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Der mittelalterliche Weihnachtsmarkt

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„Aber nach Karlsruhe fahren wir heute nicht“, sagt Natalie, als ich sie in meine Pläne einweihe, „dann müssten wir ja wieder an der schrecklichen Stelle vorbei.“

„Aber nein“, kann ich sie beruhigen, „wir nehmen heute auch nicht den Zug. Ich würde sagen, wir fahren heute einfach mit dem Auto nach Sankt Wendel, dort ist ein mittelalterlicher Weihnachtsmarkt.“

Damit kann ich bei der ganzen Familie punkten. So fahren wir zusammen in das saarländische Städtchen, während die Schneeflocken weiter vom Himmel tanzen.

Auf dem wunderschönen Markt vergnügen wir uns vorzüglich. Da sind die mittelalterlich gekleideten Händler, die ganz außergewöhnliche Dinge, wie Langgürtel mit den passenden Taschen oder Schwerter und Dolche anbieten. Dann präsentieren sich auch Handwerker, welchen wir auf die Finger schauen können. In den vielen Mitmachwerkstätten schmiedet sich Maik sein eigenes Messer aus einem Stück Roheisen und Quenni filzt sich einen kleinen Weihnachtsmann. Es ist einfach schön, die Familie so happy zu sehen.

Nun bleiben wir vor der Bühne stehen, auf der mittelalterliche Musik geboten wird. Sehr beeindruckend, dass die Dudelsackbläser trotz der Kälte mit ihrem Kilt und nackten Knien am Musizieren sind.

Auf einem freien Platz, nur ein kleines Stück weiter, zeigt ein Zauberer sein Können. Schwuppdiwupp lässt er einen meiner Euros, was er allerdings Goldrandtaler nennt, in seiner Hand verschwinden, um ihn dann hinter Maiks Ohr wieder erscheinen zu lassen.

Als nächstes zieht uns ein Gaukler in seinen Bann. Sehr geschickt jongliert er mit drei Möhren, anschließend zeigt er allerhand Tricks mit leuchtenden Kugeln. Zum Schluss seiner Show schluckt er auch noch einen Säbel, wobei ihm Natalie nicht zuschauen kann, da sie Angst hat, er würde sich dabei verletzen.

Bei solch einer guten Unterhaltung vergessen wir total die Zeit und so ist es schon deutlich nach zweiundzwanzig Uhr, als wir wieder zum Auto laufen. Der Schneefall hat etwas nachgelassen und am Himmel kann man vereinzelt ein paar Sterne erkennen.

So fahren wir auf der A62 der Heimat entgegen. Bei Thaleischweiler-Fröschen verlassen wir die Autobahn, um über die L497 die ländliche Route zur B10 in Richtung Landau zu nehmen. Kaum bin ich von der Autobahn runter, haben wir die gewaltige Brücke vor uns, die wir soeben noch überfahren haben.

„Schau mal!“, ruft Maik plötzlich von der Rückbank. „Da fliegt ein Müllsack von der Brücke.“

Im gleichen Moment sehe ich auch etwas, das auf dem Boden aufschlägt. Allerdings war die Fallgeschwindigkeit für einen banalen Müllsack deutlich zu hoch. Instinktiv halte ich an, um nachzusehen, was dies war. Mein Bauchgefühl lässt mich meine Familie beschwören, auf jeden Fall im Auto sitzen zu bleiben. Ich lasse auch den Motor laufen, damit sie es schön warm haben.

Während ich die große Taschenlampe aus dem Kofferraum hole, damit ich nicht wie gestern mit dem Handy leuchten muss, spielt das Radio weiter unsere Twisted-Sister-Weihnachts-CD. Hinter einer Dornenhecke liegt ein großes Stück Brachland, auf dem man in der dünnen Schneedecke auch gleich den dunklen Fleck ausmachen kann. Schon von hier aus kann ich erkennen, dass es sich dabei keineswegs um eine Mülltüte handelt. Was da ein paar Meter von mir entfernt liegt, ist ein menschlicher Körper. Nun hole ich doch mein Handy heraus und wähle einfach die eins eins null. Ich will ja nicht schon wieder Timo aus seinem verdienten Feierabend holen und an den Anblick einer Leiche gewöhne ich mich allmählich auch, so traurig es klingt.

Da ich in meiner Laufbahn reichlich von diesen Notrufen entgegengenommen habe, gebe ich routiniert alles durch, was die Pirmasenser Kollegen wissen müssen. Nun schau ich mir den Leichnam etwas genauer an. Schon wieder ein Farbiger. Komisch, wieso finde ich nur farbige Selbstmörder? Bei diesem stehen die Gliedmaßen in alle erdenklichen Richtungen vom Körper ab. Sieht schon grauslich aus, so eine Leiche mit dem Bein gleich neben dem Ohr. Der Mann scheint nicht sehr groß gewesen zu sein, könnte aber auch sein, dass der Körper beim Aufprall zusammengestaucht wurde. Dies sind alles schon wieder Bilder, auf die ich getrost verzichten könnte.

Da ich hier nichts mehr ausrichten kann, gehe ich zum Auto zurück, in dem meine Kinder das Radio auf volle Lautstärke gedreht haben. »Let it snow« gröhlt Dee Snider, der Twisted Sister Sänger mit der blonden Mähne aus den Lautsprechern. »Lass es schneien«, denke ich mir auch, damit der grausige Anblick hinter der Hecke überdeckt wird. Ich weiß zwar nicht was, aber irgendetwas zieht mich wieder dorthin. Aus irgendeinem Grund muss ich noch einmal nachschauen und wie ich da stehe, muss ich feststellen, dass hier tatsächlich etwas nicht stimmt. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Nur, was da nicht stimmt, kann ich nicht sagen. Es wird mir hoffentlich noch einfallen. Vielleicht fällt es auch einem der Kollegen auf, die jetzt mit reichlich Tatütata angefahren kommen. Ich gehe zur Straße, um die Herren in Empfang zu nehmen.

Kaum bin ich beim Auto angekommen, steht auch schon Natalie an meiner Seite und fragt mich aufgebracht: „Dieter, was hat das denn schon wieder zu bedeuten?“

„Nichts was du wirklich wissen willst, mein Schatz“, gebe ich ihr wahrheitsgemäß zur Antwort, denn eins habe ich in meinem Leben gelernt, belüge niemals deine Frau.

„Nicht schon wieder?“, sagt diese mit entsetztem Blick.

„Doch schon wieder!“, erwidere ich meiner Gattin mit einem Nicken.

„Und was soll ich nun den Kindern erzählen?“, will sie nun wissen.

„Erzähle ihnen doch irgendwas, zum Beispiel, dass in dem Müllsack irgendein Giftmüll wäre oder so.“

Dee Snider singt inzwischen »Home for Christmas« und ich hoffe auch, dass ich noch vor Weihnachten zu Hause bin. Mir macht es zumindest keinen Spaß, täglich eine Leiche zu finden. Am besten, ich verlasse das Haus nicht mehr.

„Haben Sie den Leichnam entdeckt?“, spricht mich der erste uniformierte Beamte an, der umständlich aus einem Streifenwagen klettert.

„Ich wünsch Ihnen ebenfalls einen wunderschönen Abend“, sag ich provokativ, um den Kollegen auf seine Unfreundlichkeit aufmerksam zu machen. „Ja, ich habe die Polizei per Notruf alarmiert.“

„Und wo liegt der Kadaver?“, vergreift sich der Mann immer mehr im Ton. Das ist in meinen Augen ein Mensch wie jeder andere, nur, dass er eben tot ist. Ob man so jemanden auch als Kadaver bezeichnet, entzieht sich meiner Kenntnis, aber ich bin der Meinung, dass dieser Begriff ausschließlich für die Tierwelt bestimmt ist.

Nichtsdestotrotz führe ich die Herren am Dornenstrauch vorbei zum Fundort. Die Polizisten fangen auch gleich damit an, die Leiche nach Papieren abzutasten.

„Moment“, sage ich, „kommt da nicht erst einmal die Spurensicherung? Schließlich beinhaltet das Wort Selbstmord ja auch das Wort Mord.“

„Was sind denn Sie für ein Klugscheißer?“, meint der unfreundliche Mann von vorhin.

Nun hole ich meinen Dienstausweis aus der Tasche und sag wie automatisch: „Ich bin Kriminaloberkommissar Dieter Schlempert und ich verlange, dass hier zumindest alles ordentlich fotografiert wird.“

„Der Schlempert?“, blafft er mir entgegen. „Der von Neustadt? Mit Verlaub, aber Ihren Namen kann ich nicht mehr hören! Er hängt mir sogar zum Hals heraus, der Name. Bei uns auf der Dienststelle heißt es immerzu: »Warum läuft das beim Schlempert und bei uns nicht? Schlempert hinten, Schlempert vorne, Schlempert, Schlempert, Schlempert!« Mein Chef scheint ganz vernarrt in Sie zu sein.“ Nun wendet er sich seinen Kameraden zu und ruft: „Ihr habt gehört, was der Oberkommissar Schlempert gesagt hat, ihr macht jetzt erst einmal Bilder und das aus allen erdenklichen Richtungen!“ Nun dreht er sich wieder zu mir und meint: „Recht so, Herr Schlempert?“

„Schon viel besser! Habt ihr auch schon oben auf der Brücke an der Absprungstelle nachgeschaut, ob es da etwas zu sehen gibt?“

Abermals dreht sich der Mann seinen Kollegen zu und ruft: „Schuncke und Schmadke, ihr zwei fahrt mal hoch auf die Brücke und schaut, ob es da etwas zu sehen gibt.“

„Können Sie mir erklären, weshalb Sie ihren Job so lustlos ausführen?“, spreche ich jetzt den Mann direkt auf sein Fehlverhalten an.

„Lustlos?“, ist er nun verblüfft. „Ich hab einfach keinen Bock mehr, alle paar Tage hierherzufahren und einen Fleischberg zusammenzukratzen. In meinem nächsten Leben mach ich hier unter der Brücke ein Bestattungsunternehmen auf. Das wäre sozusagen eine Lizenz zum Gelddrucken.“

Dabei fällt mir doch gleich der Korbinian Jansen ein Straßenbauingenieur ein, der auch bei Annweiler eine gewaltige Hochtrasse bauen lassen möchte, um den B10-Ausbau so umweltverträglich, als nur möglich zu gestalten. Witzig dabei ist nur, dass ein Umweltverband, die »Initiative zum Erhalt vom Pfälzer Wald«, vor einem Suizid-Tourismus gewarnt hat. Dass es so etwas gibt, hatte ich bisher nicht geglaubt. Hier scheint es jedoch tatsächlich so etwas zu geben.

Dann hätten wir das auch geklärt. Wenn ich nun noch wüsste, was hier nicht zusammenpasst. Aber auch dies wird mir noch einfallen.

Nun, wo sich die Aufregung gelegt hat, beginne ich zu frieren. Zudem müssen die Kinder morgen zur Schule und da ist es nicht ratsam, dass sie nun kurz vor Mitternacht noch im Auto sitzen und mit Twisted Sister zusammen Weihnachtslieder grölen.

So vergewissere ich mich noch, dass die Leiche ordnungsgemäß bei der Pathologie untergebracht wird und trete dann den Heimweg an. Meine Kinder sind fröhlich, meine Frau besorgt und ich in Gedanken. Mit diesen unterschiedlichen Stimmungen kommen wir daheim an und klettern in unsere Betten.

Süßer die Schellen nie klingen!

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