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Zu neuen Ufern: Fernhandel jenseits der römischen Grenzen

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Bei alledem machte man es sich aber zu leicht, wollte man die Wirtschaft des nun römisch beherrschten Mittelmeerraums einfach als primitiv abtun. Die Getreideversorgung Roms durch die Provinzen, besonders das fruchtbare Niltal in Ägypten; die fortgeschrittene Spezialisierung der mediterranen Landwirtschaft auf bestimmte, regionalspezifische Kulturen; die komplexe Herstellungsweise von Fertigerzeugnissen teilweise auf mehrere Standorte verteilt – all das sind Indikatoren einer hochgradig arbeitsteiligen, vernetzt arbeitenden Ökonomie. Gewiss: Einem Güteraustausch stehen in vorindustriellen Gesellschaften immer technologische Hürden im Weg. Beschränkte Transportkapazitäten, unzureichende Verkehrswege über Land, primitive Fortbewegungsmittel hemmten römische nicht anders als phönizische, griechische oder mittelalterliche Kaufleute. Doch schuf das Römische Imperium politisch, rechtlich und administrativ eine Sphäre, die Mobilität in einer Weise begünstigte, wie sie in der antiken Welt präzedenzlos war.

Vom Atlantik bis zum Euphrat galten dieselben Gesetze, hatte – im Normalfall – derselbe Herrscher das Sagen, durchzog ein dichtes Netz von Straßen in einheitlicher Bauweise das Land. Die römische Welt war, bei allen Unterschieden im Einzelnen, doch einheitlich – zusammengehalten weniger durch Zwang, als vielmehr durch den Willen aller, dazuzugehören: „Die Erde ist allen gemein“ – diese Leistung rechnet der griechische Redner Aelius Aristides im 2. Jahrhundert n. Chr. den Römern hoch an. Und er fügt hinzu: „Ihr [die Römer] habt die Tore der bewohnten Welt geöffnet (…), habt allen Menschen universell gültige Gesetze gegeben (…), habt die Ehe zwischen allen Völkern gestiftet und die Welt als einen einzigen Haushalt organisiert.“12 Mag hier eine Menge wohlkalkulierten Überschwangs der Grundton sein – dass sich die Verhältnisse im von den Römern nun mit Fug und Recht mare nostrum („unser Meer“) genannten Mittelmeer von Grund auf gewandelt hatten, kann niemand ernsthaft bestreiten.

Damit aber hatten die Kaufleute ihre Bedeutung als Türöffner weitgehend verloren. Die kommerzielle Diaspora im Mittelmeer hatte sich selbst überlebt. Ein Trimalchio musste, um seine Güter transportieren zu können, kaufmännische und logistische Hürden nehmen, aber er war nicht mehr der Mittler zwischen fremden Welten, als der uns der phönizische Händler der Eisenzeit und noch der griechische Seefahrer in der archaischen Periode begegnet. Und doch gehörte der Kaufmann als Grenzgänger auch in der römischen Kaiserzeit noch längst nicht zum alten Eisen. Der Boom der imperialen Gründerzeit seit dem Ende der Punischen Kriege spülte eine zahlungskräftige Oberschicht nach oben, zu deren Selbstverständnis es gehörte, sich mit exotischen Luxusgütern zu umgeben. Wortreich etwa klagten im 1. Jahrhundert v. Chr. die Dichter Properz und Tibull über den exklusiven Geschmack der römischen Damenwelt: Am liebsten hüllten sich die Vertreterinnen des zarten Geschlechts in sündhaft teure Tyriae vestes, Gewänder aus chinesischer Seide, die im phönizischen Tyros mit Purpur gefärbt worden waren. Die feine Gesellschaft würzte ihre Speisen mit Spezereien aus dem Fernen Osten, die mit Gold kaum aufzuwiegen waren. Auf den Altären römischer Götter qualmte Weihrauch, das Harz des in der Arabia Felix (Jemen) wachsenden Weihrauchbaums.

Wie ein Schwamm sog die römische Mittelmeerwelt alles auf, was Importeure aus Indien, China und Südarabien herbeischafften. Der Güteraustausch mit so entlegenen Weltgegenden konfrontierte die Händler mit immensen logistischen Herausforderungen: Wüsten waren zu durchqueren, Gebirge zu überwinden, Ozeane zu durchfahren. Derlei Probleme ließen sich lösen, vorausgesetzt, man scheute weder Kosten noch Risiken: Die Monsunpassage zwischen Arabien und Indien war bereits in hellenistischer Zeit entdeckt worden und ermöglichte den direkten Seeverkehr zwischen den ägyptischen Häfen am Roten Meer und dem Süden des Subkontinents. Karawanen durchquerten die Arabische Wüste und brachten auf der Weihrauchstraße Güter aus Südarabien über die nabatäische Stadt Petra bis ans Mittelmeer. In römischer Zeit, seit ca. 100 n. Chr., verlagerte sich der Handel mit Inner- und Ostasien von der Seeroute weiter nach Norden. Der Haupthandelsweg führte nun durch den Persischen Golf und Mesopotamien, mitten durchs Partherreich, das Rom in jahrhundertelanger inniger Erbfeindschaft verbunden war.

Eine Schlüsselrolle spielte fortan die syrische Oasenstadt Palmyra. Sie lag auf halbem Weg zwischen Euphrat und Mittelmeer, in strategisch denkbar günstiger Position. Formal war Palmyra Teil der römischen Provinz Syria, Rom aber gewährte der Oase eine Autonomie, die im Imperium ohne Beispiel war. Die Stadt selbst, deren eindrucksvolle Ruinen sich bis heute bewundern lassen, war der urbane Nukleus einer Stammesgesellschaft, die weit in die Steppe ausgriff. Tribale Strukturen durchzogen die Stadtbevölkerung und verbanden sie mit den mobilen Teilen der Stämme, die in der Steppe ihr Dasein als Hirtennomaden fristeten. Die tribalen Eliten waren das Scharnier zwischen den Welten: Als Teilzeitnomaden verbrachten die Scheichs einen Teil des Jahres bei den Hirten, die als jederzeit mobilisierbare Reservearmee das militärische Rückgrat Palmyras waren.

Die Stammesführer schwangen sich alsbald zu Paten des transkontientalen Fernhandels auf. Sie nutzten ihre Kontakte zu den Nomaden, um den Karawanen, die Palmyra nun in regelmäßigen Abständen von Osten her erreichten, sicheres Geleit durch die Steppe zu gewähren; und sie ließen ihre Beziehungen zum Partherreich spielen, in dessen Mitte sich bald Palmyrener niederließen, um von hier aus den Warenumschlag entlang von Euphrat und Tigris zu koordinieren. Auch im Partherreich bewahrten sich die Palmyrener bemerkenswerte Unabhängigkeit: In der Stadt Vologesias, unweit der parthischen Hauptstadt Ktesiphon in Mesopotamien, errichteten Kaufleute aus der Oasenstadt einen Tempel für den römischen Kaiserkult; zugleich war ein palmyrenisches Kontingent Bogenschützen in der bis 166 n. Chr. parthischen Grenzstadt Dura-Europos stationiert.

Die römisch-parthische Steppengrenze mit unberechenbaren Stämmen, grenzüberschreitenden kulturellen, politischen und vermutlich sogar familiären Banden und nicht zuletzt ihrem extremen Naturraum war ein Dickicht, in dem sich römische Staatskunst immer wieder totlief. Die Palmyrener aber agierten gerade im Zwielicht mit traumwandlerischer Sicherheit. Von den Gefahren und Schwierigkeiten, die es zu bestehen galt, unterrichten uns die „Karawaneninschriften“, die palmyrenische Kaufleute des 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. entlang der großen Kolonnade ihrer Heimatstadt aufstellten, um jene mächtigen Scheichs zu ehren, die sich um die Karawanen verdient gemacht hatten. Die meist zweisprachigen (griechisch-aramäischen) Inschriften sind einzigartige Zeugnisse einer Gesellschaft, die – wie die Phönizier in der Eisenzeit – mit dem Fernhandel weit mehr verband als nur die Beschaffung von Gütern aus der Ferne. Für die Palmyrener war der Warenstrom aus dem Osten der entscheidende Lebensnerv, dem die Oase ihren Aufschwung und womöglich ihr gesamtes urbanes Leben verdankte. Wie die Phönizier für die Assyrer, so war das Handelsvolk der Palmyrener für Rom eine „Funktionsethnie“, die das Imperium mit Prestigegütern versorgte und im Gegenzug auf handfeste Privilegien hoffen durfte.

Die zweite große Grenze des Imperium Romanum lag im Nordwesten, an Rhein und Donau. Hier trennte der Limes die Provinzen vom freien Germanien, dessen Eroberung die Römer nach der Niederlage des Varus (9 n. Chr.) nur mehr sporadisch und ohne größere Erfolge verfolgten. Er war aber beileibe kein Eiserner Vorhang, sondern ein Grenzsaum, der für kontrollierte Bewegungen von Menschen, Gütern und Informationen durchlässig war. Römische Silbermünzen zirkulierten beiderseits des Limes und hatten denselben wirtschaftlichen Wert. Römische Händler, negotiatores, bewegten sich relativ ungehindert unter den Germanen, um ihre Waren feilzubieten: Feinkeramik, edles Metallgeschirr, Glaswaren, Waffen, aber auch Artikel des täglichen Bedarfs wie Eimer, Schöpfkellen, Siebe fanden jenseits von Rhein und Donau offensichtlich reißenden Absatz. Grabfunde dokumentieren, wie hoch sie bei den germanischen Oberschichten im Kurs standen. Im Gegenzug gelangten nach Rom so exotische Waren wie Bernstein und Frauenhaar, aus dem die Armee Stricke für ihre Katapulte anfertigen ließ. Vor allem waren es aber wohl Sklaven, Felle und Fleisch, die das Imperium aus Germanien bezog.

Auch in den Weiten zwischen Rhein und Weichsel waren die Qualitäten von Pionieren gefragt, die Brücken schlugen, Informationen sammelten und Verständigungsschwierigkeiten überwanden. Keiner war für solche Aufgaben besser geeignet als Veteranen der römischen Armee, die aus ihrer aktiven Zeit als Soldaten Land und Leute bestens kannten. So betätigte sich der ehemalige Zenturio Quintus Attilius Primus, dessen Grabinschrift in Ungarn gefunden wurde, als interprex (Dolmetscher) und negotiator, der mit den Quaden nördlich der Donau Geschäfte machte. Leute wie Primus, die vielleicht ursprünglich selbst aus Germanien stammten und durch ihren Dienst in den Auxiliarverbänden zu Römern geworden waren, versorgten die Verantwortlichen im Imperium auch mit Informationen über das „Barbaricum“, über das man nur dürftige Kenntnisse hatte.

Freilich war Germanien bereits um die Zeitenwende mehr als nur Wald und Sümpfe. Es gab durchaus eine rudimentäre Infrastruktur, auf die römische Händler zurückgreifen konnten. Die einheimische Bevölkerung trieb sesshaften Ackerbau und wohnte, seit dem Niedergang der eisenzeitlichen Oppida, proto-städtischer Großsiedlungen, in Weilern, die teilweise auch Funktionen zentraler Orte hatten. Verbunden waren wenigstens die größeren Siedlungen durch ein grobmaschiges Netz von Fernwegen. Die Römer begannen in augusteischer Zeit damit, Militärlager entlang von Lippe und Lahn anzulegen. Um größere Kastelle wie Haltern und Waldgirmes lagerten sich bald zivile Siedlungen mit Märkten, auf denen Römer und Germanen Handel trieben. Zwar verschwanden die Lager nach der verlorenen Schlacht im Teutoburger Wald abrupt, doch die einmal geknüpften Handelskontakte überdauerten den partiellen Zusammenbruch der Infrastruktur. Den Limes säumten bald zu beiden Seiten Handelsposten, in denen Güter in großem Stil umgeschlagen wurden. Am grenzüberschreitenden Verkehr wirkten auch germanische Händler mit, die Städte in den römischen Provinzen besuchten und dort ihre Waren feilboten.

Die Mobilität von Gütern, Menschen und Waren brachte den Menschen, die daran Teil hatten, in der Bilanz große Vorteile: Während vom großräumigen Austausch weitgehend unberührte Gebiete wie Schwarzafrika südlich der Sahara, Australien und Amerika Wandel nur in sehr langsamen Rhythmen erlebten, machten der antike Mittelmeerraum und Eurasien insgesamt zwischen 1200 v. Chr. und 500 n. Chr. eine stürmische Entwicklung durch, die seit der Zeitenwende auch periphere Räume wie den europäischen Nordwesten erfasste. Das Römische Imperium, das den zum Froschteich geschrumpften Mittelmeerraum gut 600 Jahre lang beherrschte, zahlte aber auch einen hohen Preis: Indien und China hatte Rom im Tausch für Luxuswaren wie Seide und Gewürze wenig anzubieten. Deshalb flossen beständig große Mengen Edelmetalle gen Osten ab, was in dem Moment zum Problem wurde, als die Bergwerke des Reiches nicht mehr für Ersatz sorgen konnten. Der permanente Kaufrausch römischer Oberschichtdamen mag deshalb sein – freilich wohl bescheidenes – Quantum zur Finanzkrise Roms im 3. Jahrhundert n. Chr. beigetragen haben.

Gravierender wirkte sich aus, dass die Stämme Germaniens durch den gerade auch über Handel vermittelten Kontakt mit Rom in eine Phase beschleunigten Wandels eintraten, in dessen Verlauf hochmobile Völker in Waffen, die charismatischen Heerkönigen bedingungslose Gefolgschaft leisteten, allmählich die sesshaften Agrargesellschaften ablösten. Sie waren, seit Markomannen und Quaden 166 n. Chr. zum ersten Mal gegen die römische Donaugrenze anrannten, eine große, auf Dauer nicht zu bestehende Herausforderung für die römische Staatskunst. In der – durch Fernhandel beschleunigten – Transformation der barbarischen Gesellschaft Nordwesteuropas liegt deshalb ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis des Zusammenbruchs, den die antike Mittelmeerwelt um 500 n. Chr. erlitt. Handel und Wandel kamen damit, wie schon um 1200 v. Chr., nicht vollständig zum Erliegen. Aber für weite Teile Europas brach, ebenfalls wie 1700 Jahre zuvor, ein neues „Dunkles Zeitalter“ an. Platons Froschteich war unwiederbringlich Geschichte.

2 Platon, Phaidon 109b.

3 Wenamun 2, 13 (= Goedicke 1975).

4 Homer, Odyssee XV.

5 Ebd., XIV.

6 Ezechiel 27,4–15.

7 Jesaja 23,8.

8 Petronius, Satyricon, 76, Übersetzung Wilhelm Ehlers.

9 Ps.-Aristoteles, Oikonomikos 1343a.

10 Cicero, De officiis I. 42, 4.

11 Decretum Gratiani I, Dist. 88, c. 11 („Der Kaufmann vermag selten oder nie, Gott zu gefallen“). Die Rechtssammlung des Bologneser Kamaldulensermönchs Gratian bildete den Grundstock des Corpus Iuris Canonici, des römisch-katholischen Kirchenrechts.

12 Aelius Aristides, Auf Rom 101–102.

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