dann
wieder auseinanderzustreben. Anschudar kannte dieses Anzeichen der Angst.
Instinktiv versuchte das Flugwesen, die Gefahr zu fokussieren, um ihren
Brennstrahl auszulösen, obwohl sie spürte, dass ihre Macht dem
Gewittersturm nicht gewachsen war.
»Ganz ruhig, Showaa, ganz ruhig«, schrie Anschudar gegen den Lärm des
Sturms an. »Es wird bald vorüber sein. Dir wird nichts geschehen.«
Der junge Schwingenreiter spähte durch die Öffnung des Unterschlupfes
über das Plateau hinweg. Es war ein ungewöhnlich schwerer Sturm, und die
Blitze zuckten waagrecht und senkrecht durch die Wolken, als wollten sie ein
Netz aus gleißendem Licht in die Dunkelheit weben. Es war noch kälter
geworden, doch es blieb trocken. Die Wolken regneten schon in den tieferen
Gebirgsregionen ab. Anschudar konnte das Gewitter riechen und ebenso die
Furcht der unerfahrenen Schwinge. Showaa legte ihren riesigen dreieckigen
Kopf an seinen Leib und hätte ihn beinahe zu Fall gebracht. Unbewusst strich
er mit der Handfläche über ihre Haut. Trotz der ledrigen Schuppen fühlte sie
sich glatt und angenehm warm an.
Anschudar zuckte zusammen, als ein Blitz in die Felsnadel fuhr.
Blauweiße Flammen umhüllten den Stein und wanderten daran hinunter. Erst
kurz über dem Dach des Arsenals verloren sie an Kraft. Der junge
Schwingenreiter biss die Zähne aufeinander. Es war ein heftiger Einschlag
gewesen, und es hätte nicht viel gefehlt, und der Blitz hätte sogar das Arsenal
erreicht. Das war noch nie zuvor geschehen, und Anschudar fragte sich, was
wohl passieren mochte, wenn das Gebäude getroffen würde.
Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gesponnen, als es tatsächlich
geschah.
Es waren zwei Blitze, die aus verschiedenen Richtungen herabfuhren, sich
über der Felsnadel vereinten und sich erneut trennten. Irrlichtern gleich
umtanzten sie den Felsen. Rasend schnell glitten sie tiefer, und direkt über
dem Arsenal vereinten sie sich zu einer krachenden Entladung. Das Bauwerk
erstrahlte in bläulichem Licht, und Funken spritzten über den Boden des
Plateaus.
Von Entsetzen und Faszination gleichermaßen erfüllt, starrte Anschudar
auf Lichterbahnen, die vom Arsenal auszugehen schienen und wie die
Strahlen der Sonne auf die Bauten am Rand des Plateaus zuschossen. Der
junge Schwingenreiter war wie gelähmt, er bemerkte kaum, wie Showaa sich
an die Rückwand des Unterschlupfes presste. Doch er spürte die plötzliche
Hitze um sich, als die Lederschwinge unbewusst ihren Flammenatem
ausstieß. Zum Glück waren ihre Brennkammern noch nicht gefüllt, und sie
trug auch keinen verstärkenden Gelbstein, sodass die flüchtig aufflackernde
Flamme nur den Rücken seiner Jacke versengte. Dann erlosch sie, ebenso wie
das Tanzen der Blitzfunken auf dem Plateau. Jetzt, nachdem der grelle
Lichtschein erloschen war, wurde ein gelbes Glühen sichtbar, das von einer
Seite des Arsenals auszugehen schien. Das Gelb wandelte sich zu einem
giftigen Grün, während die Tür des Gebäudes aufflog. Eingehüllt von dichten
Rauchschwaden, quollen mehrere Männer aus der Öffnung hervor.
Schwingenreiter, die versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Erst jetzt
erkannte Anschudar, dass der Doppelblitz die Vorräte an Gelbstein getroffen
hatte.
Die Schwingenreiter rannten in verzweifelter Hast, denn wenn die Hitze
des Feuers zu groß wurde, würden die Gelbsteine explosionsartig zerbersten.
Die Männer hatten kaum die halbe Strecke zu den Randbauten überwunden,
als das Dach des Arsenals zersprang. Steinquader, Holz und undefinierbare
Fragmente sprühten, einem Vulkanausbruch ähnlich, in den Himmel. Auch
Anschudar spürte den warmen Hauch des Explosionswindes, aber die meiste
Energie entlud sich nach oben. Als sei der Gewittersturm mit dem
angerichteten Unheil zufrieden, rissen mit einem Mal die finsteren Wolken
auf, und unvermittelt überflutete wieder warmes Sonnenlicht das Plateau. Für
einen Moment herrschte eine merkwürdige Stille. Nur hier und da erklang das
Pochen von Trümmern, die auf dem Boden des Plateaus aufschlugen.
»Sind alle in Sicherheit?« Mordeschdars laute Stimme tönte durch den
Horst. »Sind alle aus dem Arsenal entkommen?«
»Arsenal? Welches Arsenal?« Die wütende Stimme trug einen Unterton
der Verzweiflung. Palschudar, einer der älteren Schwingenreiter, deutete
grimmig zu den Trümmern hinüber. »Seht es euch an, unser Arsenal! Bei den
tiefsten Abgründen der Schmieden von Cantarim, unsere gesamten Vorräte an
Gelbstein sind dahin!«
»Beruhigt euch, Schwingenreiter.« Mordeschdar räusperte sich. »Lasst uns
erst sehen, was noch zu retten ist. Das Feuer hat vielleicht nicht alles
verschlungen.«
Zwei, drei der Lederschwingen reckten ihre langen Hälse aus den
Randbauten, und die dreieckigen Köpfe pendelten unruhig hin und her.
Gewitterstürme waren das Einzige, was diese Wesen fürchteten, und nun, da
die Gefahr vorüber war, drängten sie wieder ins Freie. Einige von ihnen
breiteten sofort die Flugschwingen aus und erhoben sich in die Luft, sichtlich
froh, der Enge des Unterschlupfes entkommen zu sein.
Mordeschdar sammelte die Schwingenreiter um sich, und Anschudar folgte
dem Wink des Anführers. Frauen und Kinder traten aus ihren Bauten und
bewegten sich zu den Vorratsgebäuden, um zu prüfen, ob es auch dort
Schäden gegeben hatte. Die Aufmerksamkeit der Männer galt allein dem
Arsenal, in dem sich der größte Teil des Gelbsteins befunden hatte. Die
Flammen und der Rauch, die über der Ruine aufstiegen, verhießen nichts
Gutes. Die Hitze war zu groß, um nahe herantreten zu können, und so klappte
Anschudar das Klarsteinvisier seines Helmes vors Gesicht. Nur um die
ungeschützte Mundpartie verspürte der junge Schwingenreiter das Brennen
der hohen Temperaturen und hielt schützend einen Arm davor.
Palschudar sah Anschudar düster an. »Du hattest Glück. Dein Helm, dein
Sattel – sie sind verschont geblieben.«
Mordeschdar nickte. »Verdammt. Ich hätte nicht geglaubt, dass ein
Gewittersturm uns so viel Leid bringen könnte. Die meisten Waffen und
Ausrüstungen verbrennen nun, ebenso wie der kostbare Gelbstein.«
»Hier ist ein Riss in der Seitenwand«, rief ein anderer. »Ich glaube, ein
paar Sachen können wir noch retten.«
»Lasst es uns wenigstens versuchen«, brummte der Schwingenführer.
»Aber seid vorsichtig. Solange es brennt, kann der Gelbstein zerspringen, und
die Wände sind durch die Flammen aufgeheizt, sie haben sich verschoben.
Gebt acht, dass der Bau nicht einstürzt.«
Das Arsenal hatte aus zwei großen Räumen und einem
dazwischenliegenden Flur bestanden. Das Lager für den Gelbstein war
verloren, und von der Ausrüstung und den Waffen der Schwingenreiter ließ
sich nur wenig bergen und noch weniger wieder verwenden.
»Das Unglück hat unser Volk getroffen«, stellte Mordeschdar seufzend
fest. »Waffen, Helme, Sättel und all das andere, das können wir wieder
ersetzen. Es wird Zeit brauchen, aber unsere Vorräte reichen dafür aus. Doch
der Verlust des Gelbsteins ist wahrhaftig bedrohlich.«
»Wir sollten Feedanaa fragen«, schlug Palschudar vor.
»Ja, das sollten wir tun«, stimmte Mordeschdar zu. »Die Herrin des
Horstes wird Rat wissen.«
Feedanaa.
Niemand vermochte zu sagen, wie alt sie war. Die Farben ihres
Lederkleides waren stumpf geworden und die Flugschwingen dünn. Feedanaa
hob sich nur noch sehr selten in die Lüfte und dann nur für einen kurzen Flug.
Die Krallen an ihren beiden Füßen waren abgenutzt, und das dunkle Horn war
rissig. Sie zog eines ihrer Beine unmerklich nach, die Folge einer
unglücklichen Landung und eines schlecht verheilten Knochenbruchs. Aber
ihr Verstand war noch immer scharf, und all ihre Sorge galt ihren Kindern.
Für Feedanaa spielte es keine Rolle, ob sie aus einem Ei geschlüpft oder aus
einem Schoß geboren waren. Die alte Lederschwinge war etwas ganz
Besonderes, denn sie besaß die Fähigkeit, die Laute der Bodenläufer zu
formen. Es war ein Phänomen, das bislang bei keiner anderen Schwinge
aufgetreten war. Die Herrin des Horstes benutzte manche eigenen Begriffe
und bildete oft keine ganzen Sätze, aber die Menschen des Horstes hatten sich
daran gewöhnt und lauschten aufmerksam auf das, was die Herrin zu sagen
hatte.
Feedanaa hatte sich im Hintergrund gehalten und aufmerksam beobachtet.
Auf dem Plateau schien Chaos zu herrschen, denn die Menschen rannten
umher, um die Schäden zu begutachten, und die Schwingen waren nervös, da
sie spürten, dass etwas Unangenehmes geschehen war.
»Geht langsam und gemessenen Schrittes«, befahl Mordeschdar den
Schwingenreitern. »Hast wäre ein Zeichen mangelnden Respekts vor der
Herrin. Wir sind keine kleinen Kinder, die aufgeregt zu ihrer Mutter laufen.«
Die Männer zwangen sich dazu, langsam zu gehen, und hielten im
richtigen Abstand, verneigten sich respektvoll und überließen es dann ihrem
Schwingenführer, der Herrin zu berichten.
Feedanaa hörte aufmerksam zu. Ihre Pupillen glitten auseinander und
betrachteten das qualmende Arsenal. Die Flammen begannen in sich
zusammenzufallen. Dann fixierte die alte Lederschwinge Mordeschdar.
»Brennen der Baumköpfe … nicht schlimm. Brennen der Stechmetalle …
nicht schlimm.« Die Verluste der Helme und Waffen der Reiter beunruhigte
Feedanaa nicht sonderlich. »Brennen von Gelbstein für Feueratem … sehr
schlimm. Alles gebrannt?«
Mordeschdar strich sich mit der Hand über das Kinn. »Fast alles, Herrin
des Horstes. Etwas Gelbstein ist noch bei den Randbauten, und wir haben
noch einen Korb, der frisch geschürft, aber noch nicht bearbeitet ist.«
»Nicht viel.«
Der Schwingenführer seufzte. »Nein, das ist nicht viel. Es reicht nicht für
alle Schwingen. Nur für ein paar Streifenflüge zum Schutz des Horstes und
für den Feueratem von drei oder vier Lederschwingen.«
»Wenig Gelbstein … wenig Zeit.« Der dreieckige Kopf pendelte auf dem
langen Hals vor und zurück, während Feedanaa intensiv nachdachte. »Horst
muss gehen Norden … viel früh. Menschfreund fliegen Schwinge Nord.
Suchen Gelbstein. Schnell. Freund Schädelkopf … nicken oder schütteln?«
»Ich nicke und stimme dir zu, Herrin des Horstes.« Mordeschdar nickte
bestätigend. »Unsere Lage ist ernst. Wir haben nicht genug Gelbstein, um
unseren Horst zu verteidigen. Nicht genug, um in der Ebene zu jagen und
unseren Jägern Schutz zu bieten. Wir brauchen neue Gelbsteinvorkommen.
Neue Quellen.«
Feedanaa nickte. Sie hatte die menschliche Geste übernommen. »Brauchen
neue Quellen. Rasch.«
»Mit Anbruch des kommenden Tages wird die Expedition in den Norden
beginnen«, versicherte Mordeschdar.
Die Schwingenreiter verneigten sich erneut und zogen sich dann zurück. In
der Nähe des zerstörten Arsenals berieten sie sich untereinander.
»Das verfluchte Unwetter hat unsere Pläne zunichtegemacht«, knurrte
Palschudar missmutig. »Wir wollten den Norden erst in zwei oder drei
Jahreswenden erkunden.«
»Nun brechen wir eben etwas früher auf.« Mordeschdar hakte die Daumen
hinter seinen Leibgurt und wippte leicht auf den Fersen. »Im Grunde macht es
keinen großen Unterschied.«
»Den macht es wohl«, warf ein anderer ein. »Wir brauchen mehrere
Schwingen, um das nördliche Gebirge auszukundschaften und dort nach
Gelbstein zu suchen. Mehrere Schwingen und viel Zeit. Die Tiere müssen tief
in die Gebirgsschluchten vordringen, denn sie riechen den Gelbstein nur auf
geringe Entfernung. Das braucht seine Zeit.«
»Und während sie schnüffeln«, ergänzte Palschudar, »müssen andere
Schwingen sie mit ihrem Feueratem schützen.«
»Dafür ist nicht genug Gelbstein übrig«, stellte Mordeschdar mit leiser
Stimme fest. »Zumal wir noch den Horst sichern müssen. Ihr kennt Feedanaa.
Auch wenn uns hier eigentlich keine Gefahr droht, legt sie Wert darauf, dass
er immer gut geschützt ist.«
Palschudar sah den Schwingenführer skeptisch an. »Schön. Wie viele
Schwingen willst zu entsenden?«
»Eine«, knurrte Mordeschdar.
»Eine?«
Der Schwingenführer nickte. »Jene, die am besten dafür geeignet ist. Die
mit dem besten Geruchssinn.«
»Den haben die Jungen«, sagte ein Reiter lakonisch.
»So ist es.«
Die Männer sahen Anschudar an, und der junge Schwingenreiter begriff.
»Ich?«
»Nein, Showaa«, korrigierte Mordeschdar und lächelte knapp. »Sie ist
unbestreitbar die Jüngste. Aber da du ihr Schwingenreiter bist, wirst du sie
begleiten.« Der Schwingenführer legte eine Hand auf die Schulter des
überraschten Jungen. »Es wird ein großes Abenteuer für dich und deine
Showaa werden. Du musst das nördliche Gebirge erkunden und nach
Gelbstein suchen. Das bedeutet eine große Verantwortung für dich und
Showaa. Eine Verantwortung für die Zukunft unseres Volkes,
Schwingenreiter.«
Anschudar nickte benommen. »Dann werden wir sie auf uns nehmen.«
Mordeschdar sah unbewusst nach Norden. »Ein fremdes und vielleicht
feindliches Gebirge, junger Schwingenreiter. Dort gibt es Bodenläufer.
Angeblich sollen einige von ihnen auf Pferden reiten. Aber das ist sicherlich
nur eine alte Legende.«
»In jedem Fall wird es dort Orks geben«, meinte Palschudar. »Diese Brut
der Finsternis hat sich ja überall ausgebreitet.«
Anschudar nickte. »Ich werde vorsichtig sein und auf Showaa achten.«
»Dann nutze Wind und Schwingen, Anschudar«, sagte Mordeschdar
freundlich.
»Nutze Wind und Schwingen«, stimmten die anderen Schwingenreiter ein.
Am kommenden Morgen würden Anschudar und Showaa aufbrechen.
Nach Norden. Der Fremde entgegen. Um nach der Zukunft des Horstes zu
suchen und vielleicht den Tod zu finden.