Читать книгу Jenseits der Zeit - Historischer Mystery-Thriller - Michael Vahlenkamp - Страница 10
Heute
ОглавлениеGenauso plötzlich, wie es dunkel geworden war, wurde es wieder hell. Die Helligkeit blendete sie nicht, obwohl sie mehrere Minuten in der Dunkelheit verbracht hatte. Sie blinzelte nur, wie gerade erwacht, und sie taumelte ein wenig hin und her. Ein flaues Gefühl hatte sie im Magen, als hätte sie etwas gegessen, das ihr nicht bekommen war. Immerhin konnte sie sich ein wenig festhalten, denn Timo war wieder an ihrer Hand.
Was war mit ihr geschehen? Das, was sie gerade erlebt hatte, entsprach genau dem, was sie in dem Buch gelesen hatte. Wie konnte das sein?
Lange konnte sie nicht abwesend gewesen sein, vielleicht eine Sekunde. Die Mutter mit dem Kinderwagen hatte nur wenige Schritte zurückgelegt und auch die anderen Passanten hatten sich kaum von der Stelle bewegt.
Das flaue Gefühl nahm zu, sie musste sich dringend setzen. Sie taumelte auf das Café an der Ecke gegenüber des Lappans zu und zog Timo mit sich.
»Wo wollen wir denn hin? Ich will jetzt ein Eis.« Ruckartig zog er an ihrem Arm. Er hatte wahrscheinlich nicht mal bemerkt, dass sie für einen Moment geistig nicht anwesend war.
»Dort in dem Café gibt es bestimmt Eis.«
Jetzt kam er bereitwillig mit.
Sie überlegte, ob sie sich reinsetzen sollte. Aber dieser Septembertag war verhältnismäßig warm, sodass sie am ersten freien Tisch, an den sie kam, Platz nahm, damit sie nicht mehr Schritte als notwendig tun musste.
Sitzend ging es ihrem Magen schon etwas besser. Sie sollte einen Tee trinken, während Timo sein Eis aß. Ein Kellner kam und sie bestellte eine Kugel Schokoladeneis und grünen Tee. Timo blätterte in der Eiskarte und sah sich die Bilder der Eiskreationen an.
Noch immer versuchte sie zu verstehen, was gerade mit ihr geschehen war. Ein Traum war das nicht. Sie würde kaum stehend und im wachen Zustand einen Tagtraum erleben und eine Sekunde später an derselben Stelle wieder zu sich kommen. Wahrscheinlich war es eine Art Vision. Nur, dass sie in dieser Vision das gesehen hatte, was sie zuvor in einem Buch gelesen hatte. Und zwar so, als wäre sie im Körper des Erzählers gewesen. Das ging sogar so weit, dass sie die Gefühle und Gedanken des Erzählers erlebt hatte. Sie wusste nun, dass er über eine Situation nachgedacht hatte, in der er kurz vorher gewesen war. Und sie konnte sich nicht daran erinnern, von diesen Gedanken in dem Buch gelesen zu haben.
Das Eis und der Tee wurden gebracht. Timo klatschte erfreut in die Hände. Der Tee war so heiß, dass sie nur schlürfend davon trinken konnte. Die Frau vom Nachbartisch sah missbilligend zu ihr herüber. Editha kümmerte sich nicht darum. Sie dachte weiter über die Vision nach. Wie aus einem dichten Nebel kam eine Erinnerung hervor. Ihr wurde vage bewusst, dass das nicht ihre erste Vision gewesen war. Als kleines Mädchen hatte sie so etwas schon mal erlebt. Das war lange her, und sie hatte nicht mehr daran gedacht. Doch jetzt fiel es ihr wieder ein. Zwei oder drei Mal hatte sie solche Erlebnisse, aber sie hatte diese Erinnerungen als Tagträume abgetan und irgendwann ganz vergessen. In einem dieser Träume, oder auch Visionen, war es, als wäre sie ein alter Mann, der auf einen Stock gestützt über einen Platz humpelte. Aber mehr wusste sie nicht und an die anderen Visionen hatte sie nicht die geringste Erinnerung. Und schon gar nicht daran, ob sie über deren Inhalt zuvor gelesen oder davon gehört hatte.
Editha beschloss, sich das Buch noch mal vorzunehmen, wenn sie wieder zu Hause war. Sie wollte nachsehen, ob die Gedanken des Erzählers wirklich nicht beschrieben waren. Und außerdem wollte sie wissen, was weiter in dem Buch geschildert war. Wahrscheinlich hatte das unmittelbar mit dem gerade Erlebten zu tun.
Sie hatte einige Minuten vor sich hingestarrt, während sie nachdachte und ihren Tee austrank, und Timo nicht beachtet. Als sie sich ihm jetzt wieder zuwandte, musste sie feststellen, dass er seine neue Jacke vollständig mit Schokoladeneis eingekleckert hatte.
»Oje, Timo, was machst du denn?«
Ihr Sohn, dessen halbes Gesicht ebenfalls braun verschmiert war, sah fast gelangweilt auf seine Jacke hinunter.
Sie hatte nur eine Serviette am Tisch, mit der sie versuchte, den größten Schlamassel zu beseitigen. Der Rest musste auf der Toilette erledigt werden. Sie fasste Timo an seiner klebrigen Hand und zog ihn mit sich.
Zum Glück war das flaue Gefühl im Magen wieder verschwunden.
Editha schaltete die Schreibtischlampe ein, um das Entziffern der Schrift zu vereinfachen. Doch nach weiteren fünf Minuten pustete sie die Luft mit dicken Backen aus und ließ sich in die Lehne des Stuhls zurückfallen. Frustriert klappte sie das Buch zu, sodass es knallte.
Der braune Einband glänzte im Licht. Die beiden Buchstaben darauf waren eindeutig die, wofür sie sie hielt: J. R. Zur Vergewisserung hatte sie sich aus dem Internet eine Entsprechungstafel für altdeutsche Druckschrift heruntergeladen und die Buchstaben verglichen. Es bestand kein Zweifel. Doch die altdeutsche Schreibschrift im Inneren machte ihr zu schaffen. Zwar hatte sie auch dafür etwas im Internet gefunden, allerdings keine Entsprechungstafel, sondern verschiedene Schriftbeispiele, in denen die Buchstaben leicht variierten. Und ihr schien es, als ob die Handschrift im Buch eine weitere Möglichkeit zur Ausführung der Schriftzeichen darstellte. Deshalb war sie sich bei vielen Buchstaben nicht sicher, ob sie sie richtig deutete. Hinzu kam, dass manche Seiten derart verblasst waren, dass sie mehr raten als lesen musste.
Sie nahm das Buch auf. Vielleicht sollte sie erst einmal herausfinden, was die mutmaßlichen Initialen bedeuteten. Könnte sein, dass das bereits mit einem Anruf bei ihrem Vater erledigt war.
Dass es möglich war, den Text im Innern zu entziffern, bewies das lose Blatt. Dafür würde sie aber möglicherweise einen Experten hinzuziehen müssen.
Sie hatte sich die Schilderung noch einmal durchgelesen. Darin wurden zwar auch Gefühle und Gedanken des Erzählers beschrieben. Doch von denen, die sie empfangen hatte, worin es um eine Situation in einem Gasthaus ging, war kein Wort zu finden.
Okay, genug für heute. Sie wollte noch einmal nach Timo sehen und dann ins Bett gehen. Der morgige Sonntag war ein guter Tag, um ihren Vater anzurufen.
Am nächsten Morgen holte Timo sie früh aus dem Schlaf. Nach dem Frühstück war für ihn mal wieder ein Bad fällig. Während er in der Badewanne planschte, kümmerte sich Editha um die Wäsche. Auf diese Weise war ein großer Teil des Vormittags verstrichen, als sie Timo zu seinen Spielfiguren auf den Boden setzte und aus dem Augenwinkel sah, dass die rote LED ihres Telefons blinkte.
Siedendheiß fiel ihr ein, dass sie die Anzeige zur Mietersuche vergessen hatte. Durch die Ereignisse vom Vortag war sie völlig darüber hinweg gekommen. Mit Zettel und Stift bewaffnet hörte sie den Anrufbeantworter ab und notierte sich die Namen und Telefonnummern der Wohnungssuchenden. Insgesamt waren es vier, alles Männer. Anschließend rief sie die Interessenten an, führte kurze Gespräche über Miethöhe und andere Konditionen und vereinbarte für die kommenden Tage Besichtigungstermine.
Dann war es höchste Zeit für das Mittagessen und als sie Timo für seinen Mittagsschlaf im Bett hatte, kam der nächste Schock: Sie musste sich für den folgenden Tag noch überlegen, was sie mit der Karategruppe machen wollte und für den Artikel, den sie für die Zeitung schrieb, musste sie zumindest noch recherchieren. Das wollte sie eigentlich alles am Samstag erledigt haben.
So kam es, dass für das Telefonat mit ihrem Vater keine Zeit mehr blieb.
Am Donnerstag waren die letzten beiden Besichtigungstermine der Einliegerwohnung relativ kurz hintereinander. Als sie den einen Mietinteressenten gerade an der Haustür verabschiedete - ein älterer Herr, der sich nach 49 Ehejahren von seiner Frau getrennt hatte und nun eine neue Unterkunft brauchte - bückte sich schon der nächste zu der niedrigen Vorgartentür.
Die beiden Männer begegneten sich auf halber Strecke. Während der ältere Herr den anderen höflich grüßte, sah dieser sich nur geistesabwesend im Vorgarten um und schob dabei seine Brille die Nase hoch. Der Mann sah ein wenig kauzig aus: Er mochte wohl Anfang 40 sein, soweit man das erkennen konnte. Denn sein Gesicht war größtenteils durch langes, wirres Haar und einem ebenfalls langen, ungepflegten Bart verdeckt, beides leicht ergraut. Weit in die Stirn hatte er eine verblichene grüne Stoffmütze gezogen, auf der in gelben Buchstaben »Nix darunter!« stand.
»Wäre die Nutzung des Vorgartens mit inbegriffen?«, fragte er, als er bei Editha angekommen war, ohne sie anzusehen. Dabei zog er ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche seiner zerbeulten Cordhose und schnäuzte hinein. Er steckte das Taschentuch wieder weg und wischte sich die Hände an der beige-farbenen Regenjacke ab.
»Darüber könnte man sich sicherlich einigen«, antwortete Editha. Sie bot ihm die Hand zum Gruß und nahm sich vor, diese nachher gründlich zu waschen. Glücklicherweise schien der Mann von normalen Gebräuchen der Höflichkeit nichts zu halten. Ihre Hand ignorierend sah er sich weiterhin um und nickte dabei, als fühlte er sich in etwas bestätigt.
Editha räusperte sich verunsichert.
»Äh ... mein Name ist Editha Riekmüller. Ich bin die Vermieterin der Wohnung.«
Nun sah er sie flüchtig an und fuhr dann gleich mit der Betrachtung des Hauses fort.
»Schön, schön. Kann ich mir die Wohnung jetzt mal ansehen?«
»Äh ... ja, folgen Sie mir bitte.«
Sie führte den komischen Kauz durch den Hausflur und die Treppe hinauf in den großen Raum, dessen Zustand nicht verändert war, seit sie hier aufgeräumt hatte. Die Möbel warteten immer noch darauf, in die Mitte gerückt zu werden, damit das Zimmer renoviert werden konnte. Dafür brauchte sie Hilfe, die sie bisher nicht hatte. Mit der Renovierung wollte sie ohnehin erst beginnen, wenn sie einen Mieter hatte: Je später sie das Geld investierte, desto besser.
Der Kauz lief durch den Raum, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, betrachtete die Wand, sah aus dem Fenster und nickte fortwährend vor sich hin.
»Das soll das Wohnzimmer werden«, begann Editha. »Das wird selbstverständlich noch reno...«
»Wo ist das Bad?«, unterbrach er sie.
Vielleicht sollte sie einfach gar nichts mehr sagen, dachte Editha.
Sie drehte sich um und schritt Richtung Badezimmer voran, der Kauz kam hinterher. Dort angekommen wiederholte sich die Prozedur von vorher, ebenso im Schlafzimmer und in dem Raum, der die Küche werden sollte. Editha verzichtete auf irgendwelche Erklärungen und hoffte, dass das bald vorbei war. Diesen komischen Typen wollte sie als Untermieter eigentlich gar nicht haben.
»Wie hoch soll die Miete sein?«, fragte er schließlich.
Editha nannte ihm einen Betrag, der weit über das hinausging, was sie den anderen Interessenten gesagt hatte. Er nickte wieder, dieses Mal mit geschlossenen Augen. Eine ganze Weile.
»In Ordnung, ich nehme sie.«
Editha war verdutzt. Damit hatte sie jetzt nicht gerechnet.
»Äh ... ja, aber«, stotterte sie. »Ich ... äh ... muss mir in Ruhe überlegen, für welchen Interessenten ich mich entscheide.«
Der Kauz kehrte ihr den Rücken zu und ging die Treppe hinunter.
»Ich melde mich Anfang nächster Woche bei Ihnen«, sagte er. »Bis dahin werden Sie sich ja wohl entschieden haben.«
Er verließ das Haus. Die Haustür ließ er offenstehen.
»Von diesen Bedingungen, von denen ich gehört habe, haben Sie mir vorher aber nichts gesagt! Das ist eine Ungeheuerlichkeit, ja, eine Unverschämtheit.«
Im nächsten Moment hörte Editha den Freiton. Verwundert sah sie das Telefon an, als hätte dieses sich merkwürdig benommen und nicht der Mietinteressent, den sie gerade angerufen hatte. Was war denn in den gefahren? Was meinte der mit »Bedingungen«? Und wo hatte er davon gehört?
Na ja, jedenfalls konnte sie diese Reaktion getrost als Absage interpretieren. Und damit hatten, bis auf den komischen Kauz, alle Interessenten abgesagt. So wütend war dabei allerdings nur der letzte gewesen. Die anderen hatten einigermaßen plausible Begründungen parat: Die Lage gefiel nicht, die Zimmeraufteilung erschien ungünstig oder die Wohnung sagte allgemein nicht zu. Als wahren Grund vermutete Editha, dass sie mit dem Preis vielleicht zu hoch rangegangen war.
Die Zeit lief ihr davon. Sie würde halt den Kauz als Mieter annehmen. Schließlich sollte er ja nicht mit ihr in den gleichen Räumen leben. Die Miete, die er bereit war zu zahlen, würde sie für manches entschädigen. Sie hoffte, dass er sich allmählich meldete, damit alles unter Dach und Fach gebracht werden konnte. Dann musste sie die Renovierung wohl doch bald starten.