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Besuch beim Doktor Kleinhardt

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Heute, am frühen Montagmorgen, sitze ich ohne Frühstück im Bauch im Büro hinter einem Aktenberg. Timo hatte mich pünktlich abgeholt und davon überzeugt, dass mir die Abwechslung im Büro etwas gut tun würde. Einen Fall für die Mordabteilung gibt es zurzeit glücklicherweise nicht. Zumindest kann ich ja zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, dass es den eigentlich schon gibt. Aber schön der Reihe nach:

Da wir also kein Kapitalverbrechen aufklären müssen, haben wir uns der Abteilung »Organisiertes Verbrechen« zur Unterstützung angeschlossen. Die beißen sich derzeit an einer Einbruchsserie die Zähne aus. In den letzten zwei Wochen wurden im Umkreis täglich gut situierte Menschen brutalst ausgeraubt, immer nach dem gleichen Muster: Die drei vermummten Täter überfallen ihre Opfer, während diese gerade ihr Haus betreten. Einmal im Gebäude, fordern sie unter Androhung von Gewalt und mit vorgehaltener Waffe Geld und Wertgegenstände. Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, schlagen sie dann auch gerne einmal heftig zu. Einige der meist im Rentenalter befindlichen Opfer mussten sogar stationär im Krankenhaus behandelt werden. Das Fluchtfahrzeug, ein dunkelgrauer Van, wird immer erst kurz vor den Überfällen mit frisch gestohlenen Kennzeichen versehen.

Ich finde es schrecklich, mich durch einen Aktenberg zu kämpfen. Ich schreibe und lese nicht gerne, eine Buchhandlung betrete ich höchstens aus ermittlungstechnischen Gründen. Den Schreibkram im Büro erledigt glücklicherweise mein Kollege Timo. Vor ein paar Monaten wurde er dabei noch von Laura Schmitt unterstützt, die wir eigentlich immer Lara, nach der Lara Croft, aus dem Computerspiel Tomb Raider nannten. Wenn es ein lebendes Ebenbild der Computeramazone gab, dann war es Laura. Immer sportlich und figurbetont war sie gekleidet. Topfit und durchtrainiert, ohne nur ein Gramm sichtbaren Fetts. Sie hatte immer, wirklich immer, die Dienstwaffe am Körper. Ich glaube manchmal, dass sie ihre Knarre selbst unter der Dusche trug. Allerdings hatte sie zwischenzeitlich den Polizeidienst quittiert, um für die Gerechtigkeit im Dienste der Fremdenlegion zu kämpfen. Dort hat es ihr beim ersten Einsatz beide Beine abgerissen. So habe ich beim zuständigen Innenministerium Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um sie wieder in mein Team zu bekommen. Nun sitzt sie in meinem Büro an ihrem Arbeitsplatz. Ich habe auch schon einen Aufzug beantragt, um unsere Dienststelle behindertengerecht zu gestalten.

Da ich nun der Meinung bin, etwas frische Luft zu benötigen und mein Dienstwagen zu Hause im Hof parkt, beauftrage ich Timo, mich ins Städtische Klinikum zu fahren. Dort möchte ich gerne mit einem der Überfallopfer persönlich sprechen. Timo kann bei der Gelegenheit auch gleich den von mir ungeliebten Schreibkram übernehmen und Protokoll führen. Eigentlich ist ja Timo mein offizieller Vertreter und somit sollte einer von uns beiden immer im Büro präsent sein, aber in diesem Ausnahmefall übernimmt diesen Job mal Laura, denn sie kann ja aus verständlichen Gründen das Büro nur beschwerlich verlassen. Nachdem ich mit dem Opfer geredet habe, kann Timo mich ja dann auch am Landauer Bahnhof absetzen, damit ich Natalie unseren Van nach Waldrohbach bringen kann, um den Dienstwagen wieder in meine Obhut zu nehmen.

Aber nun geht es zuerst einmal ins Neustadter Klinikum. Dort besuchen wir Herrn Doktor Kleinhardt, der vor zwei Tagen vor seinem Haus überfallen und dann in seinem Flur niedergeschlagen wurde.

Ein sehr betagter Mann, der sich allerdings aus Eitelkeit die Haare von rechts nach links über die Kopfhaut gekämmt hat. Allzu viel Sinn macht dies allerdings nicht, da seine Tonsur durch das strähnige Haar deutlich zu erkennen ist. Sicherlich hat er sich einer privaten Krankenversicherung angeschlossen, denn er liegt im Seidenpyjama in einem Einzelzimmer.

„Guten Tag, Herr Doktor“, begrüße ich ihn so, wie es mir meine Mutter beigebracht hat. »Mein Junge«, sagte sie immer, »der Titel steht immer über dem Namen.« Glücklicherweise sagen die meisten Leute »Herr Schlempert« oder einfach »Dieter« zu mir und nicht »Herr Oberkommissar«. Aber ein »Doktor« ist schon ein besonderer Titel und so rede ich den Mann auch als solchen an: „Mein Name ist Dieter Schlempert und ich komme von der hiesigen Kriminalpolizei.“

„Ach, die Polizei ist auch schon da“, sagt er sichtlich verärgert, aber mit starker Stimme, „hat auch lange genug gedauert.“

„Entschuldigen Sie“, entschuldige ich mich, „aber wenn wir Sie nicht besuchen, heißt das ja nicht, dass wir in Ihrem Fall nicht ermitteln.“

„Na, dann will ich mal Gnade vor Recht ergehen lassen. Wie weit sind denn Ihre Ermittlungen fortgeschritten?“

„Ja, die haben sich als schwierig erwiesen. Fest steht, dass es sich um eine ganze Raubüberfallserie handelt. Die Täter lauern ihrem Opfer auf, warten ab, bis diese die Alarmanlage deaktiviert haben und schlagen dann mit äußerster Brutalität zu“, umschreibe ich den Umstand, dass wir noch absolut im Dunkeln tappen.

Da Timo inzwischen seinen Laptop hochgefahren hat, kann ich nun mit dem offiziellen Teil der Befragung beginnen.

„Herr Doktor, bitte erzählen Sie einfach, was vorgestern Abend genau passiert ist.“

„Also, ich kam gegen zwanzig Uhr nach Hause und stellte mein Auto wie immer in der Garage ab. Dann ging ich zur Tür und deaktivierte die Alarmanlage. Anschließend öffnete ich die Haustür. In diesem Moment kam eine vermummte Gestalt aus dem Heckenzaun, der den Hofbereich zum Garten hin abtrennt. Er drückte mich zur Tür hinein und zwei weitere ebenfalls vermummte Gestalten kamen hinterhergestürmt. Einer von den dreien begann gleich damit, mich mit Tritten zu attackieren und forderte die Herausgabe meiner Wertgegenstände. Nachdem ich mich weigerte, ihnen mein Hab und Gut auszuhändigen, schlug dieser mir in die Magengegend. Dann wurde es mir schwarz vor Augen. Als ich wieder zu mir kam, hatten die drei Männer schon mein ganzes Haus durchsucht und den Schmuck meiner Frau an sich genommen. Anschließend zwangen sie mich, meinen Tresor zu öffnen und nahmen auch noch mein ganzes Bargeld und das Gold, das ich als Wertanlage dort deponiert hatte, mit.“

Nun macht der Alte eine Pause, um an seinem Tee zu trinken. Timo freut sich darüber, denn mit einem solchen Redetempo, welches Herr Kleinhardt an den Tag legt, kann er beim Protokollieren kaum mitthalten.

„Ist Ihnen etwas auffallen, irgendetwas, das Sie außergewöhnlich fanden?“, versuche ich den Doktor zum Weiterreden zu verleiten.

„Außergewöhnlich? Für gewöhnlich werde ich nicht überfallen. Um genau zu sein, war dies mein erstes Mal.“

„Ich meine ja nur, vielleicht ist Ihnen ja etwas aufgefallen, ein Tattoo oder ein Dialekt oder sonst etwas?“

„Jetzt, wo Sie es sagen, der eine gab sich zwar Mühe dialektfrei zu sprechen, aber es schlug deutlich durch, dass er ein Einheimischer war, während die beiden anderen nicht einen Laut von sich gaben.“

Nun gönnt er sich wieder etwas Tee. Ich denke auch, dass wir nun hier fertig sind.

Als der Doktor bemerkt, dass wir aufbrechen wollen, sagt er noch: „Einen Moment bitte“, und schon sind wir wieder aufmerksam, „komisch fand ich auch, dass, nachdem sie wirklich nur Schmuck, Geld und Gold mitgenommen hatten, plötzlich einer der Schweigsamen auch noch den Fernsehapparat hinausgeschleppt hat.“

Nun verabschieden wir uns aber endgültig und fahren nach Landau. Nachdem ich dann zu Hause unseren Familienvan gegen den Mini ausgetauscht habe, komme auch ich wieder im Büro an.

Zuerst vergleiche ich mal die Aussage von unserem Doktor mit denen der anderen Opfer. Mir fällt dabei auf, dass überall nur einer der Täter gesprochen hat. Zwei weiteren fiel auch der Pfälzer Einfluss bei der Sprache des gewalttätigen Haupttäters auf. Und immer wieder ging ein Haushaltsgegenstand mit, hier eine Waschmaschine, da eine Küchenmaschine und so weiter. Ansonsten gleichen sich die Überfälle wie ein Ei dem anderen, immer nur Schmuck, Gold und Bargeld. Und immer nur gut situierte Senioren, die vorher anscheinend gut ausspioniert wurden.

Per Mail ist inzwischen auch der Bericht von Martin Schneider zu dem Selbstmord eingetroffen. Alles scheint so, wie ich es auch schon an Ort und Stelle vermutet hatte. Keine Auffälligkeiten, anscheinend ein ganz normaler Suizid. Was man eben bei einem Suizid normal nennt.

Sicherheitshalber rufe ich noch beim zuständigen Pathologen, dem Hansi an.

„Ach, der Dieter“, begrüßt er mich, „na, magst du ein paar Kräuterbonbons? Wenn du welche magst, dann lass ich dir gerne welche bringen.“

Ja, das mit den Bonbons ist eine alte Geschichte, die ich hier nicht aufwärmen möchte. Auf jeden Fall bekomme ich immer so einen fahlen Minzgeschmack auf der Zunge, wenn ich es mit Hansi zu tun habe.

„Behalte deine scheiß Bonbons für dich!“, blaffe ich ohne Begrüßung los, was mein Gesprächspartner mit einem schadenfrohen Lachen quittiert.

„Was kann ich denn für den Herren Oberkommissar tun?“, fragt mich der Arsch, nachdem er sich wieder beruhigt hat.

„Dir deine dummen Bonbon-Witze abgewöhnen, das kannst du für mich tun!“, lass ich ihn meine Wut spüren. „… und mir dann etwas über die Leiche von dem Bahnunglück erzählen.“

„Ach, den menschlichen Fleischsalat, den ihr mir geschickt habt? Über den gibt es nicht gerade viel zu erzählen, ein Farbiger, wahrscheinlich aus Zentralafrika stammend und sehr unterernährt. Mehr war aus dem nicht herauszuholen. Auch Papiere haben wir bei ihm keine gefunden.“

„Okay! Und was passiert nun mit ihm?“, will ich wissen.

„Das Standardprogramm, ich behalte ihn noch zwei Wochen hier in der Kühlung, falls sich noch Angehörige melden und dann gebe ich die Überreste zur Verbrennung frei.“

Na, das sind ja schöne Aussichten. Wenn sich keiner meldet, dann wirst du einfach verheizt und dienst der Fernwärme. Das hat allerdings schon seine Richtigkeit, was soll man denn sonst machen? Wir können die Toten ja schlecht behalten, da wüsste man sicher irgendwann nicht mehr wohin mit ihnen.

Da ich keine weiteren Fragen mehr habe, verabschiede ich mich von Hansi und lege wieder auf.

Nun gehe ich zum Fenster und stelle fest, dass es draußen angefangen hat zu schneien. Das versüßt doch etwas die Vorweihnachtszeit, wenn sich die Landschaft in einen weißen Mantel bettet. Während sich mein Herz erwärmt, fasse ich den Entschluss, unseren Weihnachtsmarktbesuch, der gestern ja aus bekannten Gründen ins Wasser gefallen ist, heute nachzuholen. Also mach ich schon um vier Feierabend, um meine Familie zu überraschen.

Süßer die Schellen nie klingen!

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