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Den ganzen Vormittag über hatte Jacob bei der Arbeit in der Mühle die Zähne zusammengebissen. Die Schmerzen durch die Blessuren vom Vorabend machten ihm ziemlich zu schaffen, aber er wollte sich nicht vorwerfen lassen, dass er nicht ordentlich arbeitete. Besonders der Rücken tat ihm höllisch weh, dort wo er in der Schenke gegen den Pfeiler geprallt war. Zum Glück war heute Friedhelm da, um sich seinen Tagelohn zu verdienen. Dann fiel es wahrscheinlich nicht auf, wenn er sich zwischendurch eine Pause gönnte.

Die Mittagspause verbrachten sie draußen. Es war ein warmer Märztag, der die Hoffnung auf den Frühling stärkte. Sie setzten sich auf größere Steine am See und aßen ihre Brote.

Jacob bemerkte irgendwann, dass Herold ihn betrachtete, und sah ihn deshalb fragend an.

»Du hast Schmerzen durch diesen Vorfall gestern Abend?«, fragte Herold.

Er hatte es also doch mitbekommen. Jacob erwog, ihm von dem Überfall beim Lappan zu erzählen, es fiel ihm dafür aber kein Grund ein.

»Viel mehr Kopfschmerzen bereitet mir eigentlich immer noch das, was dieser Kerl gesagt hat. Was sollte das bedeuten?«

Herold wandte den Blick ab und kaute weiter sein Brot.

»Was meinst du?«, brachte er endlich zwischen zwei Bissen hervor.

»Du weißt doch genau, was ich meine.« Das Thema regte Jacob auf. Er musste aufstehen. »Er sagte, uns wäre irgendwas geblieben, das er uns auch wegnehmen will. Was sollte das heißen?«

Herold kaute wieder eine Weile, bevor er antwortete, den Blick auf einen Punkt auf dem See gerichtet.

»Gar nichts.«

Jacob fehlten die Worte. Hier stimmte etwas nicht. Herold sah ihn sonst immer an, wenn er mit ihm sprach und nun sah er geradezu angestrengt weg. Jacob wusste nicht, warum ihn dieses Thema so aufregte. Vielleicht, weil Herold für gewöhnlich so ehrlich war und man ihm an der Nasenspitze ansah, dass er gerade etwas verschwieg.

»Gar nichts? Und wieso bist du dann so merkwürdig?« Jacobs Stimme wurde lauter.

Jetzt sah Herold ihn grimmig an.

»Dieser Kerl hat Unsinn geredet. Er wurde von mir gedemütigt, und er wollte es mir heimzahlen, mehr nicht.«

Jacob musterte ihn. Stimmte das? Oder wich Herold ihm nur aus?

Friedhelm begriff mit seinem begrenzten Verstand nicht, was los war. Einen großen Bissen Brot in der Backe sah er staunend vom einen zum anderen.

»Mit deinen Schmerzen musst du heute nicht weiter in der Mühle arbeiten«, sagte Herold. »Wir brauchen noch einige Lebensmittel. Heute ist Markttag. Geh‘ du hin und mache unsere Besorgungen.«

Friedhelm fing an zu grinsen.

»Oh ja, darf ich mit?«

»Dich brauche ich hier.«

Herold steckte den letzten Bissen in den Mund, stand auf und ging wieder zur Mühle rüber. Friedhelm machte ein muffeliges Gesicht und folgte ihm. Jacob blieb noch kurz sitzen und sah ihnen nach.

Wahrscheinlich hatte Herold recht: Rosas Bruder war einfach nur in seinem Stolz verletzt gewesen und hatte irgendeinen Unfug dahergeredet.

Als Jacob mit dem Sack voller Lebensmittel vom Markt kam, ging er nicht in die kürzere Achternstraße, um direkt nach Hause zurückzukehren, sondern in die Langestraße, und bog hinter dem Rathaus gleich wieder ab. Er wollte noch zur Nikolai-Kirche, um Pastor Gabriel zu besuchen. In seiner Hasenfelltasche befand sich neben den Schreibutensilien die Arbeit der letzten Tage. Dazu wollte er gerne die Meinung des Pastors hören.

Wenn man es genau nahm, war der Pastor sein einziger Freund. Friedhelm war zwar auch so etwas wie ein Freund, aber ihn konnte er nicht richtig zählen, denn er war geistig zurückgeblieben. Der Pastor jedoch war ein Mann mit Verstand. Und vor allem jemand, dessen Meinung für sein Schreiben sehr wertvoll war, denn er war schließlich Mitglied der Literarischen Gesellschaft Oldenburgs. Zu diesem erlauchten Kreis würde Jacob wohl nie gehören.

Er trat durch die stets geöffnete hölzerne Tür in die Kirche ein und ging in der Mitte durch die Reihen der Bänke hindurch. Er musste kurz an Rosa denken, weil er sie hier das erste Mal gesehen hatte. Bei der Tür zur Schreibkammer klopfte er an und betrat nach der Aufforderung das kleine Zimmer.

»Ach, du bist es«, sagte der Pastor, der an seinem Schreibtisch saß. »Ich bin gleich für dich da.«

Er wandte sich seinen Papieren zu und schrieb etwas auf.

Jacob setzte sich auf einen Stuhl und holte seine eigenen Papiere hervor. Er hatte sie mit einem Bindfaden fein säuberlich zusammengebunden. Diesen kleinen Stapel legte er auf eine freie Stelle des Schreibtischs.

Inzwischen war der Pastor mit seiner Arbeit soweit fertig, dass er Zeit für Jacob hatte.

»Hast du mir wieder etwas zum Lesen gebracht?«, fragte er.

»Ja, Pastor. Sie werden staunen, wie die Geschichte weitergeht.«

Jacob war stolz auf sein Werk. Aber er hatte auch ein wenig Angst vor dem Urteil des Pastors. Er war immer sehr ehrlich und Jacob hatte so manches Mal heftige Kritik über sich ergehen lassen müssen.

»Ich freue mich schon darauf, sie zu lesen.«

Sie unterhielten sich noch ein wenig über den bisherigen Verlauf der Geschichte und dann über ein paar andere Dinge, bevor es so spät war, dass Jacob sich verabschieden musste. Schließlich wollte er nicht schon wieder die Passage durch das Stadttor bezahlen müssen.

Dieses Mal ging er ohne Umwege direkt nach Hause.

Was ...?

»Hier nimm. Da ist jemand in der Mühle. Komm schnell.«

Schlaftrunken griff er nach dem Knüppel, den Herold ihm hinhielt. Jacob saß bereits im Bett, begriff aber nicht, was los war. Es musste mitten in der Nacht sein. Herold hatte ebenfalls einen Knüppel in der Hand.

»Was ...? In der Mühle? Wer ist ...?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe Lärm gehört. Nun beeil dich.«

Herold zog ihm die Decke weg und war schon auf dem Weg nach draußen. Jetzt dämmerte es allmählich bei Jacob. Er sprang aus dem Bett, stieg in seine Schuhe und stürzte, ansonsten nur mit seinem Nachthemd bekleidet, hinterher.

Herold war nur wenige Schritte vor ihm. Er eilte ihm nach, konnte aber nicht aufschließen, fiel sogar noch weiter zurück. Langsam verlor sich die Silhouette in der Dunkelheit. Jacob geriet aus der Puste und verwünschte innerlich den Müller, der vor langer Zeit sein Haus nicht direkt an der Mühle, deren Bauplatz ja wahrscheinlich windgünstig ausgewählt worden war, sondern am See haben wollte.

Kurz bevor er bei der Mühle ankam, hörte er Rufe. Zuerst Herolds Stimme, dann riefen sich zwei fremde Männerstimmen etwas zu. Anschließend erklangen Schritte in verschiedene Richtungen.

Er erreichte die Mühle, stolperte über einen am Boden liegenden Gegenstand, fing sich wieder und ging vorsichtig hinein. Es war niemand mehr dort.

Stattdessen fiel ihm, neben einem strengen Geruch, sofort auf, dass der Mahlstein nicht dort war, wo er hingehörte, sondern auf dem Boden lag. Er nahm eine Laterne und entzündete sie. Als er nacheinander alles ausleuchtete, erkannte er das ganze Ausmaß der Beschädigungen.

Die Ursache des Geruchs befand sich gleich neben dem Mahlstein auf dem Boden: Der Übeltäter hatte dort seine Notdurft verrichtet. Nach der Größe des Haufens zu urteilen, musste er lange damit zurückgehalten haben.

Neben dem Haufen wiederum lag ein längliches Stück Holz. Jacob brauchte eine Weile, bis er begriff, dass es sich dabei um den Hebel der Bremse handelte. Das Mehlrohr lag dort herum und viele Holzsplitter, die offenbar von den Getrieberädern stammten, denn die lagen ebenfalls auf dem Boden. Die Namen der Räder bekam Jacob ständig durcheinander: Eines war das Stockrad und eines das Stirnrad. Und dann gab es noch das Kammrad. Welche auch immer das waren, sie waren kaputt. Den Namen des riesigen, senkrechten Bauteils kannte Jacob: Das war die Königswelle. Auch dort hatten sich die Rabauken zu schaffen gemacht. Aber mehr als ein paar Macken, die wohl von Äxten stammten, hatten sie der Königswelle nicht beifügen können.

Als Jacob den Umfang des Schadens realisierte, wurde sogar ihm klar, dass die Mühle nicht mehr funktionieren konnte. Somit hatten sie jetzt keine Möglichkeit mehr, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Er ging hinaus und fand einen Mühlenflügel auf dem Boden liegend. Darüber war er also gestolpert.

In einiger Entfernung sah er Herold auf einem größeren Stein sitzen, das Gesicht in die Hände gestützt. Ihm wurde klar, dass es für seinen Bruder noch viel schlimmer sein musste als für ihn. Beiden war die Mühle ein Mittel, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Müllerei hatten sie von ihren Eltern gelernt. Etwas anderes konnten sie nicht. Aber für Herold war die Mühle wesentlich mehr: Sie war sein Ein und Alles. Das war eine Sache, die Jacob nie verstanden hatte. Herold hatte immer für die Mühle gelebt. Wenn sie ihre normale Arbeit verrichtet hatten, arbeitete und flickte er noch an der Mühle herum. Und danach dachte er darüber nach, wie er sie weiter verbessern konnte. Er konnte sich beim besten Willen nicht ausmalen, wie sich sein Bruder jetzt fühlen mochte.

»Wer war das?«, fragte Jacob.

Es dauerte einen Moment, bis Herold antwortete, ohne seine Körperhaltung zu verändern.

»Ich weiß es nicht. Sie sind in verschiedene Richtungen geflohen. Ich musste mich für einen entscheiden und der ist mir entkommen. In der Dunkelheit konnte ich ihn nicht erkennen.«

Aber Jacob konnte sich denken, wer es war. Gestern war er zwei Mal Männern entkommen, die ihm nichts Gutes wollten. Und heute Nacht passierte das hier. Er konnte sich nicht vorstellen, dass das ein Zufall sein sollte.

Herold erhob sich ruckartig. Er machte ein grimmiges Gesicht.

»Irgendwann muss ich mir den Schaden ja ansehen«, sagte er.

Mit großen Schritten ging er an Jacob vorbei, nahm ihm dabei die Laterne aus der Hand und betrat die Mühle. Nach kurzem Zögern folgte Jacob ihm.

Jacob schritt neben seinem Bruder daher, über den Marktplatz auf das große, weiße Gebäude zu, und ihm war zugleich freudig und mulmig zumute. Einerseits war es das erste Mal in seinem Leben, dass er das Rathaus betreten würde. Von außen hatte er es ebenso oft gesehen, wie er den Marktplatz überquerte, und deshalb war er gespannt darauf, wie es von innen aussah. Ob es so prunkvoll war, wie er es sich vorstellte? Andererseits war der Anlass für diesen Besuch wenig erfreulich. Schließlich mussten sie melden, dass die Mühle zerstört war.

Herold wollte ihn dabei haben, falls es etwas aufzuschreiben gab. So gut sein Bruder in technischen Dingen auch war, wenn es um den Umgang mit der Feder ging, stellte er sich äußerst unbeholfen an. Also hatte Jacob Papier, Löschpapier, Tintenfass, einen Federkiel und noch einen als Ersatz in die Tasche gepackt, um Herold zu begleiten.

Kurz bevor sie bei den beiden Männern der Rathauswache ankamen, schaute Jacob an der Fassade des Rathauses hoch. Über dem Eingang zierte es auf halber Höhe das Oldenburger Wappen, direkt zwischen den zwei Fensterreihen. Und ganz oben zeichneten sich die drei dreieckigen, verzierten Dachausbauten vor dem mit Schleierwölkchen bedeckten Himmel ab.

Die Wachmänner sahen ihnen grimmig entgegen. Das gehörte bestimmt zu ihrer Aufgabe dazu. Ihre Röcke waren so weit zurückgeschlagen, dass die Griffe ihrer Degen zu sehen waren. Na, die würden sie bei Herold und ihm nicht brauchen.

»Guten Tag«, sprach Herold die beiden an. »Wir müssen in einer dringenden Angelegenheit jemanden sprechen, der entscheidungsbefugt ist. Am besten den Bürgermeister oder einen Ratsherren.«

Der linke Wachmann, dessen Antlitz eine enorm große Hakennase zierte, sah Herold geringschätzig an.

»Habt ihr einen Termin vereinbart?«, fragte er.

»Nein.«

Der Wachmann sah kurz seinen Kollegen an, der ziemlich stark schielte, sie lachten, wurden dann aber sofort wieder ernst.

»Ohne Termin werdet ihr nicht vorgelassen, oder glaubst du, jeder Dahergelaufene könne so einfach hier reinspazieren«, fuhr er Herold an. »Scher dich hier weg und nimm diesen Hänfling gleich mit.«

Jacob setzte zu einer frechen Erwiderung an, ein warnender Seitenblick seines Bruders hielt ihn jedoch davon ab. Herold war einen Kopf größer als die beiden Dummköpfe und wesentlich breiter gebaut. Doch dank seiner besonnenen Art, die ihnen in dieser Angelegenheit wahrscheinlich nützlicher war als Jacobs Temperament, antwortete er ruhig und gelassen.

»Wie ich schon sagte, ist es wichtig«, wandte sich Herold an die Hakennase. »Das Eigentum des Herzogtums Oldenburg ist zerstört worden.«

Nun wurden die Wachmänner hellhörig.

»Was meinst du damit?«

»Ich meine die Nordmühle. Jemand hat sie zerstört und wir sind hier, um über das Ausmaß des Schadens zu berichten.«

Hakennase fasste sich ans Kinn.

»Hm, ohne Termin kann ich euch auf keinen Fall vorlassen. Aber etwas so Schwerwiegendes muss natürlich berichtet werden. Ich werde einen Rathausdiener losschicken. Der soll zusehen, dass irgendein Amtsmann euch anhört. Wartet hier.«

Er drehte sich um, lehnte sich gegen die solide Tür bis diese aufschwang und betrat das Rathaus.

Ratsherr von Zölder saß an seinem Schreibtisch und ging die Liste der städtischen Einnahmen vom letzten Monat durch. Er verglich sie mit den Listen der Vormonate. Vielleicht ließ sich an der einen oder anderen Stelle zukünftig noch mehr herausschlagen. Seite um Seite blätterte er um, fuhr mit dem Zeigefinger an den aufgelisteten Fällen entlang und schaute sich die dazugehörigen Beträge an. Aber ihm fiel einfach keine Möglichkeit ein, seine persönlichen Einnahmen, die neben einigen Privilegien 45 Reichstaler jährlich betrugen, noch weiter zu erhöhen. Die Stirn voller Konzentrationsfalten flog der Blick fortwährend von einem Blatt zum anderen.

Als er nach etwa zehn Minuten das Ende einer Seite erreichte, hielt er inne. Er raufte sich die restlichen grauen Haare, die sich links und rechts von seiner Glatze befanden. Warum eigentlich musste er sich über solche Dinge noch Gedanken machen? Wollte er nicht schon längst so weit sein, dass er sich in einen Sessel zurücklehnen und bedienen lassen konnte? So weit, dass er das Sagen hatte und alle auf ihn hören mussten? Dass er nicht ganz nach oben kommen konnte, war ihm klar. Schließlich konnte er ja nicht Herzog werden. Doch zumindest zum Bürgermeister hätte es für ihn, Barthel von Zölder, ja wohl schon reichen können. Aber so lange er es noch nicht war, musste er nach Wegen suchen, dorthin zu kommen, und dafür konnte es nicht schaden, so viel Geld anzuhäufen, wie es nur ging. Nicht zuletzt weil die Zuwendung von Barschaften an die richtigen Stellen seinem bisherigen Karriereweg nicht geschadet hatte.

Gerade wollte er mit dem verdrießlichen Schaffen fortfahren, als es an der Tür klopfte. Zum Glück, jede Ablenkung war ihm jetzt recht. Er klappte die Mappe mit den Listen zu, setzte sich aufrecht hin und machte ein Gesicht wie jemand, der ungern gestört wurde.

»Ja, bitte«, rief er in einem ebensolchen Tonfall.

Einer der Rathausdiener trat ein. Wie hieß er noch: Hans, Hannes, Johannes? Sei’s drum, warum sollte er sich die Namen dieser Leute merken? Wichtig war, dass sie den seinen wussten.

»Bitte verzeihen Sie die Störung, Herr von Zölder«, sagte er kleinlaut.

»Ja, ich hoffe für dich, dass du einen gewichtigen Grund dafür hast.«

Dem Rathausdiener war anzusehen, dass ihm nicht wohl war in seiner Haut. Von Zölder musste innerlich grinsen. Es war ja so einfach, diese Leute einzuschüchtern.

»Der liegt vor, denke ich.« Der Rathausdiener klang, als hätte er einen Kloß im Hals. »Draußen stehen zwei Männer, die einen Amtsmann sprechen möchten.«

»Wenn sie keinen Termin haben, bring sie zu irgendeinem Schreiber. Das ist doch wohl kein Grund, mich bei der Arbeit zu stören.«

»Das wollte ich ja. Aber die Schreiber sind nicht zugegen.«

»Nicht zugegen? Ja, und was soll ich dann daran ändern?«

Der Rathausdiener betrachtete ausgiebig die Spitzen seiner Schuhe.

»Nun ja, ich dachte, dass Sie vielleicht ...«

»Was erlaubst du dir? Ich habe viel zu tun und kann nicht einfach irgendwelche Trottel empfangen, die keinen Termin haben.«

»Das hat der Wachmann ihnen auch schon erklärt«, beeilte sich der Rathausdiener zu erwidern. »Aber dann erzählten sie von einer Zerstörung der Nordmühle und, dass sie von dem Schaden berichten wollen.«

»Die Details interessieren mich nicht«, schnauzte von Zölder. »Scher dich aus meiner Amtsstube hinaus.«

»Jawohl, Herr von Zölder. Ich bitte um Entschuldigung für die Störung.«

Der Rathausdiener drehte sich um und bewegte sich in Richtung der Tür.

Die Nordmühle. Irgendetwas assoziierte von Zölder mit der Nordmühle. Was war noch damit? Ach, stimmt ja!

»Die Nordmühle sagst du?«, rief er dem Rathausdiener hinterher, der gerade die Tür schließen wollte. Er öffnete sie wieder und kam zurück in die Amtsstube.

»Ganz recht.«

»Wird die nicht von der Familie Riekhen bewirtschaftet? Und die wurde zerstört?« Ein Grinsen legte sich auf von Zölders Gesicht. »Nun, die Zerstörung vom Eigentum des Herzogtums ist natürlich eine wichtige Angelegenheit. Schicke sie zu mir rein.«

Der Rathausdiener guckte irritiert, wandte sich aber der Tür zu, um den Befehl auszuführen, als von Zölder etwas ergänzte. »Aber lass sie erst eine Stunde warten.«

Noch eine ganze Weile nachdem der Rathausdiener gegangen war, grinste von Zölder vor sich hin. Weiterhin grinsend legte er dann die Mappe mit den Listen der Einnahmen in die oberste Schublade des Schreibtisches und lehnte sich in seinen Stuhl zurück.

Von Zölder schreckte vom Klopfen an der Tür hoch. Er musste kurz eingedöst sein. Mit weit aufgerissenen Augen schüttelte er den Kopf. Jetzt wäre kaltes Wasser nicht schlecht, um munter zu werden. Es klopfte ein zweites Mal.

»Ja doch, herein bitte«, rief von Zölder ungehalten.

Bevor die Tür aufschwang, ergriff er hastig den Federkiel und legte vor sich auf den Schreibtisch ein Blatt Papier mit Notizen. Keine Sekunde zu früh, denn im nächsten Moment trat ein hakennasiger Wachmann ein, gefolgt von zwei jungen Männern und einem weiteren Wachmann, der so stark schielte, dass einem vom Anblick schwindelig werden konnte.

Das waren also Riekhens Söhne. Der Ältere hatte eine wahrlich hünenhafte Gestalt. Bestimmt zwei Meter groß, breit wie ein Schrank, Arme wie Baumstämme mit bratpfannengroßen Händen, doch der Gesichtsausdruck war sanft und besonnen. Er sah seinem Vater ganz und gar nicht ähnlich. Anders der jüngere Sohn, der ein Abbild seines alten Herrn war: klein, eher schmächtig und mit einem wilden, temperamentvollen Blick. Sogar die Haare ragten ihm lang und lockig ins Gesicht, ebenso wie es die seines Vaters früher taten.

Na, dachte von Zölder, dann kann der Spaß ja beginnen.

Er bemühte sich, so streng zu gucken, wie es ihm nur möglich war.

Eine und eine halbe Stunde hatten Jacob und Herold gewartet. Davon hatten sie eine Stunde in einer muffigen, kleinen Kammer ohne Fenster gestanden, bis Hakennase sie schließlich wieder abholte. Jacobs Kehle war ausgedörrt und seine Geduld längst aufgebraucht. Langes Warten war nichts für ihn.

Als sie ihnen durch die Flure folgten, konnte er das Gespräch der Wachmänner hören, obwohl sie nur flüsterten.

»Dieses Mal gehst du zuerst zu diesem Ekelpaket in die Amtsstube«, raunte Hakennase.

»Das könnte dir wohl gefallen«, erwiderte der Schielende ebenso leise. »Aber das kannst du gleich wieder vergessen.«

»Warum soll ich immer derjenige sein, der sich von ihm zusammenscheißen lassen muss?«

»Von ‚immer‘ kann gar nicht die Rede sein. Als wir die Nachricht über den Fund der dritten Leiche überbringen sollten, war ich es, der sich von ihm ausschimpfen lassen musste, weil er angeblich erst so spät davon erfuhr. Nein, nein, du hast in dieser Angelegenheit angefangen und du führst es auch zu Ende.«

Hakennase schimpfte leise vor sich hin.

»Was ist eigentlich mit dieser Leiche? Weiß man darüber schon etwas Neues?«, fragte Schielauge.

Hakennase unterbrach sein Schimpfen.

»Woher soll ich das wissen?«, gab er muffelig zurück.

»Dein Schwager ist doch bei den Polizei-Dragonern. Hat der noch nichts davon mitbekommen?«

»Ja, doch. Er sagt, dass man völlig im Dunkeln tappt. Genau wie bei den ersten beiden Leichen. Man weiß nur, dass es keine Unfälle waren.«

»Woher?«

»Das kann man wohl feststellen. Die ersten beiden wurden erschlagen und der letzte erwürgt, bevor sie in den Graben geworfen wurden. Das soll der Bader jedenfalls gesagt haben.«

Interessant, dachte Jacob. Wie man das wohl feststellen konnte? Wahrscheinlich hinterließ das Erwürgen Verletzungen am Hals. Wenn das so war, dann mussten sie kaum sichtbar sein, denn Jacob konnte sich nicht an irgendetwas Auffälliges am Hals des Toten erinnern.

Die Wachmänner blieben vor einer Tür stehen. Hakennase atmete einmal tief durch und klopfte an. Als nach einer Weile immer noch keine Antwort kam, klopfte er erneut an, woraufhin eine unwirsche Stimme von drinnen die Erlaubnis zum Eintreten erteilte.

Als sie die Amtsstube betraten, war der Ratsherr dabei, etwas zu schreiben. Er hob den Blick und musterte sie. Gewiss arbeitete er bereits seit Stunden, so müde und verquollen wie seine Augen aussahen. Trotzdem wirkte sein Blick herrisch, als er zuerst auf Herold und dann auf Jacob ruhte. Jacob wandte den seinen nicht ab. Der Ratsherr sollte nicht glauben, dass er sich ihm unterlegen fühlte, nur weil er ein einfacher Müllergehilfe war.

Hakennase stellte sich an die rechte Seite und starrte die gegenüberliegende Wand an, der andere Wachmann blieb hinter ihnen stehen.

»Was höre ich da?«, sagte der Ratsherr, sich wieder an Herold wendend. »Ihr habt die Nordmühle zerstört, die euch vom Herzogtum und insbesondere der Stadt Oldenburg zur Bewirtschaftung zur Verfügung gestellt wurde?«

Jacobs Puls beschleunigte sich sofort. Welche Anschuldigung! Sie sollten sie zerstört haben? Was hatte dieser Esel von Rathausdiener dem Ratsherrn denn erzählt? Er hatte schon den Mund geöffnet, um ihm klar zu machen, welchen Unsinn er da von sich gab, als ihn ein neuer kurzer Seitenblick von Herold wieder davon abhielt.

»Guten Tag, Herr von Zölder«, sagte Herold. Woher kannte er den Namen des Ratsherren? Vielleicht stand der draußen an der Tür und Jacob hatte ihn nur nicht bemerkt. »Sie sind, was die Mühle betrifft, womöglich falsch informiert worden. Nicht wir haben sie zerstört. Das wäre auch nicht in unserem Interesse gewesen, weil sie uns schließlich ernährt. Nein, es waren andere Männer«, erklärte Herold ruhig.

»So, so! Und woher soll ich wissen, ob du mir auch die Wahrheit sagst?« Darüber hätte Jacob wohl lachen können: Herold sollte lügen? Nie und nimmer. Der war stets absolut ehrlich, sogar wenn es zu seinem eigenen Nachteil gereichte. Da war Jacob eher jemand, der es mit der Wahrheit nicht immer ganz genau nahm. »Vielleicht habt ihr die Mühle ja durch ein Missgeschick zerstört«, fuhr von Zölder fort, während er um seinen Schreibtisch herum auf sie zukam, »und wollt euch jetzt mit diesen Lügen aus der Verantwortung herauswinden.«

Das war nun wirklich zu viel. Jacob machte zwei Schritte auf den Ratsherren zu, sodass die beiden sich unmittelbar gegenüber standen.

»Wie reden Sie eigentlich mit meinem Bruder?«, schimpfte er. »Wissen Sie nicht, dass ...?«

Weiter kam er nicht. Der Ratsherr hatte Hakennase ein Zeichen gegeben und im nächsten Moment war dieser bei ihm, drehte seine Arme auf den Rücken und hielt ihn fest. Jacob spürte eine Bewegung seines Bruders, doch im gleichen Augenblick hörte er am metallischen Klang, dass der andere Wachmann seinen Degen aus der Scheide zog, was Herold sofort innehalten ließ. Auch Jacob unterließ seine Befreiungsversuche.

Auf dem Gesicht des Ratsherren bildete sich ein hämisches Lächeln. Mit den Händen hinter dem Rücken stolzierte er auf Jacob zu und blieb dicht vor ihm stehen.

»Wie ich mit deinem Bruder rede?«, sagte er. »Ich rede mit ihm so, wie es mir beliebt.« Er sah Jacob in die Augen. »Ts, ts, ganz der Vater. Immer gleich so aufbrausend.«

Ganz der Vater? Der Ratsherr kannte seinen Vater? Jacob selbst hatte ihn nie kennengelernt, weil seine richtigen Eltern beide kurz nach seiner Geburt bei einem Unfall gestorben waren.

»Auch ansonsten siehst du Diether Riekhen sehr ähnlich. Er war vor 20 Jahren ein genauso kleines, mageres Bürschchen«, fügte von Zölder hinzu.

Er meinte also tatsächlich seinen Vater. Jacob war so überrascht, dass er sogar die Schmerzen in seinen Armen nicht mehr spürte, die der Wachmann ihm zufügte. Er hatte noch nie jemanden getroffen, der seinen Vater kannte.

»Zu dumm, dass es so ein Ende mit ihm genommen hat«, raunte er Jacob zu und hatte dabei ein hässliches Grinsen im Gesicht.

»Uns ist aber kein Missgeschick passiert«, versuchte es Herold weiterhin mit Vernunft. Jacob sah ihm an, dass selbst er sich dazu enorm zusammenreißen musste. »Es waren andere Männer, die letzte Nacht in die unbewachte Mühle einbrachen und sie zu einem großen Teil zerstörten.«

Von Zölder wandte sich wieder Herold zu.

»Und welche anderen Männer sollen das gewesen sein?«

Herold sah zu Boden.

»Das wissen wir nicht. Wir haben zwar eine Vermutung, aber beweisen können wir es nicht.«

»Unterlasse es ja, aufgrund von Vermutungen, irgendwelche Männer zu beschuldigen. Das würde euch ohnehin nichts nützen. Selbst, wenn ich euch eure Geschichte glauben würde, was ich nicht tue, hättet ihr es versäumt, die Mühle ausreichend gegen einen Einbruch zu sichern und zu bewachen. So oder so, ich laste euch die Zerstörung der Mühle an.« Von Zölder schritt hinter seinen Schreibtisch zurück. »Deshalb bestimme ich hiermit, dass ihr die Mühle wieder zum Funktionieren bringen müsst. Wie, ist mir egal. Lasst euch etwas einfallen. Alles geht auf eure Kosten und den Pachtzins müsst ihr trotzdem weiter bezahlen. Und nun seht zu, dass ihr hier rauskommt.«

Nach diesen Worten schubste Hakennase Jacob in Richtung Tür und ließ ihn dabei los. Jacob rieb sich die schmerzenden Arme.

»Aber wie sollen wir das denn bezahlen?« Herold klang verzweifelt. »Nicht nur, dass wir mit der Mühle keine Einnahmen erzielen können, wir müssen auch noch Material für den Wiederaufbau kaufen und die Gebühren aufbringen.«

»Das ist ganz allein euer Problem. Nehmt halt eine weitere Arbeit an, damit ihr das finanzieren könnt. Mir ist nur daran gelegen, dass das Herzogtum und die Stadt durch eure Schuld keinen Nachteil erfahren.«

Von Zölder sah die Wachmänner an und machte eine nickende Kopfbewegung zur Tür. Hakennase fasste nun ebenfalls seinen Degen am Griff, ohne ihn herauszuziehen, und drängte sie zusammen mit dem anderen Wachmann zum Ausgang.

So kann man sich täuschen, dachte Jacob. Vor einer Stunde war er noch in dem Glauben, dass die Wachmänner ihre Waffen bei ihnen nicht brauchen würden. Nun hatten beide ihre Degen angefasst. Und von Prunk hatte er gar nichts gesehen in den Gängen, die zu der Amtsstube führten.

Jenseits der Zeit - Historischer Mystery-Thriller

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