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Wiedersehen

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2. August, Irun → San Sebastian

Nachdem ich Irun hinter mir gelassen habe, führt ein steiler Aufstieg auf ein Plateau, welches mit dem Santuario de Guadalupe gekrönt ist. Die Kirche aus dem sechzehnten Jahrhundert ist in der großen Ära der Seefahrt erbaut worden, rundum kann man das Meer sehen. Die Aussicht könnte idyllisch sein, wenn der Nebel nicht so dicht wäre und kein Nieselregen fallen würde.

Die Trübsal löst sich auf, als ich ein bewaldetes Gelände hinter mir gelassen habe und mir der Blick hinunter eine grandiose Aussicht auf einen Hafen bietet. Mächtige Lastschiffe und Ruderboote machen sich bei der Fahrt durch einen engen Kanal gegenseitig den Platz streitig.

Unterhalb von mir befindet sich eine Burgruine. Nachdem ich viele Stufen an ihr vorbei bis zum Hafen hinabgestiegen bin, zieht mich die malerische Altstadt von Pasai Donibane in ihren Bann. Deren Häuser sind so eng zusammengerückt, dass sogar die Straße darunter verschwindet. Ich wandere durch Tunnel an grün-roten Flaggen und Plakaten vorbei, die für ein autonomes Baskenland werben und erreiche eine Anlegestelle. Am Ufer ist eine Pilgerfigur aus Metall aufgestellt, die ein Ruder in der Hand hält. Ich hatte gelesen, dass man sich komfortabel mit dem Boot zur anderen Seite bringen lassen könnte. Wenn ich das täte, wäre ich ein Touregrino. So bezeichnet man Pilger, die sich per Taxi von Ort zu Ort kutschieren lassen. Andere sollen das ruhig tun, doch mein Weg ist das nicht. Meine Füße können mich noch weit tragen, zudem habe ich es nicht eilig. Ich will jeden Meter des Camino del Norte in vollen Zügen genießen. Nicht in einer überfüllten Bahn, sondern zu Fuß.

Als ich die Anlegestelle und die malerische Stadt hinter mir gelassen habe, folgt totale Ödnis. Die Neubausiedlungen sind wenig abwechslungsreich und als ich den industriell genutzten Teil des Hafens erreiche, sehe ich nur noch Schrott. Unmengen von Schrott. Aus dem, was über die See angeliefert wurde, hatte man ein gigantisches Gebirge aus Altmetall errichtet. Mit einem Güterzug wird es weitertransportiert, an dem komme ich am Ende des Geländes vorbei. Während ich auf dem Seitenstreifen der Autobahn vorangehe, führe ich ein stummes Selbstgespräch.

Ich hätte mir die fünf Kilometer der totalen Monotonie mit einer kurzen Bootsfahrt ersparen können. Doch auf der allerersten Etappe des Caminos so einen Kompromiss einzugehen, schien mir absurd. Wäre mir jedoch klar gewesen, was ich mir durch diesen Umweg eingebrockt habe, wäre eine Überfahrt die bessere Entscheidung gewesen.

Während die Temperaturen ansteigen, gestaltet es sich schwierig, einen geeigneten Weg vom Hafen durch Vorstadtsiedlungen bis zum heutigen Ziel zu finden. Als ich den Sandstrand endlich vor mir sehe, fällt eine Last von mir. Ich bin angekommen. Es ist San Sebastian mit seiner schier endlosen Strandpromenade. Leider darf ich es mir nicht erlauben, eine längere Pause einzulegen und die Sonne zu genießen. Die Erinnerung an den gestrigen Pilgeransturm treibt mich vorwärts. Mein Umweg hat mich viel Zeit gekostet und vermutlich bin ich schon zu spät. Wenn ich mich beeile, kann ich in der Unterkunft vielleicht noch den letzten Platz erwischen.

Nach meinen Informationen gibt es für Pilger nur die Jugendherberge, diese befindet sich erst ganz am Ende von San Sebastian. Nach unzähligen Schritten die Promenade entlang und nach einem Tunnel weist der gelbe Pfeil nach links, bergauf. Nach wenigen Metern entdecke ich schon den gesuchten Hinweis an einem Gebäude. Die Herberge. Ich bin angekommen. Doch ich hätte mir Zeit lassen können, denn die Herberge ist noch nicht geöffnet und bis auf eine kleine Schülergruppe wartet niemand.

Nachdem ich mich eingerichtet habe, nehme ich Kontakt zu Javi auf. Den spanischen Pilger habe ich auf dem Camino Francés kennengelernt. Er wohnt in San Sebastian, nicht weit von der Herberge und er verspricht, in wenigen Minuten mit dem Auto hier zu sein. Ich warte am Eingang, als plötzlich eine Kolonne von Polizeiautos vorbeifährt. Die Straße wird abgesperrt. Eine Stunde lang passiert nichts, danach rauschen Radfahrer vorbei. Es folgen unzählige. Mal fährt ein einzelner den Berg hinab, mal eine größere Gruppe. Während die Leute am Rand applaudieren, denke ich an Javi. Irgendwo steht er mit seinem Auto an den Absperrungen und kommt nicht durch. Nach zwei Stunden ist der Spuk fast vorbei, lustig dekorierte Kettcars und Dreiräder fahren vorbei und nach einem kurzen Seifenkistenrennen wird die Absperrung aufgehoben. Die Clásica San Sebastián ist beendet.

Nach dem Zwischenfall und einer verspäteten Begrüßung begebe ich mich mit Javi an die Küste, um den Strandbesuch nachzuholen und das sonnige Wetter zu genießen. Nach einer Abkühlung im Meer lasse ich mich von seinem besonderen Tipp überzeugen, den Monte Igueldo am Ende der Küste zu besichtigen. Mit der Bergbahn geht es hinauf, auf dem Plateau befindet sich ein umfangreicher Themenpark. Man kann mit dem Boot auf einem Wasserlauf rund um den Hügel fahren, etwas weiter sind Fahrgeschäfte und Stände aufgebaut. Bevor wir uns dem leiblichen Wohl widmen, führt Javi mich auf eine Terrasse.

»Es ist der schönste aller Jakobswege. Auf den folgenden 800 Kilometern wirst du das Meer stets auf deiner rechten Seite sehen.« Er weist zum bewaldeten Gebirge. Dunkles Grün, so weit das Auge reicht. In der Tiefe hört man die Brandung gegen die Felsen hämmern und sieht Wellen, die sich in weißer Gischt aufbäumen. Vom diesem Hügel hat man eine wunderbare Fernsicht.

Nach dem sagenhaften Blick auf die kommende Etappe gehen wir weiter. Javi zeigt zur Altstadt und weist eine Anhöhe hinauf. Dort thront ein mächtiges Gebäude mit zwei Türmen.

»Dies war früher der Bischofssitz. Es ist mit Abstand das größte Gebäude und wird heute als Schule genutzt«, erzählt er und zeigt weiter in die Ferne, zum Ende der Stadt. »Dort befindet sich die teuerste Privatwohnung von ganz Spanien. Die ist nichts Besonderes, doch San Sebastian ist die begehrteste Stadt unter den Spaniern. Sogar der einstige Diktator General Franco hatte hier seine Sommerresidenz errichtet.«

»Wie wäre es mit Bier?«, frage ich ihn. Ich hatte genügend über die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt erfahren, mittlerweile setzt die Dämmerung ein.

»Okay«, antwortet er und wir begeben uns zu einer der Jahrmarkt-Buden. »Ich gebe die erste Runde aus, du die zweite.«

Er reicht mir einen Plastikbecher mit Bier, bis zum Rand gefüllt und frei von Schaum. So, wie es sich auf dem Jakobsweg gehört. »Wie war die erste Etappe?«

»Derzeit sind unglaublich viele Pilger unterwegs«, antworte ich. Zum Glück kann ich mich mit Javi fließend in Englisch verständigen.

»Das wundert mich nicht. Im Juli und August sind viele auf dem Camino del Norte unterwegs, die eigentlich gar keine Pilger sind. Viele wandern nicht und sitzen nur am Strand.«

Während ich wie verabredet das zweite Bier besorge, entschuldigt er sich, dass er nicht viel über den Küstenweg sagen könnte, da er ihn noch nicht unternommen hätte. Derweil meldet sich mein Hunger, da ich ohne Frühstück gestartet bin und mich auf dem Weg nur mit einer Tortilla gestärkt hatte. Wir verlassen den Hügel, schlendern durch die Innenstadt und sehen uns nach Restaurants um. Meine Hoffnung, jenes auf dem Jakobsweg beliebte Pilgermenü für 10 Euro auf einer Speisekarte zu entdecken, erfüllt sich nicht. Selbst die preisgünstige Alternative namens Plato combinado wäre mir recht, doch auch die gibt es nirgends. Stattdessen wird Essen zu Preisen ab 18 Euro aufwärts angeboten und zwar ein Getränk. Wir klappern das neunte Restaurant ab und können uns für kein Angebot entscheiden. Zudem hatte uns keine der Lokalitäten wirklich angesprochen, da wir an diesem lauwarmen Abend gerne draußen sitzen würden.

»Ein preisgünstiges Lokal kenne ich leider auch nicht. Im Baskenland ist alles viel teurer als in anderen spanischen Regionen«, klärt er mich auf.

Als wir um die Ecke biegen, entdecken wir ein Restaurant. Es hat eine Glasfassade und davor eine Terrasse, auf der ein Tisch unbesetzt ist. Es ist die einzige Gelegenheit, bei der wir draußen sitzen können. Es wird ein Menü beworben, das mit Aufpreis auf der Terraza 20 Euro kosten würde. Mittlerweile ist mir klar, dass eine Suche nach etwas Preisgünstigerem in dieser Stadt eine Illusion ist.

»Wie wäre es hier?«, fragt er und ich nicke kurzentschlossen.

»Es gibt für Donostia typische Spezialitäten«, sagt er nach einem Blick auf die Karte und übersetzt die Auswahlmöglichkeiten, da ich daraus nicht schlau werde. Wir entscheiden uns für Gemüselasagne als Vorspeise. Als Hauptgericht wählt er Gambas und als Dessert Eiscreme, ich entscheide mich für Lamm und Flan als Nachspeise. Wenn ich Glück habe, ist es nicht der Fertigpudding, sondern die besonders leckere Spezialität Crema Catalana.

Nachdem Javi die Bestellung aufgegeben hat, bin ich neugierig, was es mit der Bezeichnung Donostia auf sich hat. Den Namen hatte ich häufiger gelesen, dessen Bedeutung hatte sich mir bisher noch nicht erschlossen.

»Donostia ist der baskische Name von San Sebastian.«

»Aha.« So einfach. Ich frage ihn: »Kannst du baskisch?«

»Ein wenig. Nachdem ich mit meinen Eltern ins Baskenland umgezogen war, hatte ich an der Schule begonnen, die Sprache zu lernen. Es gibt fast niemanden, der damit als Muttersprache aufgewachsen ist. Denn zur Zeit der Franco-Diktatur war baskisch streng verboten und auch die anderen regionalen Sprachen wurden unterdrückt. Die Hochsprache Castellano sollte zum Standard werden. Nach dem Ende der Diktatur wurde das Verbot jedoch aufgehoben und man begann, die Vielfalt der Sprachen wiederzubeleben.«

Während wir plaudern, werden die Speisen serviert. Diese sind sehr übersichtlich. Mein Teller mit Lasagne ist nach drei Löffeln leer. Meine Lamm-Spezialität stellt wenig mehr dar als drei Knochen zum Abnagen. Dennoch schmecken die Gerichte lecker, besser als gar nichts, zudem haben wir eine Flasche Wein inklusive. Wir unterhalten uns über Urlaubspläne. Für Javi wäre es wegen seiner Projektarbeit unmöglich, Urlaub zu nehmen. Genauso wenig könnte er mehrere Wochen auf dem Küstenweg wandern. Dafür hat er geplant, nächstes Jahr die ungarische Pilgerin in ihrer Heimatstadt Budapest zu besuchen. Auf dem portugiesischen Jakobsweg hatte sich Agnes unserer Gruppe angeschlossen und unterwegs hatten die beiden zusammengefunden.

Javi will mir noch etwas Besonderes zeigen. Ein Kunstwerk, das beim abendlichen Wellengang seine Wirkung entfaltet. Wir gehen über den leeren Sandstrand wieder in Richtung Monte Igueldo. Am Fuß des Hügels nimmt die Uferpromenade eine Abzweigung zum Meer und endet dort an einer Aussichtsplattform, auf der sich einige Kinder amüsieren. Ein Mädchen steht dort, ein Zischen ist zu hören, der Rock wird hochgewirbelt und Haare fliegen in die Höhe. Eine Sekunde dauert der Spuk und die Kinder fallen in wildes Gelächter.

»Das hat sich ein Künstler ausgedacht. Unter der Plattform befindet sich ein Hohlraum, der mit dem Meer verbunden ist«, erklärt Javi das Phänomen. »Die Wellen füllen den Raum und verdrängen die Luft, die nach oben geführt wird.«

Das muss ich auch ausprobieren. Ich stelle mich auf eine der Öffnungen am Boden und warte. Ich höre, wie das Wasser donnernd gegen die Felsen kracht und einen Augenblick später fühle ich den Luftzug und Meerwasser. Es macht riesigen Spaß, auch wenn man nass wird. Wir amüsieren uns wie Kinder. Mit der Zeit wird es jedoch kalt und wir begeben uns zurück zum Strand. Eine Strandbar ist geöffnet und mit dem letzten Bier des Tages stoßen wir auf den Camino an.

»Hast du andere vom Camino Francés wiedergetroffen?«, fragt er.

»Paolo war vor zwei Monaten zu Besuch in Heidelberg, wir haben das Schloss besichtigt«, antworte ich. Der witzige Italiener war mit Javi auf dem Camino Francés unterwegs. Auf den Schlussetappen hatte ich die beiden kennengelernt.

»Er war vergangenen Herbst beim baskischen Rockfestival mit dabei«, erzählt Javi. »Drei Tage zelten, saufen und Hardrock-Musik.«

Ich bewundere Paolo. Ständig reist er durch die Welt und ist überall mit von der Partie, wo es etwas zu Feiern gibt.

Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich zur Unterkunft zurückkehren muss. Die Pforten der Herberge schließen um 1 Uhr, die Zeit ist knapp geworden. Javi bringt mich mit dem Auto zur Unterkunft. Aus dem Zustand seines Fahrzeuges schließe ich, dass er als freiberuflicher Programmierer kein Vermögen verdient. Sein alter VW-Passat ist ein Bastler-Fahrzeug. Die Hinterbank fehlt und beim Einsteigen muss man die Autotür festhalten, damit sie nicht herausfällt.

Der Jakobsweg am Meer

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