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Pilgeransturm

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3. August, San Sebastian → Getaria

Die Etappe beginnt mit einem steilen Aufstieg. Nachdem ich die Stadt hinter mir gelassen habe, befinde ich mich in einer Naturidylle und dem absoluten Kontrast zur pulsierenden Stadt San Sebastian. Ich sehe Kühe, die genüsslich auf saftigen Wiesen mampfen oder faul in der Sonne liegen. Von meiner Gegenwart lassen sich die mächtigen Tiere nicht stören. Wie Javi versprochen hatte, liegt der Ozean tiefblau zu meiner rechten Seite. Diese grüne, hügelige Landschaft mit vielen Gehöften hat eine Ähnlichkeit mit dem Allgäu.

Parallel zum Camino führt ein Stromkabel in vier Metern Höhe. Zu hoch für mich, jedoch nicht für das Eichhörnchen, das mich eine Weile begleitet. Hat es noch nie einen Pilger gesehen? Ist es neugierig? Das Eichhörnchen verlässt das Stromkabel wieder und verschwindet in den Laubbäumen. Offensichtlich war ich für dieses Wesen doch nicht so interessant.

Der Weg ist sehr abwechslungsreich. Vermutlich ist es eine alte Römerstraße, die sich vom Meer abwendet und talwärts führt. So ganz stimmt es mit dem beständigen Meeresblick doch nicht. Ich komme an mittelalterlichen Ruinen vorbei und sehe eine Pilgerherberge am Wegesrand. An diesem Vormittag ist es noch zu früh, um mich einzuquartieren, dennoch trete ich ein und schaue mich um. Kein Mensch ist anwesend. Ich wandere durch das Haus und gelange durch den Hinterausgang auf eine Terrasse. Dort finde ich, wie ich gehofft hatte, einen Stempel. Ich drucke mir einen Sello, wie die Spanier es nennen, in den Pilgerausweis. Diese Stempel sind für Pilger das, was für einen General die Orden sind. Zuhause sehe ich mir diese gerne an oder zeige sie stolz vor, wenn ich von meiner Wanderung auf dem Camino berichte. Der Pilgerausweis ist zugleich die Eintrittskarte für die Pilgerherbergen. Falls ein Herbergsverwalter kontrollieren sollte, so habe ich mit den Stempeln den Beweis, dass ich den Weg aus eigener Kraft zurückgelegt habe. Ich verstaue das Kleinod in meinem Rucksack und setze den Weg fort.

Die mittelalterliche Stadt, die ich kurz darauf erreiche, wirkt völlig ausgestorben. Es ist Mittagszeit und alle halten Siesta, denke ich. Die Kirche zu meiner Linken weckt meine Neugier. Sie scheint auf einer Art Burgmauer errichtet worden zu sein. Die Straße daneben fällt steil ab, sodass sich die Burgmauern von der Basis gesehen in eine Höhe von drei bis vier Stockwerken erheben. Die Türen der Kirche sind leider verschlossen, dennoch hat sich der Gang um die Kirche gelohnt. Auf halbem Weg werfe ich einen Blick über die Dächer auf eine Bucht. Die Pfeile weisen eine Treppe hinab und ich folge diesen abwärts, bis ich mich fast auf Meereshöhe befinde. Plötzlich wird mir klar, warum dieser Ort bisher wie ausgestorben wirkte: alle Bewohner sind hier versammelt, sie feiern! Auf einem überfüllten Platz stehen sie dichtgedrängt und lauschen einer Musikkapelle. Diese Gelegenheit nutze ich und nehme am Rand eines Brunnens Platz. Nach einer halben Stunde entscheide ich mich jedoch, meinen Weg fortzusetzen. Die Musik begeistert mich nicht wirklich, sie hört sich an wie deutsche Vereinsmusik.

Am Ende des Ortes erfahre ich, wie der Ort hieß: Orio. Der Weg führt um die ganze Bucht herum, bis ein Wegweiser nach links weist. Ich durchquere einen heruntergekommen wirkenden Campingplatz, lasse diese unattraktive Übernachtungsmöglichkeit schnell hinter mir und wandere einen Serpentinenweg hinauf, der durch Weinberge führt. Während sich dieser viele Höhenmeter hinaufschraubt, gerate ich ins Schwitzen. Mittlerweile ist es früher Nachmittag und bestes Strandwetter. Wolkenloser Himmel und schätzungsweise 35 Grad im Schatten. Zum Wandern kaum geeignet und eine Situation, bei der ich zum Philosophieren tendiere. Mir kommt das Thema Franco-Diktatur in den Sinn. Wie konnte es Menschen geben, die ihre Selbstbestimmung vollkommen aufgaben, um sich jemandem zu unterwerfen? Ein kurzer Handstreich eines Kumpanen hätte genügt, um ihn ins Jenseits zu befördern.

Während mir die Hitze der prallen Sonne zu Kopf steigt, überlege ich mir, wie ich mich als Diktator machen würde. Ich würde mir eine Narrenkappe aufsetzen und meine Minister mit einer lustigen Tracht ausstatten.

Der Anstieg endet so plötzlich, wie sich meine Träume in Luft auflösen. Eine erfrischende Brise sorgt für Abkühlung. Ich sehe vor mir eine mit Kuhmist gepflasterte Straße, meine politische Karriere wird wohl warten müssen.

Einige Meter weiter taucht ein Schild auf, das auf zwei Varianten hinweist. Der kürzere Weg wäre, dieser Straße zu folgen. Die andere Strecke ist länger und führt zum Meer. Bisher war ein Umweg auf dem Camino stets die bessere Variante und daher entscheide ich mich für die zweite Alternative. Diese führt mich durch einen Campingplatz, an Zelten und Surfbrettern vorbei, und auf einen mit Gras und Kräutern bewachsenen Hügel. Dieser bietet einen Panoramablick auf die weite Küste. Es war abermals die richtige Entscheidung, diesen Umweg zu wählen, der mich mit einer atemberaubenden Aussicht belohnt. Ich folge einem Trampelpfad durch Dünenlandschaft, steige eine Holzbohlentreppe hinab und genieße die Aussicht auf eine malerische Bucht. Im Schneckentempo geht es abwärts, da Bikini-Schönheiten vor mir ein Surfbrett schleppen und ich sie erst an der nächsten Wende überholen kann. Als ich unten angekommen bin, streife ich die Schuhe ab und setze den Fuß in den Sand. Es ist, als würde ich durch das Paradies wandern, kilometerweit. Doch bald muss ich den Strand verlassen, da sich laut Plan hier die Pilgerherberge befindet. Zarautz. Was für ein seltsamer Name für einen Ort.

Auf dieser Etappe bin ich bisher keinem einzigen Pilger begegnet, doch was sehen nun meine müden Augen? Einen Massenauflauf vor der Herberge! Möglicherweise sind es vor allem Touristen, die hier eine billige Bleibe für die Nacht suchen. Das ist so was von unfair!

Die Unterkunft wirkt wie eine ehemalige Schule im 70-er Jahre-Stil. Mit Sicherheit wurde die Farbe an der Fassade seit Jahrzehnten nicht mehr aufgefrischt. Ich werfe einen Blick auf das Eingangschild, diese Herberge bietet Platz für 30 Gäste und öffnet erst um 16 Uhr. Es ist halb drei.

»Es sind schon 34 Pilger hier«, spricht mich einer von ihnen an und zeigt zum Garten, in dem mehrere Gruppen wartend zusammensitzen. »Es wird schwierig, noch einen Platz zu bekommen.«

»Manchmal gibt es Extraplätze. Ich bin nicht anspruchsvoll. Gibt es Matratzen, auf denen man schlafen könnte?« Ich blicke ihn ratlos an.

»Vielleicht. Aber keine Ahnung, ich wollte nur berichten, dass wir schon zu viele sind. Der nächste Ort liegt fünf Kilometer weiter, dort gibt es auch eine Herberge.«

Ich überlege, ob ich kontrollieren sollte, ob es wirklich mehr als dreißig Personen sind. Oder soll ich bis vier Uhr warten und den Herbergsverwalter fragen, ob ich auf dem Boden schlafen könnte? Nein, das wäre keine gute Idee. Wenn ich die Antwort nach einem Schlafplatz erst in eineinhalb Stunden bekomme, kann ich in der Zeit auch fünf Kilometer weitergehen.

»Okay. Ich versuche es eben im nächsten Ort.« Ich verabschiede mich und begebe mich wieder auf den Camino.

Am Ortsende weist eine Karte am Wegesrand erneut auf zwei Alternativen hin. Man kann über den Berg klettern, aber mein Bedarf an Höhenmetern ist gedeckt und ich will mittlerweile nur noch ankommen. Daher entscheide ich mich für die zweite Variante. Der kombinierte Fuß- und Radweg am Meer bietet eine wundervolle Aussicht auf einen riesigen Felsen, der aus dem Meer ragt. Dort befindet sich auch die Stadt Getaria. Die Stadt wirkt äußerst vielversprechend, was Sehenswürdigkeiten angeht. Schon die merkwürdige Burg am Ortsbeginn weckt meine Neugier. Lateinische Inschriften und ein riesiges rotes Kreuz lassen mich erst an eine mittelalterliche Kreuzritterburg denken, dafür wirkt dieses seltsame Bauwerk jedoch zu neu. Beim näheren Blick entpuppt sich das Bauwerk als kaum mehr als eine Fassade. Es erweckt den Eindruck, als wäre es im Anflug von Größenwahn erschaffen worden. Auf dessen Portal thront eine überlebensgroße Figur, die wie eine Kreuzung zwischen einem Engel und unserem Hermannsdenkmal aussieht.

Meine Hoffnung auf eine baldige Stadtbesichtigung wird getrübt, da ich erst einen Platz in der Pilgerherberge finden muss und die Unterkunft liegt außerhalb des Ortes. Der steile Anstieg macht mir ein wenig zu schaffen. Diesmal habe ich Glück. Der Herbergsverwalter ist anwesend und versichert mir, es gäbe reichlich freie Betten.

»Gibt es eigentlich Leute, die den Umweg über den Berg nehmen?«, frage ich neugierig. »Ist es dort landschaftlich interessant?«

»Der Weg am Meer entlang existiert erst seit einem Jahr. Vorher mussten alle den Hügel überqueren, diese Variante ist aber recht langweilig und lohnt sich nicht.«

Diesmal habe ich wohl nichts verpasst. Während der Verwalter mich in die Gästeliste einträgt, nutze ich die Gelegenheit, ihn nach der Bedeutung des Denkmals zu fragen.

»Es ist Elcano gewidmet«, antwortet er. »Er ist der erste, der die Welt umsegelt hat.«

Nach einer Dusche nutze ich die Gelegenheit, meine Klamotten zu waschen. Das vorige Thema geht mir nicht aus dem Kopf. Der Erste Weltumsegler war meines Wissens Magellan.

Nachdem ich meine Wäsche im Garten auf die Leine gehängt habe, besorge ich mir ein Bier und setze mich auf die Terrasse.

»Hättest du Lust, dich mit meinem Sohn auf Englisch zu unterhalten?«, spricht mich eine Spanierin an. »Er will auf dem Camino die Zeit nutzen, um seine Sprachkenntnisse zu verbessern. Er hatte in all seinen Prüfungen zuletzt eine Eins bekommen.«

»Gerne«, antworte ich. Solche Noten hatte ich zu meiner Schulzeit nie, daher kommen mir erst Zweifel, ob meine Englischkenntnisse überhaupt besser als seine wären. Für mich wäre es sicher eine gute Übung, denke ich und wenig später sitzt der Junge neben mir und stottert einzelne englische Wörter.

Was es mit den Noten auf sich hat, wird mir bewusst, als das Zuhören bei seinem Gestammel zur wahren Qual wird. Eine Eins ist in Spanien die schlechteste Schulnote!

Mutter und Sohn stammen aus Valencia, erfahre ich von ihm, dort gäbe es eine von fünf amtlichen Sprachen.

»Es gibt doch nur vier offizielle Sprachen in Spanien«, widerspreche ich und zähle auf: »Galizisch, die offizielle Amtssprache Kastilisch, desweiteren Katalanisch, das man in Barcelona spricht und zuletzt die Sprache, die in dieser Region verbreitet ist, Baskisch. Was spricht man denn in Valencia?«

»Valencianisch.«

So langsam geht mir der Nachhilfekurs für die Dumpfbacke von Schüler auf die Nerven. Besonders, da dieser Dialog hier nur in aller Kürze wiedergegeben ist, ausgelassen habe ich unzählige Nachfragen und ständige Wiederholungen. Soll der Junge in seinem nächsten Schuljahr durchfallen und sitzenbleiben, er hätte es redlich verdient.

»Ich muss noch etwas erledigen«, entschuldige ich mich und versuche, unbemerkt aus der Herberge zu fliehen. Ich versichere mich, dass mir dieser Einserschüler nicht folgt und renne zur Stadt hinab.

Erleichtert darüber, entkommen zu sein, trete ich durch das Portal. So interessant wie erwartet stellt sich das Denkmal bei genauerer Besichtigung nicht dar. Als ich die malerische Altstadt hinter mir gelassen habe, durchquere ich das Hafengelände und gelange zum Fuß des mächtigen Felsens. Er liegt im Meer wie jene von den Engländern besetzte Halbinsel, ist aber um einiges kleiner als Gibraltar. In Serpentinen führt ein Pfad hinauf und eine Viertelstunde später erreiche ich den Gipfel. Dieser wird von einer Art Kapelle gekrönt. Besser gesagt, durch sie verunstaltet. Als ich eintrete und durch das leere Gebäude aus Beton wandere, bin ich enttäuscht. Es ist ein außergewöhnlicher Platz und man hätte hier doch etwas Schöneres hinstellen können. Dass es mit Graffiti beschmiert ist, macht es nicht besser. Mir ist erst nicht klar, welchen Zweck dieses Bauwerk aus Beton erfüllen sollte. Ein ehemaliger Bunker, der als Gotteshaus getarnt wurde? Im Halbrund, das wie eine Apsis aussieht, befinden sich Öffnungen, die aussehen wie Schießscharten, durch die man das Meer rundum beobachten kann.

Ich schaue mich weiter um und werfe einen Blick die Klippen hinunter. Am Ende des Hügels entdecke ich einen Leuchtturm, zu dem ein Pfad hinaufführt, der jedoch durch ein verschlossenes Gitter versperrt ist. Diese Besichtigungstour hat sich nicht gelohnt, enttäuscht begebe ich mich auf den Rückweg. Im Gestein am Wegrand erkenne ich Reliefs, die Götter wie Neptun darstellen, Maria und religiöse Figuren. Beeindruckend ist das jedoch auch nicht. Als ich erneut den Hafen durchquert habe und den Strand sehe, überlege ich, ob ich eine Weile dort verweilen sollte. Die Antwort kommt vom zugezogenen Himmel und leichter Nieselregen beantwortet meine Frage mit einem klaren Nein.

Wieder zurück in der Herberge werde ich sofort von dem nervigen Jungen abgefangen. Der Englischkurs wird fortgesetzt und zu einer wahrhaftigen Tortur. Es ist unglaublich mühselig, aus seinem Gestammel schlau zu werden. Nach einer Stunde schaue ich auf die Uhr. Es ist Zeit für mein Abendessen. Ich hatte mir ein Restaurant ausgesucht, das Pilgermenüs anbietet. Diese gibt es aber nur bis 21 Uhr. Als ich in die Stadt hinuntergehe, hängt sich der Einserschüler wie eine Klette an mich. Er will dolmetschen. Als ich in das Restaurant eintrete und bestellen will, drängelt er sich vor und fragt mich, was ich denn haben wolle. Meine Antwort, das Menü, versteht er nicht, so wiederhole ich es nochmals und abermals. Ungeduldig beobachte ich, wie der Zeiger auf der Wanduhr sich kontinuierlich weiterbewegt. Nach einer halben Stunde hat er immer noch nichts begriffen und ich versuche, mich an ihm vorbei zu drücken, um bei dem Mann hinter dem Tresen eine Bestellung abzugeben, doch der Junge hält mich aggressiv davon ab. Als er endlich meine Erklärungen in Englisch verstanden hat, wendet er sich an den Barmann und fragt nach dem Pilgermenü. Dieser zeigt zur Antwort auf die Wanduhr, die mittlerweile neun Uhr überschritten hat. Zu spät. Frustriert begebe ich mich auf den Rückweg. Heute muss ich auf das Abendessen verzichten. Der Schüler hat die Note Eins wirklich verdient.

In der Nacht setzt ein Gewitter mit Platzregen ein. Eilig retten ich und andere aus dem Schlaf gerissene Pilger die Klamotten aus dem Garten, um sie auf Wäscheständern im überdachten Flur aufzuhängen. Unter der Wäsche bilden sich Wasserpfützen.

Der Jakobsweg am Meer

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