Читать книгу Der wandernde Krieg - Sergej - Michael Schreckenberg - Страница 8
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ОглавлениеZuerst roch ich es.
Fett und scharf.
Ich tauchte schnell aus dem Traum auf, einem jener Träume, die ich jede Nacht hatte und an die ich mich am Morgen stets nur als einen wirren Bilderstrom erinnern konnte. Irgendwo jammerte ein Rauchmelder. Dann hörte ich mehr, zuerst noch nicht nah, aber deutlich: Prasseln, Rollen, Rufe.
Feuer.
Die Anstalt brannte.
Ich schlug die Augen auf und war wach. Vollmondlicht fiel blau und weiß durch das Fenster. Ich starrte an die Decke. Dort tanzten flackernde Schatten, und ich schaute ihrem Spiel eine Weile regungslos und fasziniert zu, bevor ich mich aufsetzte. Der Geruch war näher gekommen, die Schatten tanzten jetzt lebhafter, ein gelblicher Ton stahl sich in das klare Mondlicht. Ich besah mir das Stück Himmel, das ich von hier aus sehen konnte. Es musste früh sein in der Nacht. Wie konnte um diese Zeit ein Feuer ausbrechen? Es gab tausend Möglichkeiten. Dieser Kasten hier war vollgestopft mit Irren, da war alles denkbar. Ich federte aus dem Bett. Müde war ich nicht mehr, ich hatte nie viel Schlaf gebraucht und konnte jederzeit darauf verzichten. Es war zu still. Definitiv viel zu still. Wenn der Laden brannte, warum hörte ich dann draußen keine Schritte auf dem Gang? Oder Stimmen? Der Geruch kam näher und wurde giftiger. Die schönen und unruhigen Brandschatten an Wänden, Decke und Boden wurden schöner und unruhiger.
Zeit zu gehen.
Mir kam ein beunruhigender Gedanke. Das war ihre Chance, mich loszuwerden, nicht wahr? Wenn ich diese Tür nicht würde öffnen können, war ich verloren. Darauf, dass eine barmherzige Seele mich doch noch rauslassen würde, wollte ich nicht hoffen, obwohl der Laden hier mit barmherzigen Seelen angefüllt war. Für die meisten Menschen außerhalb dieser Mauern war ich ein mörderischer Irrer, und ich glaubte nicht, dass ich freundliche Nachrufe bekommen würde. Bei einem Brand in der Anstalt umgekommen. Ein tragischer Unfall, Gott sei Dank.
Für die Ärzte und Pfleger in diesem Irrenhaus dagegen war ich ein Kranker. Aber sie hatten Angst vor mir, das fühlte ich jedes Mal, wenn ich einen von ihnen ansah. Sie wollten es nicht, aber sie schienen etwas in mir zu sehen, das sie nicht verstanden und das ihnen eine Höllenangst einjagte. Was ich wiederum nicht verstand. Ich war hier immer zahm gewesen, und die Taten, die mich hierher gebracht hatten, waren so schwer auch nicht zu verstehen. Fand ich. Ich hatte es ihnen ein paarmal zu erklären versucht, bevor ich aufgab, aber sie hatten nie richtig zugehört. Irgendwann stahl sich stets ein Ausdruck in ihre Gesichter, der mir zu verstehen gab, dass sie mir nicht mehr folgen konnten. Dann begannen sie bald, mir zu erklären, dass es sicher Gründe gebe, die Dinge so zu sehen, wie ich sie sah, und dass sie sich mit mir über diese Gründe unterhalten wollten. Eines Tages hatte ich begonnen, an diesem Punkt milde zu lächeln und zu nicken, und so hatte ich zweieinhalb Jahre lang milde Gespräche geführt, die ständige Angst in ihren Augen genossen und gewartet.
Auf eine Gelegenheit.
Auf eine Nacht wie diese.
Würden diese guten Menschen mich hier einfach meinem kurzen, schmerzhaften Schicksal überlassen?
Ich drückte leicht gegen die Tür. Sie bewegte sich. Ein festerer Stoß, und sie schwang, leicht über das Linoleum schrammend, auf.
Natürlich.
Reingehen und mich wecken? Das war wohl etwas viel verlangt. Die Tür wieder abschließen und gehen? Um Gottes willen! Was also tut der gute Mensch? Er macht sich still und heimlich aus dem Staub.
Solcherart vor mich hin grübelnd ging ich aus der Tür, als ich Stimmen hörte. Und Schritte. Schnell, quietschend und näher kommend. Von rechts. Ich zog mich in den Schatten der Türöffnung zurück.
„Was soll das heißen, Sie haben ihn vergessen?“
„Nicht ich. Lorentz hat gesagt, er …“ „Soll er da drin ersticken, oder was?“
„Nein, Lorentz hat gesagt … also er hat …“
„Was?!“
„Die Tür aufgeschlossen.“
Die Schritte verhielten abrupt. Ich hatte beide Stimmen erkannt – das waren einer der beiden dämlichsten Pfleger und mein Lieblingsarzt. Der Einzige, der es aufgegeben hatte, mich verstehen zu wollen. Der Pfleger – Müller – bildete normalerweise mit seinem Spezi Lorentz ein Pärchen. Aber offenbar hatte sein Kumpel ihm jetzt eine Suppe eingebrockt, die auszulöffeln kein Spaß war. Die Suppe war ich.
„Wieso aufgeschlossen? Das ist Sebastian Kant, verdammt.“
„Er hat wohl geschlafen“, murmelte Müller.
„Er hat … aber … und warum ist er nicht wenigstens reingegangen und hat ihn geweckt? Und wieso war er alleine? Ist der … wahnsinnig geworden, oder wie? Was ist eigentlich los in diesem Saftladen hier? Es gibt Vorschriften, die gelten auch, wenn’s brennt, gottverflucht …“
„Das ist vielleicht ein bisschen viel verlangt.“
„Was?“
„Reingehen und wecken, meine ich …“
„Ah. Aber aufschließen und sich still und heimlich aus dem Staub machen ist okay, ja?“
Die Schritte kamen wieder näher. Ich merkte, wie eine angenehme Spannung in meinen Körper kroch. Meine Finger begannen zu flattern. Jagdfieber? Hier? Ich musste in all der Zeit ziemlich degeneriert sein. Ich zog die Tür ein wenig heran.
Sie kamen um die Ecke der Biegung des Gangs und blieben wieder stehen. Jetzt hatten sie wohl die offene Tür gesehen. Sie sprachen leise und kamen wieder näher. Ich hörte ihren Atem. Sie blieben zusammen. Jetzt kam Müller zur Tür. Ich roch seinen Schweiß, der ohne Mühe eine lockere Decke aus altem Deo durchdrang. Ich lauschte auf seine Schritte, sein Keuchen. Er stand an der Tür und zögerte. Lange. Ich rechnete ihn aus. In dem Moment, als er sie öffnen wollte, kam ich vorwärts.
Die Tür schlug heftig gegen den menschlichen Widerstand, der mit einem verwunderten Geräusch zurückwich. Ich sprang durch den Spalt, packte den Tölpel und schleuderte ihn mit der Wucht der Bewegung gegen den Arzt, der nicht mehr ausweichen konnte. Er schrie auf, als Müller ihn traf, und zwei Signalgeber flogen klappernd auf den Boden. Das war das Geräusch, das ich hatte hören wollen.
Müller kam wieder hoch, was er nicht hätte tun sollen. Ich schlug ihm hart in den Solarplexus, rammte ihm, als er zusammensackte, das Knie ins Gesicht und hatte noch Zeit, zweimal zuzuschlagen, bevor er am Boden lag und sich nicht mehr rührte. Ich drehte mich zu seinem Begleiter um. Der krabbelte gerade auf seinen Signalgeber zu.
„Nein!“
Er hörte auf zu krabbeln und drehte sich um.
„Sie“, japste er. „Sie …“
„Ja.“
Er rappelte sich auf und wich sofort zurück. Ich bewegte mich schneller, packte ihn und drückte ihn an die Wand. Es war nicht schwer, er zitterte.
„Und jetzt, Doktor?“
Er schluckte und rang nach Luft. Ich lockerte meinen Griff etwas.
„Sie müssen mit runterkommen“, keuchte er. „Zu den anderen. Kommen Sie, ich bringe Sie hin.“
Ich schaute ihn verwundert an, wie er da so stand, meine Linke an seiner Schulter, meine Rechte an der Kehle.
„Ich muss was?“
„Kommen Sie mit. Wir versammeln uns alle vor dem Hauptportal. Ich glaube, Sie sind der Letzte hier oben. Ich bringe Sie raus.“
Mit seinem Atem kam offenbar auch sein Selbstvertrauen zurück. Ich drückte wieder ein bisschen zu. Er quiekte und wand sich, was ich unterband, indem ich ihm das Knie leicht zwischen die Beine stieß.
„Sie vergessen Ihre Situation“, erklärte ich und legte ihm beide Hände freundschaftlich auf die Schultern, während er sich mit seiner Rechten den Hals rieb und mit der Linken vorsichtig seine Eier betastete. „Ich finde Sie eigentlich ganz nett, aber ich werde natürlich nirgendwo mit Ihnen hingehen. Sie geben mir den Schlüssel.“
Er schüttelte den Kopf. Erstaunlich, es gab doch so etwas wie Mut in diesen Figuren.
„Das geht nicht. Ich kann sie nicht …“
„Haben Sie Familie, Doktor?“
Er starrte mich an. Seine Augen weiteten sich. Ich lächelte und bewunderte mich für meine Geduld. Langsam wurde die Zeit knapp, das roch ich.
„Was?“
„Noch mal: Sie geben mir den Schlüssel. Dann nehmen Sie diesen Trottel da und vergessen einfach, dass wir uns getroffen haben.“
Er sagte gar nichts. Ich schaute ihn – wie ich hoffte – ernst und freundschaftlich an. Seine Unterlippe begann zu zittern, er versuchte, meinem Blick auszuweichen, aber ich drehte seinen Kopf zurück.
„Ich komme hier alleine raus“, sagte ich leise. „Das wissen Sie, oder? Also ersparen Sie sich das und geben Sie mir den Schlüssel. Dann verschwinden Sie durch den Notausgang dahinten und Sie sind mich los. Haben Sie das verstanden?“
Er versuchte zu nicken. Ich ließ sein Kinn los und streckte meine Hand aus. Er legte seinen Generalschlüssel hinein.
„Gut. Und jetzt weg. Schnell!“
Er drehte sich mit einem Wimmern um, stolperte zu dem immer noch träumenden Pfleger, zog ihn sich halb auf die Schulter und taumelte durch den Gang davon. Ich schaute ihm lächelnd nach.
Ich lief schnell um die Biegung, den Flur entlang zum Treppenhaus und nach unten. Das Feuer war jetzt sehr nah, aber ich wollte nicht völlig unvorbereitet nach draußen, und vor allem nicht durch die Haupttür. Also lief ich zum Aufenthaltsraum der Pfleger. Irgendein umsichtiger Mensch hatte ihn verschlossen, als das Personal evakuiert wurde, aber ich hatte ja meinen Generalschlüssel. Ich war auf Ärger gefasst, aber hier war niemand mehr. Gut, ich hatte nicht mehr viel Zeit zu verschwenden. Die nächste Diskussion wäre kürzer verlaufen. Ich sah mich schnell in dem Raum um und fand, was ich suchte – die Kaffeekasse, ein geblümtes Sparschwein, schlecht versteckt in einem offenen Schrank. Viel konnte nicht drin sein, wenn sie sich nicht die Zeit genommen hatten, es mitzunehmen. Ich zerschlug es an einer Ecke des großen Tisches und schalt mich im nächsten Moment einen Idioten, als das Geld auf den Boden fiel. Ich trug nur Shorts und T-Shirt, kein Platz für Münzen, ich hätte besser die ganze Kasse mitgenommen. Auf meine Dummheit fluchend suchte ich auf Händen und Knien nach Scheinen und fand fünfzig Euro. Ich stopfte sie unter den Bund der Shorts, besser als nichts. Die Fenster hier unten waren die einzigen, die nicht aus Sicherheitsglas bestanden. Ich nahm einen Besen, schlug die Scheibe ein, stieg aus dem Fenster, lief ein kurzes Stück, verbarg mich in einem Gebüsch und sah mich um. Gut, dass ich nicht durch die Tür gegangen war, dort standen Menschen. Die hätten wieder Zeit gekostet.
Ich hörte Sirenen, Blaulicht flackerte ganz in der Nähe. Der Rauch zog näher, aus einigen Fenstern des Südflügels schlugen Flammen. Von dort hörte ich auch Stimmengewirr. Ich setzte mich vorsichtig in die entgegengesetzte Richtung ab, bis ich zu einem kleinen Parkplatz kam, der einen Teil des Nordflügels abgrenzte. Im zweiten Stock sah ich eine offene Tür über der Feuertreppe, der gute Doktor hatte meinen Rat offenbar beherzigt. Ich hoffte, dass mein kleiner Hinweis auf seine Lieben genügt hatte, ihm die Idee, mich zu suchen, zu vergällen. Immerhin – hier war kein Mensch zu sehen, und nichts deutete darauf hin, dass irgendjemand sich im Moment für mich und meinen Verbleib interessierte.
Ich überquerte schnell den Parkplatz. Wenige Autos standen hier, vermutlich nur Personal. Ich kletterte auf das Dach eines Mondeo, der direkt unter der Mauer stand, sprang hoch, bekam die Mauerkrone zu fassen, zog mich hinauf, schwang mich auf der anderen Seite wieder hinunter und sah mich noch einmal um – nichts als das Blaulicht der Feuerwehrwagen in beruhigender Entfernung. Ich setzte über die Straße, ließ mich in den Straßengraben fallen und wunderte mich, dass es so einfach gegangen war.