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3. Der Wildschütz

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Im Mai 1898 fanden nicht nur wieder zahlreiche Touristen den Weg vom Ennstal herauf in diese pittoreske Landschaft, sondern auch ein garstiger Wildschütz.

Am 20. Mai 1898 veranstaltete der Graf seine berühmte Maijagd. Wichtige und selbstverständlich hochrangige Teilnehmer aus Wien, Innsbruck, Mailand, Genua, München, Nürnberg und Prag wohnten jedes Jahr der fröhlichen Schießerei bei und wollten am Berg und im Wald die prächtigsten Alpentiere abknallen.

Am 19. Mai 1898, also einen Tag davor, machten sich der Graf, der Johann, der Brenner Karl und eine Handvoll anderer Jäger auf die Suche, um die schönsten Exemplare für die heitere Maijagd zu lokalisieren, damit die versnobten Jagdgäste nicht lange danach suchen mussten. Den prachtvollsten Steinbock fanden sie relativ schnell auf einem Schuttfeld unterhalb der Kirchenkogel Westwand. Dieser Bock war für einen Mailänder Adelsmann reserviert, der irgendwie mit den Borgias verwandt war. Was hatte der Typ für ein Glück, er musste am nächsten Tag nicht einmal sein Schießgewehr den beschwerlichen Weg hinaufschleppen, denn der Steinbock war schon tot. Blattschuss, das hätte der Johann selbst nicht besser gekonnt.

Als sie über den Septembergrad abstiegen, fanden sie noch eine Gams, die unter denselben Gegebenheiten ums Leben kam.

Am Abend berichtete dann ein Wanderer von zwei toten Gämsen und einem toten Steinbock bei den Petri Spitzen, ein anderer erzählte von einem toten Hirschen beim Grünacher Weiher und eine Familie aus Krems fand drei tote Rehböcke in der Nähe der Krauter Alm. Dort, wo die Almblumen so schön dufteten, zog nun der Gestank der verwesenden Tiere in die schnuppernden Näschen ein.

Blattschuss, Blattschuss, Blattschuss, alles Blattschüsse, das war eine ordentliche Ansage, das gefiel nicht nur dem Johann.

„Katastrophe!“, rief der Graf nur, als er davon erfuhr und einige seiner geschleckten Gäste reisten noch in der Nacht wieder ab. Obwohl die Stimmung keine gute mehr war, trieb die Schießlust die wenigen Verbliebenen am nächsten Tag dann dennoch in die Berge und Wälder. Nur ein großer Erfolg sollte die Maijagd nicht mehr werden.

Vor allem, weil unterhalb der Riffner Mauer am Großen Lärchenstein eine schwarze Gestalt erschien und einem reichen Bankier aus Nürnberg einen erstklassigen Steinbock vor der Nase wegschoss. Des Grafens renommierte Maijagd verkam nun endgültig zum absoluten Debakel.

Der Bonze aus Nürnberg war fuchsteufelswild, das könnt ihr mir glauben. Als er sich wieder im Tal befand, packte er schnurstracks seine sieben Sachen und seine Frau und stürmte aus der Villa.

„Herr von Schildbach, so warten Sie doch!“, rief der Graf ihm nach.

Kurz blieb er stehen, der feine Herr von Schildbach, wandte sich mit glühendrotem Kopf an seinen Gastgeber und brüllte zornig: „Skandal! Einen Skandal veranstalten Sie hier! Ich werde jeden in Nürnberg davon erzählen!“

Dann schnappte er seine gut gekleidete Gemahlin und hastete mit ihr Richtung Kutsche.

Der liebe Graf hatte seine Nerven schon längst weggeschmissen, stand nur fassungslos da und schrie die Gräfin an: „Ja Irmgard, so mach doch bitte etwas! Irmgard!“

Sie machte tatsächlich etwas, und zwar kippte sie sich einen Cognac nach dem anderen in die Birne und lachte dabei nur dumm.

Während der Graf in seinem großen Garten hektisch auf und ab rannte, verließen nach und nach weitere tobende Jagdgäste seinen Prunkbau.

„Was kann denn ich dafür, dass so ein verfluchter Wilderer sein Unwesen treibt? Bleibt doch da, wir können in Ruhe über alles reden!“, rief der verzweifelte Graf.

„Eine Schande! Sie sind eine einzige Schande!“, kreischte ihm die geharnischte Gattin eines Münchner Adeligen zu.

„Jawohl, schleicht euch doch alle, ihr Volldeppen!“, schrie ihnen der Graf zum Abschied hinterher.

Dann riss er einem Wiener Geschäftsfreund, der gerade eilig und mit einer Portion Fremdscham im Gepäck an ihm vorbei schritt, den Koffer aus der Hand und fetzte ihn mit voller Wucht ins Gebüsch, so dass er aufsprang und sich die edle Seidenunterwäsche im dornigen Gestrüpp verfing.

„Du schleich dich auch! Schleicht euch endlich alle!“, brüllte der völlig in Rage geratene Graf bei dieser noblen Aktion und sprang dabei wie das Rumpelstilzchen herum.

Die feine Gräfin konnte gar nicht soviel Cognac trinken, wie sie benötigt hätte, um diesen entspannten Ausklang der Maijagd zu ertragen.

„Schön hast du uns blamiert!“, sagte sie zu ihrem Mann.

Dieser wollte darauf etwas Nettes antworten, aber vor lauter Wut brachte er kein Wort mehr heraus.

Die Irmgard konnte nur noch lachen und ätzte nach: „Vielleicht holst du noch die Blaskapelle, damit sie ihnen zum Abschied wieder den Radetzky-Marsch spielen.“

Der Graf ergriff darauf hin wortlos die Flucht, ging ins Wirtshaus und soff dort so lange, bis er vom Stuhl flog.

Eines war klar: Seine berühmte und sehr beliebte Maijagd konnte er für viele Jahre vergessen.

Aber zum Glück gab es für dieses Schlamassel einen Schuldigen: den Wilderer natürlich.

Am nächsten Tag dachte man, Schöttau befindet sich im Krieg. Der Johann und der Graf hatten völlig den Verstand verloren und drückten jedem eine Waffe in die Hand, der eine tragen konnte. Heeresführer Johann schickte seine Truppen tagelang in die Berge und Wälder, aber sie fanden weder einen Wilderer noch ein weiteres gewildertes Vieh.

Jetzt hätte man meinen können, dass die ganzen friedvollen Männer mit ihren Schießeisen und die extrem aufgeheizte Stimmung, einen schlechten Eindruck auf die Touristen machten. Vor allem der Ludwig vertrat diese Meinung und sah schon sein geliebtes Geld in der Enns davonschwimmen.

Doch das Gegenteil trat ein. So wie wir, war auch ein Großteil der Gäste von diesem uralten, epochalen Kampf Weidmann gegen Wildschütz fasziniert. Die gute, alte Heimatromantik zeigte sich von ihrer kitschigsten Seite, heureka!

Bis Mitte Juni dauerte dieses Theater an und als man da noch nicht einmal den Hauch einer Spur hatte und in all der Zeit kein Tier mehr illegal geschossen wurde, kam der Graf zu der Erkenntnis: „Der Sauhund wollte mir nur meine schöne Maijagd ruinieren!“

Der Johann stimmte dem zu und berief seine radikalen Jagdisten wieder ab. Obwohl, den Wilderer hätte er schon gerne geschnappt, denn er war der unangefochtene Herr im Schöttauer Tal, vor allem was die Jagd betraf. Das bestritt er auch nie, aber der Feind war schon lange auf und davon.

Nach ein paar Tagen zog der traute Frieden wieder ein und der Johann gönnte sich eine feine Gamsbockjagd. Endlich konnte er wieder selbst ein Wildvieh schießen und musste nicht den bereits geschossenen Tierlein hinterherjagen. Hoch oben am Schöttauer Joch, sah er ein Prachtexemplar und visierte es sofort an. Just in jenem Moment, in dem er gerade den Abzug betätigen wollte, erschien in der Ferne eine schwarze Gestalt und schoss den Bock zuerst. Ehe es der Johann überhaupt realisieren konnte, war das dunkle Geschöpf auch schon wieder verschwunden. Sofort hetzte unser Freund hinterher. Wie der eben gewilderte Gamsbock in besseren Tagen, sprang er durch die Felsen, aber er hatte keine Chance, der garstige Wilderer war längst schon über alle Berge.

Das verstand der Johann als einen persönlichen Angriff auf ihn und er rief wieder den Krieg aus.

Nun drohte die Situation komplett zu eskalieren. Der Johann hatte seinen Verstand in die Enns geschmissen und drehte völlig am Rad.

Kennt ihr dieses Bild aus den alten Westernfilmen, wo man die schwarzen Silhouetten von ein paar Outlaws sieht, wie sie gerade mit dem Gewehr auf der Schulter Richtung Sonnenuntergang in die Schlacht schreiten?

Haargenau so sah es aus, als der Johann, der Graf, der Brenner Karl und ein paar andere Jäger wie der Pichler Wilhelm und der Ortner Franz, wieder loszogen, um den Feind in die Knie zu zwingen.

Zum Glück wussten unsere Freunde damals nicht wirklich über den Wilden Westen Bescheid, sonst wäre Schöttau vermutlich voll von diesen „Wanted – Dead or Alive“ Steckbriefen gewesen.

Das ganze Spiel wiederholte sich von vorne. Als sich die Lage nach ein paar Wochen wieder entspannte, ging der Johann erneut auf die Pirsch. Wieder erschien ihm in der Ferne eine schwarze Gestalt, wieder schoss sie ihm einen Gamsbock vor der Nase weg und wieder verschwand sie spurlos.

Was dann kam, könnt ihr euch sicherlich vorstellen, oder?

Dieses Katz- und Mausspiel zog sich bis in den Herbst hinein und der bitterböse Wildschütz wurde dabei immer frecher. Er war ein schlaues Kerlchen und wusste, wer wo und wann patrouillierte. Das nutzte er selbstverständlich aus, wilderte fröhlich vor sich hin und hielt alle Jäger zum Narren.

Wie bitte? Wie das mit der Falle vom Pichler Wilhelm genau war?

Nun ja, wollt ihr seine Version hören oder die Wahrheit?

Die Wahrheit? Perfekt.

Der Pichler Wilhelm hatte an einem wunderschönen Spätsommertag einen fürchterlichen Streit mit seiner Frau. Daraufhin trank er eine beängstigende Menge Schnaps und kam dabei auf die glorreiche Idee, im Vollsuff nach dem Wilderer zu suchen. Mit dem schussbereiten Schießgewehr in der Hand, torkelte er durch die herrlichen Bergwälder der herbstlichen Abendsonne entgegen.

Der durch den vielen Vogelbeerschnaps schon stark beeinträchtigte Gleichgewichtssinn, brachte ihn zusammen mit der Schützenhilfe des holprigen Steigs, nach langem Kampf, schlussendlich doch zu Fall. Als Zugabe, schoss er sich bei diesem Kunststück dann noch selbst ins Knie. Da dies jetzt nicht die epische Heldengeschichte war, die man gerne seinen Freunden am Stammtisch erzählt, dichtete er sie einfach ein wenig um. Wieder so ein Abenteurer, der etwas ins Knie bekam.

That's it, es gab also nie eine Falle, der Wilderer schoss ihm auch nicht in sein Beingelenk und irgendwelche Drohungen sprach er auch nie aus. Es war alles nur ein Märchen!

Was? Nein, ich kenne keine „Märchenstunde“.

So, zurück zu unserem lieben Wildschütz.

Der Johann brannte weiter vor Wut, in seinem Tal war kein Platz für einen Wilderer. Niemand wagte es, in seinem Tal zu wildern. Niemand wagte es, sich ihm entgegen zu stellen. Er war der Johann und er war der Herr. Den ganzen Herbst lang waren seine Gedanken nur auf ihn gerichtet, auf ihn und seine blutige Rache an ihm. Tagelang kam er nicht nachhause, übernachtete wie Bear Grylls in der Wildnis und suchte jede einzelne Sekunde nach seinem Erzfeind. Nicht einmal die ersten Schneefälle konnten ihn davon abbringen. Frei nach Wolfgang Ambros: Er hatte sich seit 10 Tagen nicht mehr rasiert und auch nicht mehr gewaschen.

Nur hatte er eben keine Flasche Rum in der Manteltasche.

„Johann, so bleib doch einmal da! Wo soll denn das alles enden?“, sagte seine Frau, die liebe Anna, zu ihm, als er sich mit ungepflegtem Look nach ewigen Zeiten wieder einmal daheim blicken ließ.

Ihr rachsüchtiger Mann atmete tief durch und entgegnete ihr mit einem bösartigen Feuer in seinen Augen und in seinem Herzen: „Ich muss ihn finden und töten, ich muss, ich kann nicht anders. Er hält uns seit fast einem halben Jahr zum Narren, er hat mir zwei Böcke vor der Nase weggeschossen, in meinem Tal! Ich werde ihn finden und ich werde über ihn richten!“

Die Anna schlug ihre Hände zusammen und sagte: „Du hast ja völlig den Verstand verloren!“

Den hatte er tatsächlich verloren, der Johann. Er nahm eines der zahlreichen Bilder mit dem Erzherzog Johann darauf von der Wand und hielt es seiner Frau vor die Nase.

„Wenn das der Erzherzog noch erleben würde, durchdrehen würde er!“, sagte der Johann.

Seine Frau schüttelte den Kopf und meinte: „Jetzt lass doch den armen Erzherzog in Frieden!“

Ihr Mann hängte das Bild wieder zurück an die Wand, ging zum Fenster und sagte: „Irgendwo da draußen ist er und ich werde ihn finden und zur Strecke bringen.“

Obwohl die dunklen Höllenflammen in ihm loderten, behielt er bei seiner Drohung eine stoische Ruhe und blickte dabei starr in die Berge.

„Du hast kein Recht dazu, du kannst ihn nicht einfach töten.“, meinte seine verängstigte Gemahlin.

Der Johann sah sie mit eiskaltem Blicke an und sprach ernst: „Ich allein habe das Recht.“

Dann verschwand er und ward nicht mehr gesehen.

Seine krankhafte Suche wurde schlussendlich in einem Moment des Zufalls belohnt.

Am 3. Dezember 1898 unternahmen der Johann und der Brenner Karl eine kleine Winterwanderung durch die Schöttauer Berge. Als hätte es der Johann geahnt, nahm er sein Gewehr mit.

Die beiden Wandersburschen standen oben auf der Leitnermauer und genossen bei einem zarten Lüftchen die herrliche Aussicht über das verschneite Dachsteinland. Ein traumhaftes Bild, wie der große, in weiße Kleider gehüllte, König mit seiner steinernen Krone friedlich vor sich hinschlummerte. Bis ans Ende ihrer Kimmung glitzerte der Schnee bezaubernder als alle Diamanten dieser Welt.

Plötzlich entdeckte der Brenner Karl unten am Wandfuß eine Gestalt in schwarzem Lodengewand, die sich langsam durch den Schnee von der Wand entfernte.

Der Karl tippte dem Johann auf seinen stattlichen Oberarm und deute mucksmäuschenstill auf den Wilderer, der die beiden vermutlich gar nicht bemerkte.

Ohne auch nur einen Wimpernschlag lang zu zögern, zog der Johann sein Gewehr und schoss. Dieser Schuss hallte durch die Täler, man konnte ihn der gesamten Steiermark hören, so fühlte es sich zumindest für den Johann an.

Blattschuss, wie immer. Sein Erzfeind fiel mit dem Gesicht voran in den Schnee, der rund um ihn einen schönen roten Anstrich bekam.

„Ich habe gesiegt!“, rief der Johann in die schier unendliche Bergwelt hinaus und streckte dabei sein Schießeisen triumphal in die Lüfte.

Hurtig stiegen der Brenner Karl und er zu der Leiche ab und drehten sie um.

Sie sahen sich das Gesicht des Wilderers ganz genau an und der Johann fragte: „Hast du den schon einmal gesehen?“

„Nein, ich glaube, niemand in Schöttau hat ihn jemals gesehen.“, antwortete der Karl.

Mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht, meinte der Johann: „Dann sorgen wir, dass das so bleibt.“

Daraufhin ließen sie die Leiche für alle Zeiten verschwinden und kehrten ins Tal zurück.

Wer dieser Wildschütz gewesen war, auf welchen Namen er gehört hatte, aus welchen Motiven er gehandelt hatte, sollte wohl niemand mehr erfahren, aber es interessierte auch niemanden. Hauptsache, er war nun endlich so tot wie sein gewildertes Vieh.

Die erfreuliche Nachricht verbreitete sich in Schöttau wie ein Leuchtfeuer und der Graf, der erst vor ein paar Tagen wieder in unsere Lieblingsstadt gekommen war, um dem geselligen Krampustreiben am 5. Dezember beizuwohnen, veranstaltete zur Feier des Tages ein großes Fest.

Wie ein Superstar wurde er dort empfangen, der Johann. Und wie einen Helden verehrten sie ihn.

Als er mit breiter Brust und einem übertriebenen Selbstwertgefühl durch die Menge wandelte, klopften ihm alle stolz auf die Schulter und stimmten euphorische Jubelchöre an.

Der Johann war wieder einmal der Größte und er hatte seine Vormachtstellung erneut eindrucksvoll untermauert.

Ein nettes Heldenepos, keine Frage, aber gerade einmal vier Monate später, schien der dunkle Dämon zurückzukehren.

Und da sind wir nun wieder, in den ersten Apriltagen des Jahres 1899 und stehen vor des Grafens Haustüre. Der Gamskopf war mittlerweile längst entfernt und der Brenner Karl erschien im Nebel mit drei Dutzend Jägern im Schlepptau.


Schöttau - Ein Heimatdrama

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