Читать книгу Der wandernde Krieg - Sergej - Michael Schreckenberg - Страница 12
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ОглавлениеDer Morgen fand mich am Rande der Landstraße. Ich ging zügig einem Ziel entgegen, das ich nicht kannte, einer Stadt namens Langenrath. Nach meinem glücklichen Entkommen aus der Klapse hatte ich aus einem überfüllten Container für Kleider- und Schuhspenden einige Säcke herausgerissen und mich notdürftig eingekleidet. Jeans zu groß, Schuhe leicht verschlissen und widerlich anzusehen, aber beides sauber. Es liegt dem Deutschen wohl im Blute, selbst seine Altkleider zu waschen, bevor er sie spendet, und dafür sind arme Flüchtlinge doch immer dankbar. Dann war ich mit Nachtzügen durch Nordrhein-Westfalen gefahren, planlos, um von vorneherein keine logische Spur zu hinterlassen. Ich war draußen, aber was nun? Es würde nicht lange dauern, bis man bemerkte, dass das Paradepferd im Stall fehlte. Dann würden ein paar Leute einige unangenehme Fragen beantworten müssen. Wie zum Beispiel: „Warum zum Teufel habt ihr den Irren nicht chemisch ausgeknockt und rausgeschleift?“
Nun, ich kannte die Antwort, aber die würde denen, die sie geben mussten, wohl erst mal keiner glauben. Tatsache ist, dass man meinem Körper so ziemlich jede gebräuchliche Chemikalie ohne nennenswerte Wirkung zuführen kann. Ich hatte schon die tollsten Dinge geschluckt, ohne high zu werden, k. o. zu gehen oder zu sterben. Irgendwann würde ich mir vielleicht Abflussreiniger spritzen müssen, um einen kleinen Schwips zu bekommen. Diese Antwort würde also niemanden glücklich machen. Meine Freunde hatten ein Problem. Und ich natürlich auch, was das betraf. Allerspätestens heute Abend, vermutlich aber schon gegen Mittag, würde ich gehetzt werden, mit Bild in allen Medien. Ich musste schleunigst einen Weg finden, abzutauchen, sonst würde ich in 48 Stunden entweder wieder im Land des milden Lächelns oder in einem Sarg sein. Und ich hatte nicht mal eine Ahnung, den Wievielten wir hatten, geschweige denn, welchen Wochentag, für solche Dinge hatte ich mich zuletzt wenig interessiert. Ich wusste so gut wie nichts mehr von der Welt hier draußen, ein sehr dummer Fehler. Es nutzte nichts, Körper, Geist und Reflexe gesund zu halten und dabei den Kontakt zum wirklichen Leben zu verlieren. Ich kam mir vor wie ein Tourist in einer anderen Zeit. Ein Tourist, dessen Hose ständig rutschte und der scheußliche gelbe Schuhe trug. Auch daran musste sich schnellstens etwas ändern, andernfalls konnte ich mir genauso gut ein Schild umhängen: ACHTUNG! ENTSPRUNGENER IRRER!
Zu allem Überfluss ging auch mein Geld zur Neige, da ich darauf geachtet hatte, bei meiner ziellosen Fahrt gültige Fahrscheine bei mir zu haben. Ich hatte überhaupt keine Lust, unverschämten Schaffnern heimleuchten zu müssen, weil sie meine Personalien wegen Schwarzfahrerei aufnehmen wollten.
Ein Name tauchte aus der Erinnerung auf: Mark. Mark, der mich als Letzter und am längsten besucht hatte. Mark, mein Freund. Mark, der mir etwas schuldete. Er würde mir helfen.
Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, es sei an der Zeit, auszusteigen. Es dämmerte. Der Bahnhof war winzig, ein Bahnsteig, zwei Gleise, ein paar Bänke, in der Mitte der Plattform führten zwei Treppen nach unten und das war’s. Ich sah auf das Schild. „Langenrath“. Ganz hinten im Kopf klingelte etwas. Vielleicht gab es eine Autobahnausfahrt, an der ich mal vorbeigefahren war, oder so etwas. Die Treppe führte in eine kurze und mit sinnreichen Graffiti („Achmed hat keine Eier“, „Ich will Tina B. figgen“) geschmückte Unterführung. Auf der anderen Seite stieg ich wieder nach oben, ging zwischen einem Verschlag mit Fahrradständern und einem ungenutzten Bahnhofsgebäude hindurch und stand an einer Straße, die wenige Meter links von mir in einer Sackgasse endete. Auf der anderen Straßenseite, am Rande einer kleinen Geschäftszeile, sah ich eine Telefonzelle. Ich fischte drei Münzen aus der Tasche, aber es war natürlich ein Kartentelefon. Ich beschloss, die Post zu suchen, dort würde es mehrere Telefone geben, sicher auch eines für Münzen. Ich überquerte einen Parkplatz, der die Ladenzeile begrenzte, und stand an einer breiten Landstraße. Einige Meter weiter sah ich einen gelben Pfeil nach rechts: ‚Langenrath‘ und darunter, weiß abgesetzt, ‚Zentrum‘. Gut – dort würde doch wohl auch die Post zu finden sein. Ich machte mich auf den Weg.
Der Bahnhof war recht weit vom Zentrum entfernt. Ich schlenderte eine Weile die Landstraße entlang, bis ich in etwas gelangte, das mit viel gutem Willen als Stadtkern durchgehen konnte. Offenbar war Langenrath eines dieser Städtchen, die sich aus vielen Dörfern zusammensetzten, und als vor vielen Jahren der Bahnhof gebaut wurde, hatte man den Stadtkern noch woanders vermutet als dort, wo er später entstand. Die Landstraße wurde nach und nach eine Ortsdurchfahrt und Hauptstraße, gesäumt von Geschäften, Restaurants und Mehrfamilienhäusern. Dort, wo sie auf eine weitere Hauptstraße traf, schloss sich links und rechts der Kreuzung eine Fußgängerzone an. Sie war noch menschenleer. Ich bog ein und schritt die leeren Ladenfronten ab, die Hände tief in den Taschen, um die Hose oben zu halten, überquerte eine Brücke, die über einen kleinen Fluss führte, und fand auf der anderen Seite zwar nicht die Post, dafür aber das Redaktionsbüro der örtlichen Zeitung. „Langenrather Neueste Nachrichten“. Die ersten Seiten der aktuellen Ausgabe hingen im Fenster und gaben mir endlich Auskunft darüber, wo im zeitlichen Universum ich mich befand: Samstag, 17. Juli.
In Grübeleien darüber versunken, ob Samstag nun ein guter oder schlechter Tag sei, bemerkte ich die Frau nicht, die aus der Tür des Hauses trat. Ich stieß mit ihr zusammen, sie stolperte, fiel zu Boden, und ich schaffte es gerade, ihr eine Hand anzubieten und gleichzeitig zu verhindern, dass mir die Hose ungebührlich tief nach unten rutschte.
„Tut mir leid. Ich habe gepennt.“
„Nicht schlimm.“ Sie ließ sich aufhelfen und klopfte ihren Rock ab. Sie mochte zehn Jahre jünger sein als ich, Anfang, Mitte zwanzig, unauffällige Figur, nicht groß, nicht klein, nicht dick, nicht dünn. Umso auffälliger war das lange dunkle Haar, das ihr in üppigen Wellen über die Schultern fiel. Sie sah ein wenig zerknittert aus, als wäre sie gerade aus dem Bett gekommen.
„Haben Sie sich wehgetan?“
Sie tastete ihren Ellenbogen ab. „Ist nicht schlimm.“
„Tut mir wirklich leid.“
Sie lachte. „Ich hätte auch nicht so einfach aus der Tür stürmen sollen. Ich bin gestern Abend wohl bei der Arbeit eingeschlafen und dann … Ist auch egal.“
„Sie arbeiten bei der Zeitung?“
Sie nickte und hielt mir eine Hand hin. „Recha Gold.“
Ach du Scheiße. Namen. Ich nahm die Hand und sagte: „Hans Müller.“ Sie schien nicht misstrauisch und lächelte nur freundlich. Mir fiel etwas ein.
„Vielleicht können Sie mir helfen. Ich suche die Post.“
„Die Post? Das ist ganz einfach, gehen Sie einfach diese Straße zurück, über die Brücke und dann die Fußgängerzone ganz bis zum Ende. Dann links über die große Kreuzung. Aber die Post dürfte jetzt wohl noch zu haben.“
„Ich will nur telefonieren. Und ich habe nur Münzen.“
Sie überlegte kurz. „Ja, ich glaube, da ist ein Münztelefon.“
„Danke.“
Sie lächelte. „Schönes Wochenende.“
Sie verschwand im Durchgang zwischen einer Metzgerei und einem Sportgeschäft. Ich wandte mich um und ging den Weg zurück, den ich gekommen war. An der Kreuzung überquerte ich die Straße und fand bald ein modernes Postgebäude. Davor befanden sich – voila – vier Telefonzellen, eine war bereit, meine Münzen anzunehmen. Ich wählte die Nummer der Auskunft, und die freundliche Stimme von Platz 14 wünschte mir einen guten Tag.
Ich fragte nach Mark, nannte seinen Wohnort und hörte sie auf der anderen Seite ein wenig mit dem Computer klackern.
„Förster mit ‚Ö‘?“
„Ja.“
„Hm, da finde ich keinen Eintrag. Wissen Sie vielleicht die Straße?“
„Nein.“
„Tut mir leid, dann finde ich nichts.“
Ich fluchte innerlich. Entweder, er hatte wieder eine Geheimnummer, oder er war weggezogen.
„Was ist mit Park? Sandra Park?“
„Park wie der Park?“
„Ja.“
Klacker, klacker. „Ich habe hier Jin-Ju Park.“
„Nein, Sandra.“
„Sandra Park finde ich nicht.“
Ich seufzte, und sie lachte am anderen Ende der Leitung.
„Tut mir wirklich leid.“
Mir fiel mir noch etwas ein. „Was ist denn mit der Rheinischen Zeitung in Köln? Die gibt’s doch hoffentlich noch, oder?“
„Moment.“ Klacker, klacker, klacker. „Da gibt’s mehrere Nummern.“
„Ich möchte die Redaktion.“
„Die Nummer wird angesagt.“
Mangels Stift prägte ich mir die Zahlen ein und wählte erneut. Die Nummer war richtig, aber ich erreichte nur einen automatischen Anrufbeantworter und legte auf. Pech gehabt. Ich baute mir einige abenteuerliche Eselsbrücken, um die Zahlen zu behalten. Dann begann ich, mich dem Problem, Geld‘ zu widmen.
Die einfachste Lösung wäre gewesen, an einer einsamen Stelle einem Passanten aufzulauern und ihn um seine Brieftasche zu erleichtern, aber das brachte zu viele Unwägbarkeiten mit sich. Passanten waren um die Zeit dünn gesät, und ich konnte nicht wählerisch sein. Das erhöhte nur das Risiko, aufzufallen, also entschied ich mich für einen komplizierteren und langwierigeren, aber letztlich sichereren Weg. Ich begann, Parkplätze abzusuchen, angefangen mit dem bei der Post. Natürlich standen hier um diese Zeit wenige Autos, aber dafür kamen auch wenige störende Zeugen vorbei. Ich musste lange suchen, aber auf dem sechsten Parkplatz, schon wieder etwas außerhalb des Zentrums am Waldrand gelegen, wurde ich fündig. Auf dem Rücksitz eines silbernen Passats lag eine Handtasche. Ich hatte unterwegs einen großen Stein aufgelesen, mit dem schlug ich eine Scheibe ein, klaubte die Tasche heraus, ein widerliches, hellbraunes Monstrum, und setzte mich zwischen die Bäume ab. An einem kleinen Bach tief im Gehölz sitzend, untersuchte ich den Inhalt. Ich fand schnell eine Brieftasche, der ich entnahm, dass meine unfreiwillige Unterstützerin Andrea Gehlog hieß und ein inniges Verhältnis zu mehreren Pudeln hatte, deren Bilder in jedem zweiten Fach steckten. Ich fand im Rahmen der weiteren Inspektion ein Portemonnaie aus rotem Samt, das fast noch scheußlicher war als die Tasche selbst. Aber Andrea war großzügig, sie spendete hundertsechzig Euro. Die nahm ich, warf dann die hässliche Tasche in den Bach und den Inhalt einzeln hinterher.
Als ich wieder bei der Post ankam, war es Vormittag geworden. Wieder versuchte ich, die Rheinische Zeitung zu erreichen. Die Eselsbrücken hielten. Ich fragte mich durch, bis mich jemand mit Mark verbinden konnte. Dachte ich.
„Rheinische Zeitung, Ansgar Halberich.“
„Was?“
„Halberich, Rheinische Zeitung, kann ich Ihnen helfen?“
„Ich wollte mit Mark Förster sprechen. Ist er da?“
„Ja, aber er spricht gerade. Kann er Sie vielleicht zurück …“
„Ich stehe in einer Telefonzelle.“
„Vielleicht kann ich …“
„Ich würde gerne persönlich mit ihm sprechen.“
Mein Gegenüber seufzte. „Ich spreche ihn mal an, Moment. Wie ist denn Ihr Name?“
„Hans Müller.“
„Einen Moment.“
Er drehte sich offenbar vom Telefon weg, aber ich hörte trotzdem, was er sagte.
„Mark, hör mal grade. Da ist jemand für dich. Nennt sich Hans Müller.“
Ich verstand die Antwort nicht. Mein Gesprächspartner wandte sich wieder mir zu.
„Er möchte gerne wissen, worum es geht.“
Ich überlegte schnell.
„Sagen Sie ihm, es geht um die Sache mit dem Krankenhaus. Und dem Bild.“ Ich hoffte, er würde den Hinweis verstehen.
Lange Stille, dann wieder Kollege Halberich.
„Moment, er geht ins andere Büro. Ich stelle durch.“
Einige Sekunden ertönte eine grässliche Computerversion von „Bright Eyes“, dann ein Knacken in der Leitung.
„Mark Förster.“
„Weißt du, wer ich bin? Erkennst du meine Stimme?“, fragte ich.
„Nein. Aber wenn du der bist, für den ich dich halte, ist das kein Wunder. Wir haben vor fast zwei Jahren zuletzt miteinander gesprochen.“
Ich rechnete kurz. „Ja, das stimmt.“
Er zögerte. „Ich bin nicht sicher.“
„Was soll ich machen?“
Er überlegte. „Du hast von einem Bild gesprochen. Wann und wo habe ich es dir gegeben?“
„Du hast es mir nicht gegeben. Es hing an der Pinnwand in deiner Küche.“
„Zweite Frage. Vor vielen Jahren habe ich mich in eine Frau verliebt, die du auch kennst. Sie wollte mich nicht. Wie hieß sie, wen hat sie geheiratet und was macht sie heute?“
Ich spürte fast, wie das Blut mein Gesicht verließ. Meine Lippen wurden kalt und meine Kopfhaut begann zu kribbeln. Was sollte diese Frage?
„Sie hieß Sarah Bender“, sagte ich, sehr, sehr leise. „Sie hat mich geheiratet. Und sie ist tot.“
„Es tut mir leid. Aber ich wollte sichergehen.“
„Dass Sarah und ich verheiratet waren, weiß die halbe Welt. Und das andere auch.“
„Ja“, sagte Mark, „aber dass ich auch was von ihr wollte, wissen nur wir beide. Außerdem ging es mir mehr um deine Reaktion.“
Ich holte tief Luft und unterdrückte den Versuch, ins Telefon zu brüllen.
„Es tut mir wirklich leid“, beschwichtigte er. „Aber jetzt glaube ich dir. Warum rufst du an?“
„Ich bin nicht da, wo wir uns zuletzt gesehen haben.“
Ein Moment Stille.
„Wie bitte?“
„Ich bin … draußen.“
Jetzt war es an ihm, tief Luft zu holen. „Was? Wie das?“
„Ist nicht so wichtig. Wirst du mir helfen?“
„Natürlich.“ Sofort, ohne Zögern. „Was brauchst du?“
Was brauchte ich? „Alles, eigentlich.“
„Okay, am besten wir treffen uns. Hier in Köln. Kannst du nach Köln kommen?“
„Ich denke schon.“
„Kennst du das Jameson’s noch?“
„Ja.“
„18 Uhr. Hinten durch. Mann Gottes, du hast verdammtes Glück, dass ich heute überhaupt hier bin. Sieh zu, dass dich keiner erkennt. Wenn das, was du sagst, stimmt, sind bald alle hinter dir her.“
„Ich weiß.“
„Viel Glück. Wir sehen uns heute Abend.“
„Mark?“
„Ja?“
„Kann ich dir vertrauen?“
„Du wirst mir vertrauen müssen, oder?“
„Ja. Aber komm alleine.“
„Natürlich. Bis heute Abend.“
Er hängte auf.