Читать книгу Der wandernde Krieg - Sergej - Michael Schreckenberg - Страница 15
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ОглавлениеIch betrat den Pub etwas früher als sechs, er war noch nicht da. Auf meinem Weg durch den Schankraum sammelte ich ein paar Blicke ein, aber das hier war ein toleranter Laden, mehr als komisch ansehen würde mich hier keiner. Ich hatte bei meinen Einkäufen extra auf auffällige Kleidung geachtet, um von meinem Gesicht abzulenken, denn das war es, was in den nächsten Tagen in allen Zeitungen und auf allen Fernsehkanälen zu sehen sein würde.
Ich hatte mich zuerst in Langenrath mit einem Gürtel und einem Paar billiger Sportschuhe versorgt, so dass ich nicht mehr aussah, als hätte ich mich aus einem Kleidercontainer eingekleidet. Außerdem erstand ich eine Sonnenbrille und ein mit Totenkopfmotiven bedrucktes Tuch, das ich als Kopftuch trug. Jetzt sah ich zwar todsicher aus wie ein Irrer, aber wie einer von denen, denen man alle Tage begegnet. Außerdem verdeckte das Tuch meine Haare und die Narbe auf meiner Stirn. Ich ging zurück zum Bahnhof, fuhr ein paar Stationen weiter, bis Opladen, und erstand eine rote Kunstlederjacke und einige T-Shirts und Shorts. Bei nächster Gelegenheit wollte ich die letzten Reste meiner Anstaltskleidung loswerden. Meine Neuerwerbungen brachte ich in einer billigen Sporttasche unter, dann machte ich mich auf den Weg nach Köln. Es war früher Nachmittag, als ich ankam. Als ich den Bahnsteig betrat, spürte ich zum ersten Mal wirklich meine Freiheit. Hier war ich oft gewesen, diesen Bahnhof hatte ich fast so gut gekannt wie meine eigene Wohnung. Das Gewirr der Geräusche, die vielen tausend Schattierungen von Grau unter der permanenten Dämmerung des alten Daches aus Stahl und Glas. Und nun war ich wieder hier. Ich konnte alles tun – ich war frei. Ich ließ mich durch die Menschenmenge auf dem Bahnsteig treiben und genoss es. Kurz vor der Treppe nach unten wurde ich ziemlich rüde angerempelt. Ich fuhr herum. Vor mir stand eine kleine alte Frau, die einen fetten Dackel auf dem Arm trug.
„Was fällt …“, fing sie an zu keifen.
Ich lächelte sie an. Sie verstummte. Der Dackel winselte und schob seine Schnauze unter ihre Achsel. Ich hielt das nicht für eine gute Idee.
„Verzeihung“, sagte ich freundlich, ich war in Gönnerlaune.
Sie nickte, wandte schnell den Blick ab und trippelte hastig an mir vorbei, die Treppe hinunter. Ich sah ihr nach und wartete darauf, dass sie stolperte und auf das fette Hundevieh fiel, aber sie tat mir den Gefallen nicht. Ich folgte ihr gemächlich und schlenderte an kleinen Geschäften und Aushängen entlang dem Ausgang entgegen. Keiner der Polizisten in der Halle nahm Notiz von mir. Ich verließ den Bahnhof, stieg hoch zur Domplatte und starrte einige Minuten lang den Dom an. Wenn man drei Jahre in immer derselben Umgebung zubringt, stets darauf bedacht, sich weder vom Irrsinn der anderen Patienten noch von dem des Personals anstecken zu lassen, vergisst man einfach ein paar Sachen. Zum Beispiel, wie der Kölner Dom wirklich aussieht.
In einem Waffengeschäft kaufte ich ein kleines, zweischneidiges Messer, sehr schön, sehr scharf, sehr unauffällig und leider auch nicht billig. Im Pub wartete ich auf Mark. Eine junge Kellnerin kam vorbei, und ich bestellte Laphroaig vom letzten Rest des Geldes. Muss ich erwähnen, dass es in der Anstalt keinen Whisky gegeben hatte? Aber nun war ich frei. Ich nahm einen Schluck und genoss jede einzelne Nuance. Ich wollte gerade zum zweiten Schluck ansetzen, als Mark hastig um die Ecke bog. Ich erkannte ihn sofort. Immer noch dieselbe wirre Frisur, die wunderbar mit dem stets leicht irritierten Blick korrespondierte. Und immer noch dieselbe abgetakelte Lederjacke. Ich hatte ihm vor fünf Jahren zum ersten Mal geraten, sie wegzuschmeißen, und da hatte ich schon mindestens ein Jahr mit mir gerungen, wie ich es ihm beibringen könnte. Ich wusste nicht, ob er sich wirklich nicht verändert hatte oder ob er das alte Outfit angelegt hatte, damit ich ihn sofort erkannte. Er war wahrscheinlich der einzige Freund, den ich auf der Welt hatte, aber als ich ihn sah, wusste ich, dass ich auch keinen anderen brauchen würde. Es war dasselbe warme, glückliche Gefühl, ihn zu sehen, wie früher. Trotzdem löste ich das Messer im Halfter unter meiner Jeans, nur für den Fall, dass seine Gefühle nicht mehr die alten waren.
Zu meiner Überraschung ging er achtlos an mir vorbei, obwohl ich sicher war, dass er mich gesehen hatte. Er setzte sich an die Bar und bestellte deutlich hörbar Bushmill’s. Irischen Whiskey, den er, wie ich genau wusste, hasste. Er trank ihn zügig, zahlte, ging auf die Toilette und verschwand wieder. Im Gehen rempelte er fast die Kellnerin an, die ihm verwundert nachblickte. Das Ganze hatte keine zehn Minuten gedauert. Verdattert sah ich ihm hinterher, dann kam mir eine Idee. Ich nahm die Treppe hinunter zur Toilette, wartete, bis ich alleine war, und sah mich um. Aber da war nichts, alles war wie immer – also genau wie vor Jahren, als ich zum letzten Mal hier gewesen war. Ich untersuchte die Spülkästen – auch da war nichts, keine Nachricht, keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass Mark etwas für mich hinterlassen haben könnte. Ich war fast schon wieder draußen, als mein Blick auf die gerahmte Replik eines Zeitungsartikels über den Revolutionär Michael Collins fiel, die neben den Waschbecken hing. Den IRISCHEN Revolutionär Michael Collins. Hinter dem Bild fand ich einen braunen DIN-A5-Umschlag.
In einer der Toilettenkabinen öffnete ich das kleine Paket und schüttelte den Inhalt zwischen meine Beine auf den Klodeckel. Er war erstaunlich. Ein älterer Personalausweis mit meinem Bild – ich erkannte eines der Passphotos, die ich einige Wochen vor Sarahs Ermordung hatte machen lassen. Ich hieß, wie ich verblüfft feststellte, Sergej Hoffrichter, war am 8. März 1970 in Potsdam geboren und wohnte in Hamburg. Ich starrte das Dokument an, drehte es hin und her, befühlte es. Ich untersuchte es auf jedes Detail. Es wirkte absolut echt. Auf dem Klodeckel lagen außerdem ein Schlüssel zu einem Zimmer in einem der Hotels der Altstadt, fünfhundert Euro und ein zusammengefaltetes Stück Papier. Es enthielt eine kurze Notiz:
„Sergej,
ich werde wahrscheinlich beobachtet. Wir haben befürchtet oder gehofft, dass so etwas eines Tages passieren würde, und uns darauf vorbereitet. Gehe in das Hotelzimmer, es ist auf deinen Namen gemietet, und warte ab Mitternacht auf Besuch.
Wir haben nichts vergessen.“
Wer war „wir“? Egal – Sergej Hoffrichter … klang so schlecht gar nicht. Ich packte die Sachen zusammen und steckte sie ein. Es war noch lange nicht Mitternacht. Genug Zeit für ein paar Kilkennies, etwas Stew, noch einen Laphroaig und vielleicht eine Tasse Tee. Ich verließ den Pub gegen zehn. Zuletzt waren die Blicke der Kellnerin ob meiner anhaltenden Nüchternheit derartig ehrfürchtig gewesen, dass ich ein leichtes Schwanken simulierte, als ich das Lokal verließ. Es war eine schöne, nicht zu warme Sommernacht und ich war schon viel gelaufen an diesem Tag, aber ich genoss es nach den Jahren in Unfreiheit. Ich schlenderte beschwingten Schrittes die Friesenstraße hinauf, die Zeughausstraße entlang und immer Richtung Dom. Kurz vor dem Dom bog ich in die Altstadt ab. Ich kannte das Hotel von früher, als ich, in einem anderen Leben, häufig Kollegen dort einquartiert hatte. Es war eines jener angenehm anonymen Häuser für Geschäftsgäste. Freundlich desinteressierter Service, keine Fragen, sofern man am Ende korrekt zahlte. Ich nahm meinen Schlüssel gut sichtbar in die Hand und simulierte ein – diesmal deutliches – Schwanken, als ich das Foyer betrat. In weitem Bogen auf das Treppenhaus zuwankend orientierte ich mich: Frühstücksraum, Sauna, Schwimmbad, Rezeption, Aufzüge, Etagennummern. Der Nachtportier, ein müder Inder, schenkte mir einen kurzen, professionellen Blick, sah den Schlüssel und wandte sich wieder der Zeitung zu, die vor ihm auf der Rezeption lag. Er hatte garantiert schon Außergewöhnlicheres gesehen. Ich wankte ins Treppenhaus und stieg die Treppen hinauf, in die vierte Etage, ging dort einen kahlen Gang mit Krankenhaus-Charme entlang, bis ich Zimmer Nummer 425 fand. Das Licht ging automatisch an, als ich die Tür öffnete. Unter der blauen Tagesdecke des Doppelbettes lugten leuchtend zwei frische und gewiss duftig-kühle Kopfkissen hervor. Oh ja. Ich trat die Tür hinter mir zu und fiel im nächsten Moment bäuchlings auf das Bett. Ich schaffte es gerade noch, die Tagesdecke beiseitezureißen und das blütenweiße Innere zu entblößen. Ja, es war kühl. Ja, es duftete.
Ich lag eine ganze Weile einfach so da und atmete diesen feinen Bettgeruch ein, bis mein Körper begann, mir klarzumachen, dass er über zwanzig Stunden gearbeitet hatte. Meine Füße waren schwer, ich roch meinen Schweiß und hatte ein pelziges Gefühl auf der Zunge. Müdigkeit kroch von allen Seiten über mich. Oh, jetzt einfach hier liegen bleiben, endgültig in Kühle, Duft und Weichheit versinken und dann mit neuer Kraft aufwachen.
Noch nicht. Ich zwang mich zurück in die Welt und riss mir, noch bevor ich die Augen wieder öffnete, das verdammte Kopftuch ab. Es hatte mich schon genervt, fünf Minuten nachdem ich es umgebunden hatte. Ich knüllte es zusammen und wischte mir damit den Schweiß von der Stirn. Besser. Viel besser. Ich schwang mich auf den Bettrand, öffnete die Augen und sah mich zum ersten Mal richtig im Zimmer um. Es war zweckmäßig karg, aber nicht ganz unfreundlich. Dem Bett gegenüber war ein Schreibtisch an der Wand befestigt, auf dem sich neben dem obligatorischen Briefpapier auch der obligatorische Kuli, das obligatorische Telefon und der obligatorische Fernseher mit der obligatorischen Fernbedienung befanden. Links unter der Tischplatte die – obligatorische – Minibar. In der Wand rechts vom Bett ein großes Fenster, links ebenfalls eine Wand mit zwei Türen. Durch die eine war ich hereingestolpert, die andere führte ins Bad. Auf beiden Seiten des Bettes befand sich ein kleiner Nachttisch. Ich öffnete die Schublade. Klar. Das Neue Testament. Deutsch, englisch, französisch. Mir war das Alte lieber. Ich fand in dem Nachttisch außerdem zwei noch eingeschweißte Sandwiches (Truthahn und Schinken), eine Tüte Apfelsaft und einen verschlossenen Briefumschlag. Ich öffnete ihn, zog ein Blatt heraus und las:
„Sergej,
gut, dass du es bis hierher geschafft hast. Mit etwas Glück ist alles bald in trockenen Tüchern. Du wirst nach Mitternacht Besuch bekommen, sofern er nicht schon bei dir ist. Er wird dir alles Weitere erklären. Du hast mehr Unterstützer, als du denkst. Wusstest du, dass du ziemlich reich bist?
Dazu später. Hast du schon im Bad und im Schrank nachgesehen?
Alles Gute
M“
Ich war verblüfft. Ich hatte mich immer als Einzelkämpfer gesehen, ich hatte, was zu tun war, alleine getan. Zuletzt hatte ich sogar im Irrenhaus keinen Besuch mehr sehen wollen. Und nun stellte ich fest, dass ich Hilfe hatte, Freunde oder zumindest einen Freund. Ich schaute im Schrank nach. Ein langer Mantel und eine Jacke in meiner Größe, ein Paar dunkler, lederner Halbschuhe, eher unauffällig als elegant, und ein Koffer. Ich öffnete ihn: T-Shirts, Hemden, eine Jeans und zwei Baumwollhosen, Unterhosen und Socken. Alles sauber, alltäglich und in der richtigen Größe. Im Bad fand ich einen Kulturbeutel mit allem, was ich brauchen würde, von der Zahnbürste bis zum Aftershave. Ich staunte und staunte. Mit einem Mal hatte ich das Bedürfnis, den Schmutz des Tages von mir abzuwaschen.
Und die letzten drei Jahre.
Und die zwei Jahre davor.
Wäre doch all das nie passiert. Wäre sie doch an diesem einen, verfluchten Tag nicht zu Hause gewesen. Wäre ich nur nicht zu spät gekommen. Hätten sie doch mich vorgefunden und nicht sie. Es wäre, wahrhaftig, anders gekommen.
Aber ich war nicht dort gewesen, hatte nur gefunden, was sie mit ihr gemacht hatten. Ich habe mein Leben begraben und mich auf die Jagd begeben. Ich habe mich früher stets gefragt, was mein Talent war, das, was ich am besten konnte und tun sollte. Ich konnte ein paar Sachen gut genug, um Geld damit zu verdienen, aber tief in mir hatte ich nur zwei Dinge gefunden, für die ich geboren war. Das eine war Sarah. Ich konnte diese Frau lieben, ich konnte sie glücklich machen. Wir hatten fünf Jahre im Paradies gehabt, und vielleicht ist das alles, was jemand wie ich verlangen kann. Denn die andere Sache, die meine Bestimmung ist, fand ich, als sie sie mir genommen hatten: Töten. Die mühevolle, sorgfältige Jagd. Ihre aufmerksame, lustvolle Vollendung.
Ich schälte mich aus der Kleidung, nahm das Messer mit ins Bad und stieg unter die Dusche. Als das warme Wasser Schmutz und Tränen von mir spülte, fühlte ich mich nicht besser, ich hatte mich seit jenem Tag nie wieder besser gefühlt. Aber die Traurigkeit war heißer Vorfreude gewichen. Noch war ich nicht fertig. Drei waren noch übrig.
Es klopfte, als ich gerade vor dem Bett stand und mir die Jeans anzog. Ich schloss die Hose, nahm das Messer wieder in die Hand und rief fröhlich: „Momeeehent, ich komme schon!“
Gleichzeitig fiel mein Blick auf den Radiowecker. 00.07 Uhr. Ich stellte mich so hinter die Tür, dass sie mich aufgehend verdecken musste. Es klopfte erneut. Mark hatte Besuch angekündigt, klar. Aber wusste ich, wer dieser Besuch war?
„Sofooohort!“, flötete ich, drehte den Türknauf und zog schnell nach innen auf.
„Ser …“ hörte ich, im selben Moment erschienen ein Fuß, eine Hand und ein schwarzer Schopf.
Ich packte mit der Rechten zu, riss den Körper an den Haaren herein, schlug mit seiner Stirn und meinem Knie die Tür zu, presste den Besucher dagegen und drückte ihm die Messerspitze ins Genick. Es ging erstaunlich leicht. Während meine Beute noch erschrocken quiekte, registrierte ich nachträglich, was ich nur am Rande meines Bewusstseins wahrgenommen hatte, als mein Instinkt das Kommando übernahm. Der Fuß steckte in Pumps. An dem Arm über der Hand hing ein Armband. Meine Beute war leicht, aber nicht klein, ihr Hals, dessen Adern heftig und sichtbar pochten, war auf der Höhe des meinen. Ich gönnte mir den Luxus, anderes wahrzunehmen als Stellen, in die ich sinnvollerweise mein Messer stoßen konnte. Es war eine Frau in einem hellgrauen Kostüm, groß, schmal, mit langen schwarzen Haaren. Hellbraune Hände pressten sich gegen die Tür. Ich seufzte, trat zurück, steckte automatisch das Messer ein und drehte sie zu mir um. Ein hübsches, asiatisches Gesicht, das ich gut kannte und in dessen dunklen Augen Angst stand. Ich zog sie an mich, und sie ließ sich in den Arm nehmen.
„Tut mir leid, Sandra“, sagte ich leise. „Tut mir ehrlich leid.“
Sie zitterte, und ich hielt sie eine Weile, bis es ihr besser ging. Dann versetzte sie mir mit der Linken, mit der sie sich nicht an mich klammerte, einen schmerzhaften Schwinger gegen den Oberarm.
„Was soll das? Mark hat dir doch gesagt, dass ich kommen würde, oder?“
„Nein, er hat gesagt, ich würde Besuch bekommen. Und als es klopfte, wusste ich nicht, wer das sein würde.“
Sie schüttelte den Kopf, löste sich aus meinem Arm und betastete vorsichtig ihre Stirn. „Das gibt ’ne Beule.“ Sie sah mich an, missbilligend, aber nicht unfreundlich. „Wer zum Teufel sollte es denn sonst sein, um diese Zeit, du paranoider Arsch?“
„Was weiß ich? Polizei zum Beispiel. Außerdem bin ich nicht nur paranoid, sondern …“, ich überlegte kurz, „ … ein Sadist mit dissozialer Persönlichkeitsstörung, glaube ich.“ Ich grinste sie an.
Sie grinste säuerlich zurück. „Ja, und paranoid sowieso. Verdammt, mein ganzer Kopf dröhnt.“
Ich ging ins Bad und tränkte einen Lappen mit kaltem Wasser. Als ich wiederkam, hatte sie das Jackett ausgezogen und sich aufs Bett gesetzt. Darunter trug sie eine weiße Bluse. Ich gab ihr den Lappen und setzte mich neben sie.
„Noch mal von vorne: Hallo Sandra, schön, dich zu sehen.“
Sie gab mir einen Kuss auf die Wange. „Schön, dich zu sehen, Sergej.“
„Es ist komisch, dass ihr mich jetzt Sergej nennt.“
Sie nickte. „Ja, aber wir sollten uns daran gewöhnen. Du bist Sergej Hoffrichter. Ist komisch, für mich auch. Mark und ich reden über dich nur noch als Sergej, seit er den Ausweis hat.“
„Ja, der Ausweis.“ Ich nahm die Jacke vom Stuhl, zog ihn aus der Innentasche und betrachtete ihn. „Der sieht verdammt echt aus. Wo habt ihr ihn her?“
„Mark hat ihn letztes Jahr aus Litauen mitgebracht. Mehr will ich gar nicht wissen. Vielleicht erinnerst du dich, er war das erste Mal da, kurz bevor du … kurz, bevor sie dich erwischt haben.“
Wir sahen uns eine ganze Weile nur an.
„Das ist ziemlich lange her, oder?“, fragte ich schließlich.
„Finde ich nicht“, sagte sie.
Ich schaute auf ihren rechten Arm. Ich wusste, warum sie auch im Sommer eine langärmlige Bluse trug. Sie bemerkte den Blick.
„Es geht viel besser.“
Ich schüttelte den Kopf. „Tut mir leid.“
„Ist nicht schlimm.“
Wir schwiegen wieder. Dann stand ich auf und öffnete die Nachttischschublade.
„Apfelsaft?“
„Ja, danke.“
Ich riss die Safttüte auf, holte ein Zahnputzglas aus dem Bad, füllte es und reichte es ihr.
„Hast du die gekauft?“
Sandra nahm einen Schluck und nickte. „Ja. Ich habe heute das ganze Zimmer ausstaffiert.“
„Wie bist du an dem Inder vorbeigekommen?“
„Ich habe hier auch ein Zimmer, zwei Etagen weiter unten.“
„Wirst du nicht beobachtet?“
„Weiß ich nicht. Aber ich bin ziemlich oft hier, meine Firma bringt hier Geschäftsreisende unter oder kleine Gruppen. Dass ich hier bin, ist nichts Ungewöhnliches.“ Sie schaute an sich herunter. „Deshalb die geschäftliche Verkleidung.“
Ich betrachtete sie nachdenklich. „Warum tut ihr das alles für mich?“
Sie sah mich groß an. „Was?“
„Warum ihr das alles für mich tut? Ihr macht euch strafbar. Und ich habe den Eindruck, ihr habt das alles schon ziemlich lange vorbereitet?“
Sandra starrte mich an, als wäre ich wirklich verrückt. „Hast du das alles vergessen?“, fragte sie leise. „Du kannst das doch nicht alles vergessen haben.“
„Natürlich nicht, aber …“
„Ohne dich hätte ich heute nicht ein paar lächerliche Brandwunden, sondern einen Platz auf dem Friedhof.“
„Das war selbstverständlich, Sandra.“
„Ein Scheiß war das. Ich will dir mal was sagen, mein Freund. Als ich dich kennengelernt habe, war das Erste, was Mark mir über dich gesagt hat, dass deine Frau gerade ermordet worden war. Ich habe dich nie glücklich gekannt. Nie. Und trotzdem, trotz allem, was passiert ist, und allem, was du … vorhattest, warst du als Einziger da, als wir dich gebraucht haben. Seit ich aus diesem Krankenhaus raus bin, ist mein Leben nur immer besser geworden. Ich bin gesund geworden. Mark ist bei mir, wir haben geheiratet.“
„Oh, habt ihr?“
„Ja, haben wir, hat Mark dir auch geschrieben. Aber du hast seine Briefe ja wohl nicht mehr geöffnet. Ich bin glücklich. Und das verdanke ich dir. Und dich haben sie eingesperrt. Mir ist egal, was du getan hast. Ich weiß nur, dass du deine Sarah rächen wolltest, und es interessiert mich nicht, wie du es getan hast. Du hast uns geholfen. Jetzt helfen wir dir.“
Was hätte ich darauf sagen sollen? Dass in all meiner Dunkelheit damals die Liebe zwischen den beiden das einzige Gute war? Ein schöneres Licht als die grelle Fröhlichkeit, die ich beim Töten empfand. Das einzig Schöne in einer ekelhaften, dunklen Welt. Mark, der an Sarahs Grab hinter mir gestanden hatte. Sandra, die mich getröstet hatte. Wer immer ihnen etwas antun wollte, hatte mich zum Todfeind. Was hätte ich ihr sagen sollen?
„Ihr wart für mich da, ich bin für euch da. Ihr schuldet mir nichts.“
„Das sehe ich etwas anders.“ Sie legte beide Hände auf meine. „Außerdem bin ich einfach froh, dass du raus bist. Ich habe dich vermisst.“ Ich grinste sie an. „Damit bist du wahrscheinlich ziemlich alleine.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Die haben damals ein Monster aus dir gemacht. Aber wenn jemand Mark so etwas antun würde, würde ich auch zur Bestie.“
„Vielleicht“, sagte ich, aber ich wusste, dass sie irrte. Mochte sein, dass sie es dachte. Aber sie war nicht dort gewesen. Sie hatte nicht gesehen, was ich getan hatte. Und sie hatte es nicht gefühlt. Vielleicht war sie in der Lage, jemanden für Mark zu töten. Aber würde sie dasselbe dabei erleben? Dieses warme Gefühl, das Richtige zu tun, dieses Glück, wenn die Erkenntnis, dass alles verloren ist, in den Augen der Beute aufdämmert? Wenn es nach mehr schmeckte, nach mehr, mehr, mehr? Ich hoffte, nicht. Ich hoffte es für sie.
„Ganz sicher“, sagte sie.
Ich zwang mich zu einem Lachen. „Ich bin jedenfalls froh, dass ihr mir helft.“
Wir saßen nebeneinander und hingen unseren Gedanken nach, bis sie plötzlich ausgiebig gähnte.
„Au Mann“, sagte sie, „ich sollte dir langsam von dem Plan erzählen, bevor ich einschlafe.“
„Dem Plan?“
„Ja klar. Meinst du, wir haben dir ein Hotelzimmer besorgt und das war’s? Nein, wir werden dir helfen, unterzutauchen. Wir verstecken dich fürs Erste für ein, zwei Jahre auf Mallorca.“
Ich erschrak. „Zwei Jahre? Mallorca? Das geht nicht!“
Sie lächelte mich nachsichtig an. „Was glaubst du eigentlich, was du für die guten Menschen hier bist, Sergej? Du bist das Monster. Jeder brave Papa wird dich in den Büschen suchen, wenn er seine Kinder zur Schule bringt, jede Frau wird denken, dass du es bist, der im Dunkeln hinter ihr geht. Die Kinder werden Geschichten über dich erzählen, Witze und Lieder erfinden. Du wirst erst mal gejagt werden wie kein Zweiter. Wir werden zehntausend Mal verhört werden, nur weil wir deine Freunde sind. Und dann, nach einiger Zeit, folgt das Desinteresse. Bis dein Gesicht in, Aktenzeichen XY‘ und so auftaucht und das ganze Spiel von vorne beginnt. Ich sagte fürs Erste. Entweder, das Interesse an dir ist bis dahin abgeflaut, oder Mark schafft dich irgendwo in den Osten. Das braucht bloß etwas mehr Organisation, aber …“
„Auf keinen Fall. Ich habe noch was zu tun.“
„Was? Was hast du denn bitte zu tun?“ Sie sah mich forschend an. „Oh, ich verstehe“, sagte sie schließlich leise, „es sind noch welche übrig, oder?“
Ich sagte nichts.
„Vergiss es. Du wirst niemanden jagen, wenn dir dein Leben lieb ist. Herrgott, was denkst du eigentlich? Dass du einfach durch die Straßen spazieren und Leute suchen kannst? Du musst von der Bildfläche verschwinden. Du hast sonst keine Chance, siehst du das denn nicht?“
Ich sah es, aber ich sagte nichts.
Sie legte ihre Hände auf meine Wangen.
„Bitte, Sergej. Du bist seltsam, sehr mutig und geschickt, aber du bist nicht unverwundbar. Ich … wir haben Angst um dich. Ich will nicht dein Foto in, Bild‘ sehen und daneben dann lesen ‚Deutschland jubelt – die Bestie ist tot‘ oder so was. Lass uns dich verstecken.“
Ich überlegte lange, obwohl ich wusste, dass sie Recht hatte. Ich musste zustimmen.
Sie erklärte mir den ganzen Plan. Am nächsten Tag würde sie zum Flughafen nach Amsterdam fahren. Mich wollte sie an einer Autobahnraststätte nahe Köln als Anhalter aufpicken. Ich war erstaunt.
„Seit wann nimmst du Anhalter mit?“
Sandra verdrehte die Augen. „Seit wir deine Flucht planen. Wer immer sich über uns informiert, weiß, dass wir die Engel der Landstraße sind. Das ist ein Mist, sage ich dir. Gottlob gibt es nicht mehr viele.“
Von Amsterdam aus würde ich via Quick Check-in nach Madrid fliegen. Dort war bei einem Botendienst der Schlüssel zu einem Schließfach hinterlegt – und ein Ticket nach Mallorca. Freunde von Mark, Engländer, hatten dort ein Haus in den Hügeln, weitab vom Trubel. Mark hatte ihnen schon vor einiger Zeit eine rührselige Geschichte von einem weißrussischen Kollegen namens Sergej erzählt, der große Probleme zu Hause hatte und vielleicht irgendwann würde untertauchen müssen. Die Freunde, er Schriftsteller, sie Journalistin, beide sehr hilfsbereit, hatten sofort erklärt, dass sie gerne eine Weile für den guten Zweck auf ihr Feriendomizil verzichten würden.
„Schreib ihnen mal eine Karte in gebrochenem Englisch“, schlug Sandra vor, „dann freuen sie sich.“
Ich wusste, dass Mark schon lange bei ‚Reporters sans frontiers‘ engagiert war, ich hatte ihn früher manchmal damit aufgezogen und wunderte mich nun ein wenig.
„Ihr bescheißt eure Freunde und Mark verrät seine gute Sache? Klingt gar nicht nach euch.“
„Es gibt gute Freunde und bessere Freunde und gute Sachen und bessere Sachen“, sagte sie knapp.
Mir fiel noch etwas ein. „Wovon soll ich leben?“
Sie lachte. „Oh, du bist ziemlich wohlhabend, weißt du?“
Stimmt, so was hatte Mark auch geschrieben. „Meinst du Sarahs Lebensversicherung? Die …“
„Nein, nein.“ Sie lächelte wieder, aber diesmal etwas bitter. „Du hast Fans. Oder du hattest welche. Die sahen in dir einen strammen Lawand-Order-Typ, Marke ‚Das Gesetz bin ich‘. Es gab einen Unterstützungsfonds, und dem hat ein vergreister, stinkreicher Sack einen Teil seines Vermögens vermacht. Der hat so ziemlich jedem rechten Sammler irgendwas vermacht, und deine Fans gehörten eben auch dazu. Er ist letztes Jahr gestorben. Mark hatte Kontakt zu ihm, und er hat es geschafft, über irgendwelche Strohmänner und zwischengeschaltete Anwälte dein Treuhänder zu werden.“
„Mit dem Konto werdet ihr kaum was anfangen können. Es wird garantiert überwacht.“
Sie lachte gallig. „Unterschätz mir die Typen nicht. Du hast einige Konten in mehreren Ländern und auch Immobilien und Aktien, glaube ich. Ich bezweifle, dass selbst Mark einen genauen Überblick hat. Er achtet nur darauf, dass jeden Monat tausend Franken auf dein Schweizer und tausend Dollar auf dein spanisches Konto gehen.“
„Wie viel insgesamt?“
„Mehr als eine Million. Dollar.“
Mir klappte der Kiefer runter.
Sie lächelte halb. „Ja, ja, es geht dir besser als den meisten Menschen, die dich fürchten. Wir hatten eine Menge Glück bei der Sache. Und, so bescheuert das klingt, es hat irgendwo sogar Spaß gemacht. Du bist zu so was wie Marks Hobby geworden. Allerdings hat er das Ganze mehr und mehr als eine Art Spiel betrachtet. Als du ihn heute angerufen hast, war er ziemlich geschockt.“
„Tut mir leid.“
„Braucht es nicht. Dadurch, dass Mark so viel Zeit und Energie darauf verwendet hat, und das fast von Anfang an, seit du …“
„ … in der Klapsmühle warst …“
„ … ja, danke. Also, weil er so viel da reingesteckt hat, ist es ganz gut durchdacht. Trotzdem, Sergej – das ist alles mit ziemlich heißer Nadel gestrickt. Mark hätte dich lieber im Osten untergebracht, da kennt er sich ja auch besser aus. Er war gerade dabei, den Plan zu entwickeln. Wir werden einiges improvisieren müssen. John und Shirley werden zum Beispiel nicht ewig auf ihr Haus verzichten wollen. Und das war schon ein absoluter Glücksfall. Nur eben Mallorca. Du solltest den Kopf unten behalten, bei all den Deutschen da. Nicht allzu oft in die Städte, nicht an die großen Strände und so. Ein paar von den Nachbarn kennen die Geschichte vom verfolgten Weißrussen, vielleicht helfen die dir.“
„Kein Ballermann.“
„Nee, besser nicht.“
Sie verabschiedete sich mit einem Kuss und ging zurück in ihr Zimmer. Ich schaffte es gerade noch, die Jeans abzustreifen, den Gürtel mit dem Messer auszuziehen und neben mich zu legen, dann verließen mich alle Kräfte und ich fiel in Schlaf.
Ich träumte. Ich war wieder in der Klinik, sie brannte, aber diesmal waren die Gänge nicht leer, überall rannten Gestalten durcheinander, flohen vor den Flammen, die aus allen Richtungen zu kommen schienen. Ich schritt langsam einen Korridor entlang. Wo immer ich vorbeiging, brachen neue Feuer aus und Menschen sanken zu Boden. Ich fühlte eine gewaltige, verderbende Macht in mir und genoss sie. Ich verließ die Klinik, die hinter mir prasselnd und krachend in sich zusammenfiel, und stand auf einer endlosen Ebene aus toter, verbrannter Erde. In der Ferne sah ich eine brennende Stadt, aus der mir zwei Gestalten entgegenkamen, die zu leuchten schienen. Sie wurden immer größer und reichten bald bis zum Himmel. Ich erkannte, dass auch sie in Flammen standen. Etwa auf der halben Strecke zwischen der Stadt und mir blieben sie stehen, zwei gewaltige Figuren, in Mäntel aus Feuer gehüllt, die sie verzehrten. Ich erkannte sie, obwohl der Brand mehr und mehr an ihnen fraß. Es waren Mark und Sandra. Sie winkten mir und riefen mich bei meinem wirklichen Namen.
Ich wachte schweißgebadet auf und wartete darauf, dass die Erinnerung an den Traum wie üblich verging. Aber sie blieb. Ich stand auf, ging ins Bad, pinkelte und wusch mir den Schweiß aus dem Gesicht. Draußen wurde es schon hell. Ich packte meine Sachen, staffierte mich wieder mit Kopftuch und Sonnenbrille aus und verließ das Hotel.
Sandra pickte mich am späten Vormittag an der Autobahnraststätte auf. Wir fuhren bis nach Amsterdam, zum Flughafen. Ich war so angespannt und vorsichtig, darauf bedacht, die Erwachsenen um mich möglichst unauffällig zu beobachten, dass ich fast über zwei Kinder gestolpert wäre, die mir in den Weg traten. Es waren ein Junge und ein Mädchen, beide etwa fünf Jahre alt und seltsam festlich angezogen, sie trug ein weißes Rüschenkleid und schwarze Lackschuhe, er einen grauen Pullunder über einem weißen Hemd, eine ebenfalls graue Hose und auch schwarze Lackschuhe. Ich starrte sie an. Sie starrten zurück.
„Schön, dich zu sehen“, sagte das Mädchen. Es hatte eine helle Stimme, und seine Freundlichkeit klang wie dünner Lack über einer tiefen Leere. Beide begannen gleichzeitig zu lächeln und entblößten blendend weiße Zähne. Sie kamen mir bekannt vor, aber ich war sicher, sie noch nie gesehen zu haben.
„Ja, ich freue mich auch“, versetzte ich. „Und jetzt trollt euch zu euren Eltern, ja?“ Ich blickte mich um, fürchtend, dass unser Beinahezusammenstoß mehr Aufmerksamkeit erregt hatte, als mir lieb sein konnte. Doch niemand achtete auf uns, es war, als würden die vielen Menschen um uns herum uns gar nicht wahrnehmen. Die Kinder sahen sich an, lachten in enervierend gleichem Tonfall und gingen Hand in Hand von dannen.
Ich hatte, entgegen meinen Befürchtungen, keine Probleme einzuchecken, hauptsächlich, weil Sandra ihre Sache großartig machte. Sie hatte ebenfalls ein Ticket gekauft und würde mit einer Maschine, die kurz nach meiner startete, nach London fliegen. Wir kamen beide fast zu spät zum Check-in, und sie lamentierte und zeterte dermaßen, dass der Grenzpolizist und seine Kollegin vom Flughafenpersonal glücklich waren, mich durchwinken zu können.
Das Flugzeug startete, und ich sah die Welt unter mir kleiner werden. Ich hatte das Fliegen immer gemocht, besonders Fensterplatz. Ich sah hinaus und hatte einen klaren Blick auf die Spielzeugwelt unter mir. Es war alles so klein und filigran. Ich legte die Hand ans Fenster. So winzig. So zerbrechlich.
Als könnte ich es alles mit einem Griff zerquetschen.