Читать книгу Jenseits der Zeit - Historischer Mystery-Thriller - Michael Vahlenkamp - Страница 12
Heute
ОглавлениеDer Zeitungsartikel für die Sonderausgabe war fast fertig, der Mietvertrag unterschrieben, die Handwerker bestellt. Timo war satt und machte seinen Mittagsschlaf. Sie hatte sich einen Tee bereitet und saß mal wieder am Schreibtisch.
In den letzten Tagen fiel ihr immer wieder ein, dass sie ihren Vater wegen des Buches noch nicht angerufen hatte. Sie hatte sogar schon überlegt, ob sie dieses Telefonat aus einem bestimmten Grund unbewusst ständig verschob, weil sie es vielleicht nicht führen wollte. Aber der einzige Grund, der ihr einfiel, war, dass sie womöglich ihre Mutter am Apparat haben könnte, mit der sie ganz und gar nicht sprechen wollte. Und das ließ sich leicht umgehen, indem sie ihren Vater auf seinem Handy anrief.
Also nahm sie das Telefon und wählte seine Mobil-Nummer. So wie sie ihn kannte, drückte er sich gerade vor der Gartenarbeit, indem er vorgab, noch etwas für das Büro tun zu müssen, und saß ebenfalls an seinem Schreibtisch.
»Hallo, meine Kleine«, vernahm sie nach zwei Klingeltönen seine warme Stimme. »Wir haben uns schon gefragt, wann du mal anrufst.«
Typisch: Ihre Eltern erwarteten immer, dass sie sich bei ihnen meldete. Umgekehrt kam es nicht in Frage.
»Hallo Papa. Ich hatte viel zu tun. Aber du hast ja auch meine Nummer für den Fall, das etwas anlag.«
»Okay, okay, ich habe schon verstanden. Erzähl schon, wie geht es euch alleine im großen Haus.«
Eine Weile brachten sie sich gegenseitig auf den neuesten Stand. Dann kam Editha zum eigentlichen Grund ihres Anrufs und sie berichtete dafür zunächst vom Fund des Buches. Sie beschrieb es ihm, so ausführlich wie möglich.
»Ich könnte dir auch ein Foto senden.« Sie hatte ihr Handy schon in der Hand und rückte das Buch auf dem Schreibtisch zurecht. Im nächsten Moment war das Foto unterwegs.
»Kannst du machen, aber ich glaube, dass ich dieses Buch noch nie gesehen habe,« meinte ihr Vater. »Ah, da ist das Bild ja. Nein, nie gesehen. Und auch die Initialen sagen mir nichts. Das ‚R‘ könnte natürlich für unseren Nachnamen stehen, aber ich kenne keinen aus unserer Familie, dessen Vorname mit ‚J‘ begann.«
Editha seufzte enttäuscht.
»So ein Mist. Ich hatte so gehofft, dass du darüber etwas weißt.«
»Na ja, ein wenig weiß ich schon. Die Truhe, die du gerade beschrieben hast, die kenne ich. Die hat dein Opa gehütet, wie seinen Augapfel, wir Kinder durften dort nie ran. Sie ist ein altes Familienerbstück und ich weiß, dass er darin andere Erbstücke aufbewahrte.«
»Das Buch ist also von einem unserer Vorfahren?«
»Darauf deutet alles hin.«
»Hm, hast du nicht irgendwelche Unterlagen? In Familienbüchern, oder so?«
»Nein, so weit reicht das nicht zurück. Ich kann dir Unterlagen über Oma und Opa schicken, aber von deinen Urgroßeltern habe ich schon nichts mehr. Die Namen weiß ich natürlich, die sende ich dir am besten mit. Die weitere Recherche müsste für dich als Journalistin ja ein Leichtes sein.«
Sie verabredeten, dass er die Unterlagen scannen und per Mail senden würde, und verabschiedeten sich.
Als ob er nichts anderes zu tun gehabt hätte, fand Editha eine halbe Stunde später seine Nachricht im Postfach ihres Mailprogrammes. Sie umfasste sämtliche Familienbucheinträge bis hin zu ihren Großeltern.
In der Zwischenzeit hatte sie mit einer Suchmaschine im Internet herausgefunden, wie sie ihre Urgroßeltern ermitteln konnte. Es gab einige Seiten über Ahnenforschung, die darüber umfassend informierten. Sie musste sich dazu an das Standesamt wenden, weil dort seit Ende des 19. Jahrhunderts alle Geburten, Eheschließungen und Sterbefälle registriert wurden. Bevor Timo wieder aufwachte, schaffte sie es noch gerade, einen Brief an das Standesamt zu schreiben, in dem sie um die Daten ihrer Urgroßeltern bat. Dafür konnte sie sich von einer Internetseite ein Musterschreiben herunterladen. Zur Identifizierung gab sie die Namen an, die ihr Vater ihr gesendet hatte, und die Daten ihrer Großeltern aus dem Familienbuch. Zur Sicherheit sendete sie noch einige der gescannten Seiten mit.
Zwei Tage später erhielt sie eine Mail vom Standesamt, in der um die Überweisung der Gebühr gebeten wurde. Das erledigte sie umgehend. Ein paar weitere Tage danach kam dann die Post mit den gewünschten Auszügen aus den Akten. Sie enthielten die Daten ihrer Urgroßeltern und den Hinweis, dass die Aufzeichnungen nur bis in das Jahr 1876 zurückreichten und man ihr deshalb über frühere Vorfahren keine Auskunft geben könnte. Dafür riet man ihr, sich an die zuständige Kirchengemeinde zu wenden. Ihr fiel ein, dass sie auf den Internetseiten, die von der Ahnenforschung handelten, auch davon gelesen hatte, dass man sich in bestimmten Fällen an die Kirchengemeinde wenden solle.
Doch das musste warten, denn im nächsten Moment klingelte das Telefon.
»Gruning hier, vom Antiquariat Gruning«, meldete sich eine fremde Stimme. »Sie haben auf meinem AB um Rückruf gebeten?«
Editha hatte ebenfalls über das Internet und mit ein paar Telefonaten versucht herauszufinden, wer ihr bei der Übertragung der altdeutschen Schrift aus dem Buch in lateinische Buchstaben helfen könnte. Das Antiquariat Gruning fiel ihr dabei an mehreren Stellen auf. Leider war keiner da, als sie dort anrief, also hatte sie auf den Anrufbeantworter gesprochen.
»Ja, vielen Dank dafür. Mein Name ist Riekmüller. Ich habe hier ein altes Buch. Das ist in einer Schrift verfasst, die ich nicht lesen kann, vermutlich altdeutsch. Ich habe im Internet gelesen, dass Sie sich damit auskennen. Ist das richtig?«
»Das ist mein Spezialgebiet, ja.«
»Wäre es möglich, dass Sie sich das Buch mal ansehen?«
Sie vereinbarten für den Nachmittag einen Termin und verabschiedeten sich wieder.
Editha sah kurz nach Timo, der auf dem Wohnzimmerfußboden mit seinen Autos spielte, und ging dann ins obere Stockwerk, um sich über den Fortschritt der Renovierungsarbeiten zu informieren. Der Maler und sein Auszubildender waren dabei, die Unebenheiten in den Wänden mit Spachtelmasse auszugleichen. Irgendwie hatte sie den Eindruck, dass die Arbeiten noch ewig dauern würden. Hier konnte sie jedenfalls nichts ausrichten, also begab sie sich wieder in ihr Arbeitszimmer, um den Artikel zu Ende zu schreiben.
Das Antiquariat hatte eine Schaufensterscheibe, hinter der einige alte Bücher ausgestellt waren. Alles sah ein wenig altmodisch aus, als wäre die Zeit hier vor drei Jahrzehnten stehengeblieben. So auch die Eingangstür: Der Holzrahmen sah verblichen aus, die Scheibe war teilweise blind und dort, wo man hindurchsehen konnte, erblickte man dahinter einen Vorhang, der wohl früher einmal weiß gewesen war und jetzt schmuddelig grau aussah.
Als Editha die Tür öffnete, betätigte sie mit ihr eine kleine Ladenglocke, die ihre Ankunft ankündigte.
»Eine Glocke«, sagte Timo, der ihr an ihrer Hand folgte.
Sie traten ein und ihnen schlug ein muffiger Geruch entgegen, so wie sie es in einem Geschäft mit alten Büchern erwartet hatte. Ringsherum waren Regale, in denen von oben bis unten Buchrücken zu sehen waren. Dazwischen standen mehrere Ausstellungstische mit Stapeln von weiteren Exemplaren.
Editha schloss die Tür, wodurch sie die Glocke erneut zum Klingen brachte. Timo sah zu der Quelle des Geräuschs hoch und war sichtlich über den hellen Klang erfreut.
Von dem Läuten angelockt, betrat ein Mann den Verkaufsraum. Editha ging davon aus, dass das Herr Gruning war. Das erste, was ihr an ihm auffiel, war, dass er offenbar ziemlich alt war, bestimmt über siebzig, aber dafür einen sehr fitten Eindruck machte. Mit einem dynamischen Gang kam er auf sie zu und bewegte sich dabei, als wären ihm orthopädische Probleme fremd. Aus seinen kurzen Hemdsärmeln ragten muskulöse Unterarme, wie sie sie von ihren männlichen Karate-Kollegen kannte, und der Rest seines Oberkörpers sah ebenfalls breit und muskelbepackt aus. Sein akkurat gestutzter grauer Vollbart war etwa genauso lang wie die grauen Haare, die allerdings nicht mehr ganz so flächendeckend vorhanden waren. Er hatte eine Halbbrille auf der Nasenspitze sitzen und die Lachfalten seiner Augenpartie, die Editha darüber sehen konnte, machten ihn gleich sympathisch.
»Moin, wie kann ich helfen?«, fragte er.
»Wir hatten telefoniert. Sie wollen sich mein Buch ansehen.«
Sie holte den braunen Einband aus der Tasche und hielt ihn hoch.
»Ach, die altdeutsche Schrift.« Er nahm ihr das Buch aus der Hand und betrachtete die Buchstaben auf dem Deckel. »J. R.? Initialen? Wissen Sie, was die bedeuten?«
»Noch nicht, aber ich bin dabei, es herauszufinden.«
»Hm, und du weißt wohl auch nicht, was das heißen soll, oder?«
Er bückte sich zu Timo herunter, der sich schnell zur Hälfte hinter ihrem Rücken versteckte und nur ein scheues »Nein« hervorbrachte.
Gruning erhob sich schmunzelnd.
»Na, dann kommen Sie mal mit nach hinten durch, damit ich mir das Buch genauer ansehen kann.«
Er drehte ihr den Rücken zu, wieder ganz in der Betrachtung des Einbandes vertieft, und ging durch einen Vorhang voran ins Hinterzimmer. Editha folgte ihm mit Timo.
Als sie durch den Vorhang traten, saß der Mann bereits an einem Schreibtisch und zog ein Vergrößerungsglas heran, das mit einer verstellbaren Halterung, wie bei einer alten Schreibtischlampe, an den Tisch angebracht war. Damit betrachtete er eine ganze Weile das Äußere des Einbandes. Falls er etwas dabei feststellte, ließ er es sich nicht anmerken, und er äußerte sich auch nicht dazu.
Dann schlug er das Buch auf, blätterte auf die erste beschriebene Seite und betrachtete sie.
»Oh, nein«, sagte er und blätterte weiter, überblätterte ein paar verblasstere Seiten und sagte wieder »oh, nein«.
Editha verließ ihre ganze Hoffnung. Dann würde sie wohl nicht erfahren, was in dem Buch stand. Vielleicht war deshalb nur der eine Abschnitt übertragen worden, weil der Rest nicht leserlich war.
»Dann ist demnach also nichts zu machen? Sie können die Schrift nicht in lateinische Buchstaben übertragen?«
Gruning sah sie überrascht an.
»Wie bitte? Nein. Doch. Natürlich kann ich die Schrift übertragen. Ich kann nur gar nicht glauben, was Sie mir hier für ein Schmuckstück gebracht haben. Das ist ja eine ganz hervorragende, alte Schrift.«
Edithas Hoffnung kehrte zurück, ihr Herz machte einen Hüpfer.
»Dann können Sie sie lesen?«
»Aber ja doch. Das ist Kurrentschrift, eine Laufschrift, die bis Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland verwendet wurde. Der Verfasser dieser Zeilen hat zwar eine - sagen wir mal - etwas eigenwillige Schrift und manche Buchstaben werden auch noch unterschiedlich ausgeführt, aber sie ist absolut lesbar.«
»Und die verblichenen Seiten? Die kann man wohl vergessen, oder?«
»Nein, überhaupt nicht. Da gibt es Methoden, den Kontrast wieder zu vergrößern. Das kriege ich hin.« Er klappte das Buch zu und besah es sich von der Seite. »Allerdings dauert das eine Weile und dementsprechend wird das auch kein billiger Spaß. Dieser Schinken hat bestimmt 500 Seiten. Wenn ich die alle übertrage, wird der Preis so um die 1.000 Euro betragen, vielleicht etwas weniger.«
Die gerade aufgekeimte Freude verpuffte wieder.
»Oh, nein! Unmöglich, das kann ich mir nicht leisten.«
Sie dachte an die ganzen Rechnungen auf ihrem Schreibtisch. Auf keinen Fall konnte sie sich weitere Schulden aufladen. Dabei hätte sie so gerne gewusst, was in dem Buch stand. Was es mit diesen Visionen auf sich hatte.
Gruning musste ihr die Enttäuschung angesehen haben. Fast mitleidig schaute er zu ihr hoch.
»Pass auf, Mädchen, ich mach´ dir einen Vorschlag: Ich übertrage erst mal ein paar Seiten, sagen wir mal die ersten zehn. Danach kannst du es dir immer noch überlegen, ob ich weiter machen soll. Was hältst du davon?«
Dieser Vorschlag war vielleicht gar nicht so schlecht. Ein paar Seiten würde sie sich leisten können.
»In Ordnung. Wann haben Sie das fertig?«
»Hm, das muss ich nebenbei machen. Zwei, drei Tage werde ich wohl brauchen. Ich melde mich, wenn ich fertig bin.«