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Der Geheimweg

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4. August, Getaria → Deba

Bei düsterem Tagesanbruch fällt Nieselregen. Ich sammle meine Klamotten vom Wäscheständer und packe sie in eine Plastiktüte. Als der Regen nachlässt und sich die grauschwarzen Wolken verzogen haben, begebe ich mich auf die nächste Etappe. Ich hoffe, dass es im Laufe des Tages wärmer wird, damit ich die Kleidung an meinen Rucksack zum Trocknen hängen kann.

Der Weg führt in eine fast alpine Landschaft, die mit vereinzelten Bauernhöfen sehr dünn besiedelt ist. Weizenfelder und grüne Weiden bestimmen das Panorama. Unterwegs komme ich mit zwei Pilgern ins Gespräch. Sie kommen aus Barcelona, erfahre ich. Katalanen. Diese haben unter ihren Landsleuten einen schlechten Ruf. Sie gelten als weltfremd und eine Mehrheit von ihnen will sich von Spanien lossagen. Viele sprechen nur ihre regionale Sprache Katalanisch. Dieser Katalane, der mit seiner Tochter wandert, gehört offensichtlich nicht dazu. Er hat auch keine Probleme, sich in der landesweiten Hochsprache Kastilisch oder in Englisch zu unterhalten. Nationalismus würde auch nicht zum Jakobsweg passen, denn Pilger sind weltoffen und kontaktfreudig, selbst wenn sie aus Katalonien stammen.

Während die beiden weitergehen, studiere ich an einem Rastplatz einen Übersichtsplan, auf dem verschiedene Wegvarianten eingezeichnet sind. Es gibt offensichtlich drei Möglichkeiten. Bevorzugt würde ich einen Weg direkt an der Küste wandern – falls der Weg mit Pfeilen gekennzeichnet ist. Vielleicht hätte ich mir einen Wanderführer mit detaillierten Beschreibungen besorgen sollen. Der Etappenplan, den ich aus dem Internet habe, ist sehr spartanisch.

Als ich weitergehe, sehe ich an einem Zaun den bekannten gelben Pfeil, der nach links zur Straße führt. Am gleichen Pfosten weisen auch weiß-rote Markierungen nach rechts. In diesem Moment entdecke ich eine Gruppe, die dort einen Trampelpfad entlanggeht und spontan folge ich ihnen. Nach wenigen Metern jedoch endet der Pfad an einem Stacheldrahtzaun. Einen anderen Weg gibt es nicht. Die Pilger helfen sich gegenseitig, um das Hindernis zu überwinden und auch mir wird geholfen, den Zaun zu überqueren. Es ist abenteuerlich. Da sie sich in Spanisch unterhalten, nehme ich an, dass sie sich hier auskennen. Ich folge der Gruppe über ein Feld, auf dem Wiederkäuer sitzen, am Ende des Geländes beginnt ein Schotterweg und ich wandere neben einem Pilger, der einen halben Kopf größer als ich ist und auf dessen Rucksack der Name ›Gabi‹ aufgenäht ist. Hat er diesen von seiner Schwester ausgeliehen, oder stammt er von seiner Mutter, so wie meiner?

»Seid ihr spanische Pilger? Und ist dieser Weg interessant?«, frage ich ihn.

»Keine Ahnung«, antwortet er. »Auch ich bin denen spontan gefolgt. Ich komme aus Belgien.«

Es ist eine spontan zusammengewürfelte Gruppe. Der Schotterweg endet an einem Bauernhof und kein Pfeil deutet daraufhin, in welche Richtung man gehen soll. Es gibt eine asphaltierte Straße, die in die umgekehrte Richtung führt. Als ein Mann vor dem Eingang des Gebäudes auftaucht, marschieren zwei aus der Gruppe auf ihn zu. Es beginnt eine Diskussion in Spanisch und diese dauert eine Weile, bis geklärt ist, wie es weitergeht.

»Hier geht es weiter.« Einer der Spanier geht voran und wir marschieren über eine steil abfallende Wiese. Langsam wird mir klar, dass meine Vermutung falsch war, dass sich jemand aus der Gruppe auskennen würde. Am Schluss der Wiese durchqueren wir einen Wald, nach einiger Zeit erreichen wir einen Rastplatz. Erschöpft legt jeder seinen Rucksack ab. Eine Weile beobachte ich, wie zwei aus der Gruppe vor einer Tafel stehen und diskutieren.

Außer dem Belgier besteht unser Kreis aus zwei weiblichen und einem männlichen Pilger spanischer Herkunft. Ich werfe ebenso einen Blick auf die Informationstafel und betrachte vier Wegvarianten. Vergilbte Landschaftsfotos sind am Rand zu sehen. Ein direkter Weg nach Deba ist eingezeichnet, das Ziel meiner heutigen Etappe.

»Am besten nehmen wir den direkten Weg«, schlage ich vor und zeige auf den Wegweiser mit der Aufschrift ›Deba‹ am Ende des Rastplatzes.

»Wir wollen einen anderen Weg gehen.« Der Spanier führt mich zur Tafel zurück und zeigt auf eine Linie, die zum Meer weist. Ganz klar ist dies als weiter Umweg zu erkennen. Die doppelte Strecke, mindestens.

Als die anderen nach einer Viertelstunde aufbrechen, folge ich ihnen, obwohl ich mir sicher bin, dass niemand weiß, wo es langgeht und wir ziellos herumirren. Einem Bachlauf folgend marschieren wir auf einem Trampelpfad durch einen Wald, der sich nach einigen Kilometern lichtet. Als wir über eine Wiese wandern, ist das Meer schon zu erkennen. Dort endet der Pfad, über flache Steine balancieren wir zum Wasser hinab.

»Auf meiner letzten Wanderung auf dem Camino del Norte habe ich dieses Naturwunder verpasst.« Der Spanier zeigt eine flach abfallende Klippe hinauf. »Übrigens, ich heiße Mario. Die anderen sind Jennifer und Maria.«

Bisher hatten wir uns noch nicht vorgestellt. Ich wusste nur den Namen von Gabriel, der sich derweil auf einem Stein niedergelassen hat und eine Zigarette dreht.

»Die Gesteinsform nennt sich Flysch«, erklärt der Spanier. Beeindruckt betrachte ich die Steinwand. Es lockt mich, einen Versuch zu wagen, die 45 Grad steile Wand zu erklimmen. Doch der Stein ist vollkommen glatt und es sind weder Risse, noch Griffe zu sehen. Es wirkt, als wäre diese Klippe künstlich errichtet worden. Doch lassen die Schichten erkennen, wie diese Gesteinsformation entstanden ist und dass sie aus Ablagerungen aus vielen Millionen Jahren besteht. Mittels Plattentektonik wurde sie in die Senkrechte gedreht und zu einer riesigen Fläche nackten Felsens, auf der sich kein Grün festsetzen kann. Wir nehmen Fotos auf, wandern umher und stapfen durch das Wasser.

Am Rand der Klippe führt ein Trampelpfad hinauf, dem wir nach der langen Pause folgen. Der Hang, der mit schwarzen Kugeln übersät ist, wird wohl als Schafweide genutzt. Jennifer, die spanische Pilgerin, tut sich zunehmend schwer, als ein steiler Aufstieg beginnt. Einerseits ist sie übergewichtig, andererseits sind ihre Schuhe für dieses Gelände denkbar ungeeignet. Sie trägt Ballerina-Schuhe ohne Profil, wodurch sie häufig ins Rutschen gerät. Nach einer Weile haben wir einen phantastischen Aussichtspunkt erreicht und genießen die Rundumsicht auf die Klippen und das Meer. Nach einem kurzen Stopp und als die Ballerina-tragende Spanierin zur Gruppe aufgerückt ist, geht es einen rutschigen Pfad abwärts. Als ich neben Gabriel wandere, schlittert Jennifer plötzlich an uns vorbei und bleibt mit schmerzverzerrtem Gesicht vor uns liegen. Alle eilen zu ihr.

»Beruhige dich. Du hast Glück. Ich bin Krankenschwester«, erklärt die zweite Spanierin namens Maria, während sie den Fuß begutachtet. »Kannst du aufstehen?«

»Ich glaube nicht.«

Während ich Jennifers unbeholfene Versuche beobachte, auf ihre Füße zu kommen und sie mühselig versucht, einen Fuß vor den anderen zu setzen, atme ich tief durch. Mir wird klar, dass aus der rechtzeitigen Ankunft in Deba heute nichts mehr wird. Die Chancen, einen Platz in der Herberge zu bekommen, sind gleich Null. Doch die Prioritäten haben sich geändert und mir wird bewusst, so schön der Weg in dieser Wildnis auch ist, auf keinen Fall sollte man ihn alleine wagen. Wer ohne Begleitung auf den mit Kraut bewachsenen Hügeln verunglückt, ist auf sich selbst gestellt. Außer uns fünf Pilgern ist weit und breit niemand unterwegs.

Ein steiler Anstieg führt über eine Schafwiese und es geht nur in extremem Schneckentempo hinauf, damit die Verunglückte mithalten kann.

»Schau mal, dort klettern Schafe.« Gabriel zeigt plötzlich grinsend zur Felswand vor uns.

Ich brauche einen Moment, um die weißen Punkte zu erkennen, die an einer Steilwand kleben.

»Ich wusste nicht, dass Schafe so gut klettern können«, wundere ich mich. Von Gämsen ist es bekannt. Die sind aber Wildtiere und das alpine Terrain gewöhnt. In das Gelände, in dem die domestizierten Nutztiere gerade unterwegs sind, hätte ich mich ohne Sicherung durch ein Seil nicht gewagt.

Nach einer gefühlten Ewigkeit haben wir den Trampelpfad hinter uns gelassen und erreichen eine Straße. Wir hoffen, dass bald ein Auto auftaucht, das die verunglückte Spanierin mitnehmen kann. Diese Gegend ist jedoch wie ausgestorben und auf der Landstraße ist außer uns niemand unterwegs. Nicht einmal ein Traktor. Nach ungefähr einem Kilometer endet die Straße vor einem verschlossenen Metallzaun. Da wir hier nicht weiterkommen, kehren wir um.

Abseits der Straße entdecken wir einen Schotterpfad, der zum Meer herunterführt. Als an einem Baum endlich wieder der rot-weiße Doppelstrich zu sehen ist, jubele ich leise. Die Markierung weist auf einen europäischen Fernwanderweg hin. Im Unterschied zu gelben Pfeilen und Muschelsymbolen, mit denen der Jakobsweg gekennzeichnet ist, werden diese Pfade jedoch eher selten gepflegt.

Der Weg endet an einer von Brombeergestrüpp eingeschlossenen Wiese. Ein einsamer Esel zupft Kräuter aus dem Gras. An unserem Auftauchen scheint er sich nicht zu stören.

Seit einiger Zeit macht mir dieser Umweg keinen Spaß mehr. Dass wir erneut in einer Sackgasse gelandet sind, bereitet mir noch weniger Freude. Während Mario und Gabriel die Umgebung erkunden, indem sie sich durch die dornige Hecke zwängen, warte ich bei den spanischen Pilgerinnen. Bis die anderen wieder auftauchen und unsere Lage endgültig als aussichtslos bestätigen, beschäftige ich mich damit, Gras aus der Wiese zu rupfen und es dem Esel anzubieten. Der ignoriert meine freundschaftliche Geste trotzig.

»Wie haben einen Weg gefunden!« Die beiden Pfadfinder winken aus dem Dornengestrüpp. »Hier geht es weiter!«

Statt sich durch mannshohe Brombeerranken zu kämpfen, hätte ich dafür plädiert, umzukehren. Da die zwei Pilgerinnen aber dem Aufruf folgen, beuge ich mich der Mehrheit und zwänge mich hinterher. Ich habe die Hoffnung schon längst aufgegeben, dass wir der Wildnis noch entkommen können. Als wir durch eine Bahnunterführung gehen und auf einen Schotterweg gelangen, bin ich mir immer noch sicher, dass Umkehren die einzige vernünftige Lösung gewesen wäre. Einige Kilometer weiter erreichen wir einen Asphaltweg, der den Eindruck erweckt, als ob er seit Jahrzehnten verfällt. Wir folgen ihm dennoch und kommen an eine Abbruchkante. An dieser Stelle gab es wohl einen Erdrutsch. Weiterzugehen ist vollkommen unmöglich. Wir kehren abermals um und entdecken seitlich eine Wegmarkierung, die auf einen Trampelpfad im Wald weist.

Das Gelände wird nochmals unwegsamer und führt so steil bergab, dass auch ich Schwierigkeiten habe, nicht abzurutschen. Man muss sich an Bäumen oder Grasbüscheln festhalten, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Nahezu unmöglich wird es für jemand, der kaum mehr laufen kann. Wie für Jennifer. An einigen Stellen wird sie zu einer logistischen Herausforderung. Oben hält sie jemand fest, während sie bis auf Armlänge mit ihren Ballerina-Schuhen herabrutscht, während sich unten ein anderer bereithält, um sie aufzufangen. Mir fällt ein Stein vom Herzen, als wir endlich das Tal erreichen, ohne dass jemand bei dieser Expedition tödlich verunglückt ist. Der Weg leitet uns an einer Kläranlage vorbei, die einen unappetitlichen Geruch verbreitet und führt wieder steil bergauf. Der Anstieg ist zum Glück mit Stahlseilen gesichert, an denen man sich festklammern kann. Endlich hören wir Zeichen der Zivilisation, den Lärm von Autos und Lastwagen.

Nach wenigen Metern an der dicht befahrenen Straße können wir schon die Stadt Deba vor uns im Tal sehen. Eilig überqueren wir eine schmale Brücke, auf der hupende Schwertransporter hemmungslos dicht an uns vorbeibrausen und sehen gegenüber die gelben Pfeile des Jakobsweges. Sie führen einen Pfad hinauf, der wieder einmal von Brombeerranken überwuchert ist. Nach kurzer Diskussion entscheiden wir uns gegen diese Variante, da nach den dramatischen Ereignissen in der Idylle alle genug von Abenteuern haben. Den Rest des Weges legen wir am Rand der Schnellstraße zurück.

Kurz hinter dem Ortsschild liegt eine Blondine auf einer Parkbank. Die Spanier eilen zu ihr und wecken sie.

»Marina!« Sie fallen sich gegenseitig in die Arme und unterhalten sich aufgeregt. Offensichtlich gibt es auch von Natur aus blonde Spanierinnen. Sie schließt sich uns für die letzten Meter in die Stadt an, hinkend auf einen Wanderstock gestützt. Soweit ich verstehe, hatte sie sich auf die Parkbank gelegt, da sie unter Knieproblemen gelitten hatte und wäre eingeschlafen. Es müssen viele Stunden gewesen sein, die der Blonden in der knappen Kleidung sichtbar nicht gut getan haben. Ihre linke Seite ist kreidebleich, während Rücken, Arm und das Knie auf ihrer rechten Seite feuerrot leuchten. Mich schmerzt schon der Anblick ihres furchtbaren Sonnenbrands.

Wenig später erreichen wir das Tourismusbüro, vor dem sich eine Schlange von Pilgern gebildet hat, um sich für die Herberge anzumelden. Ich stelle mich mit Gabriel in die Reihe und bin erleichtert, als ich an die Reihe komme und nebst Stempel für meinen Pilgerausweis sogar eine Bettnummer und einen Schlüssel ausgehändigt bekomme. Nach mir ist der Belgier an der Reihe. Die Dame am Schalter schüttelt den Kopf.

»Das war der letzte Platz in der Unterkunft«, entschuldigt sie sich. »Es tut mir leid.«

»Ich hätte eine Isomatte dabei. Könnte ich mich nicht einfach auf den Boden legen?« Entgeistert starrt Gabriel sie an.

»Nein, in der Herberge ist dies nicht erlaubt.«

Als wir das Büro verlassen, ist mir klar, dass ich nur zufällig vor ihm in der Schlange stand. Er war vor mir in der Pilgergruppe und soll jetzt leer ausgehen? Mein schlechtes Gewissen meldet sich und ich biete ihm an, ihm mein Bett zu überlassen.

»Vielen Dank, nein.« Er lehnt ab. »Das geht schon irgendwie. Ich rolle einfach meine Isomatte zwischen den Betten aus.«

Die Spanier hatten in der Zwischenzeit vor dem Eingang gewartet und dabei die Adresse eines Arztes herausgefunden.

»Wir gehen mit Jennifer zum Doktor. Danach entscheiden wir, wie es weitergeht.«

Die Arztpraxis ist nicht weit entfernt. Bis zum Termin müssen wir jedoch eine halbe Stunde warten. Jennifer hatte ihre Schuhe ausgezogen und nun ist zu sehen, dass ihr rechter Fuß auf die doppelte Größe angeschwollen ist. Als sie aufgerufen wird, schließt sich auch Marina an, da ihr Sonnenbrand jetzt Wirkung zeigt und sie sich Schmerzmittel verschreiben lassen will. Als die zwei zurückkommen, schütteln sie traurig den Kopf. Es bedeutet nichts Gutes.

»Nach der Diagnose des Arztes wird Jennifer zwei Wochen lang nicht laufen können«, erklärt Mario, der Spanier, als wir zurück zum Stadtzentrum laufen. »Wir haben beschlossen, die Tour abzubrechen und nach Madrid zurückzufahren.«

»Bleibt ihr noch eine Nacht?«, frage ich, da wir noch als Gruppe unterwegs sind.

»Nein. Die Herberge liegt auf dem Weg, direkt beim Bahnhof.«

Als wir ankommen, finde ich des Rätsels Lösung: Die Pilgerherberge ist das ehemalige Bahnhofsgebäude und befindet sich zwischen den Gleisen.

Mit dem Belgier gehe ich zur Unterkunft und schließe die Eingangstür auf. Innen befindet sich ein Empfangstisch. Gabriel gelingt es, sich an der Kontrolle vorbei zu schummeln. Abends bin ich erleichtert, dass sich keiner beschwert, als er die Isomatte zwischen den Stockbetten ausbreitet, mit der die Bewegungsfreiheit im Raum stark beeinträchtigt wird.

Der Jakobsweg am Meer

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