Читать книгу Jenseits der Zeit - Historischer Mystery-Thriller - Michael Vahlenkamp - Страница 17

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Wie, zum Teufel, sollte sie so ihren neuen Auftrag der Nordwest-Zeitung rechtzeitig fertig bekommen? Dieser Krach machte sie wahnsinnig. Den ganzen Tag ging das schon so. Am Vormittag hatten die Handwerker unzählige Löcher in die Wände gebohrt. Das damit verbundene Dröhnen ging ihr durch Mark und Bein. Und im Moment stemmten sie mit Bohrhammern die Wände für die Wasser-, Strom- und Abflussleitungen der neuen Küche auf. Gegen diesen Lärm war das Löcherbohren ein Flüstern gewesen. Zu allem Überfluss war Timo nun auch noch quengelig. In seinem Mittagsstündchen hatte er wahrscheinlich keine Minute geschlafen, was ihm jetzt natürlich fehlte. Ständig hing er ihr am Rockzipfel und wollte dieses oder jenes. Inzwischen war sie mit ihren Nerven am Ende. Sämtliche Konzentrationsfähigkeit war dahin.

Sie klappte ihr Notebook zu.

»Komm Timo.« Ihr Sohn spielte auf dem Fußboden ihres Arbeitszimmers. Die Fahrgeräusche der Spielzeugautos, die er mit seiner Stimme imitierte, fielen bei dem Lärm in ihrem Haus kaum auf. »Wir gehen an die frische Luft.«

Sie machten eine halbe Runde um die Dobbenwiese und quer darüber hinweg zurück. Die Luft war herrlich. Es war noch ein schöner Sommertag. Der kleine Spaziergang hatte sie spürbar entspannt.

Im Haus war es bei ihrer Rückkehr tatsächlich ruhiger als vorher. Der Bohrhammer hatte Pause. Stattdessen war jemand nur mit einem normalen Hammer zu Gange, was verglichen mit der vorherigen Geräuschkulisse wie ein leises Klacken war.

Sie begaben sich wieder ins Arbeitszimmer, wo Timo sich erneut seinen Autos widmete. Edithas Blick fiel auf das Schreiben vom Standesamt. An Telefonieren war bei der Geräuschkulisse bisher heute nicht zu denken gewesen, aber jetzt konnte sie den Moment nutzen.

Im Internet hatte sie auf der Homepage der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg ein paar Durchwahl-Nummern des Archivs herausgefunden. Davon rief sie aufs Geratewohl eine an. Es meldete sich eine freundliche Dame, mit der sie einen Termin vereinbarte, an dem sie Einsicht in die Mikrofiches nehmen konnte. Wie sie im Internet gelesen hatte, waren in diesen Mikrofiches die Kirchenbücher gespeichert, bis ins Jahr 1640 zurückgehend.

Kaum hatte sie das Gespräch beendet, stand plötzlich einer der Handwerker in der Tür des Arbeitszimmers und klopfte an den Türrahmen. Er sah aus wie ein Bäcker kurz vor Feierabend, überall mit weißem Staub bedeckt.

»Entschuldigen Sie, Frau Riekmüller«, sagte er. »Es gibt da ein Problem. Das sollten Sie sich vielleicht mal ansehen.«

Er führte sie nach oben in die werdende Küche. Editha erschrak: Dort herrschte das reinste Chaos. Überall lag Schutt, in der Wand klaffte ein riesiges Loch.

»Oh, mein Gott«, konnte sie nur sagen, bevor sie sich die Hand vor den Mund hielt.

Der Handwerker räusperte sich.

»Das sieht schlimmer aus, als es ist«, meinte er mit einer abwinkenden Handbewegung. »Das Problem ist ein anderes.« Er deutete in das Loch. »Wir wollten die neuen Leitungen ja hier entlang legen.« Er zeigte Editha, wie der Verlauf sein sollte. »Aber jetzt sind wir auf einen alten Kaminschacht gestoßen. Der war vorher nicht zu sehen. Und das Problem ist, dass der undicht ist.«

Der Handwerker erzählte davon, dass es reinregnete und es an dieser Stelle immer wieder feucht werden würde, dass sie den Schacht ganz entfernen und die Stelle neu wieder zumauern müssten, dass sie nach oben hin abdichten müssten, dass dies mit Mehrkosten verbunden wäre, und dass er aber dringend dazu raten würde, weil sie sonst immer wieder Ärger damit bekäme. Schon in der Mitte seiner Rede resignierte Editha. Es würde also noch teurer werden und sie konnte nichts dagegen tun.

»Sollen wir diese Arbeiten durchführen?«, schloss der Handwerker seinen Wortschwall ab.

Editha seufzte.

»Wie hoch wären denn die Mehrkosten?«

»Schwer zu sagen. Man weiß bei einem solch alten Haus nie, was noch dazu kommt, wenn man erst mal anfängt.«

Dann klingelte es an der Haustür.

Sie musste es ja sowieso machen lassen. Ansonsten würde sie wahrscheinlich tatsächlich später Ärger kriegen. Ihr Mieter, Mads Burges, war bereits mehrmals hier, um sich über den Fortschritt der Renovierungsarbeiten zu informieren. Er hatte in manchen Punkten extrem genaue Vorstellungen und stellte immer wieder Forderungen. Irgendwie schien er zu ahnen, dass er der einzige übrig gebliebene Interessent war. Und leider war er sehr kleinlich.

»Na gut«, seufzte sie noch mal. »Führen Sie die Arbeiten durch.«

Sie ging nach unten und öffnete. Wenn man an den Teufel dachte: Es war Mads Burges. Was wollte der denn schon wieder? Na ja, was wohl: Mal wieder nach dem Rechten sehen. Angesichts des Zustands der Küche passte ihr das ganz und gar nicht.

»Guten Tag, Herr Burges. Sie schon wieder?«

»Dürfte ich noch mal einen Blick auf die Wohnung werfen?«

Er drückte bereits die Haustür auf und drängelte sich an ihr vorbei. Abermals musste Editha seufzen. Sie folgte ihm nach oben.

Vor der Küche blieb er stehen. Sie hatte mit einem Aufschrei oder mit irgendeiner anderen erschrockenen Reaktion gerechnet, aber Burges sah sich das Geschehen in aller Ruhe an.

»Da drin sieht es schlimmer aus, als es ist«, wollte Editha den Zustand so erklären, wie er ihr gerade erklärt worden war.

Sein kurzer Seitenblick wirkte überrascht.

»Das ist ja wohl normal, wenn eine Küche in einem Raum eingerichtet wird, der ursprünglich nicht dafür vorgesehen war.«

Was war das für ein komischer Kerl, auch wenn er wahrscheinlich recht hatte.

Er sah sich noch die anderen Räume an, ging dann ohne ein weiteres Wort die Treppe hinunter und verließ ihr Haus. Editha sah ihm kopfschüttelnd hinterher.

Die Handwerker packten ihr Werkzeug zusammen.

»Feierabend«, sagte der Lehrling, und ging grinsend an ihr vorbei.

Zum Glück, dachte Editha, dann hatte sie endlich Ruhe für heute.

Unten im Arbeitszimmer fing Timo an zu schreien.

Das Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche war nicht weit von ihrem Haus entfernt. Deshalb beschloss sie, zu Fuß dorthin zu gehen. Timo durfte sein Gokart benutzen, das er über alles liebte, seit er es von seinen Großeltern geschenkt bekommen hatte. Es war zwar nicht so sonnig wie gestern, aber trotzdem ziemlich warm. Editha spazierte und Timo fuhr durch die ruhigen Straßen des Dobbenviertels. Sie überquerten die Hauptverkehrsstraße, die Ofener Straße, wenn sie sich recht entsann, und kamen nach ein paar Querstraßen, die wieder relativ ruhig waren, bei ihrem Ziel an.

Das Gebäude, zu dem sie mussten, sah sehr schön aus. Es war mit einem hellbraunen Stein geklinkert und helleren, beigen Steinen abgesetzt. Das und der kleine Turmausbau an der Vorderseite gaben ihm ein fast schloss-ähnliches Aussehen. Der Eingang befand sich an der Seite. Timo ließ sein Gefährt vor der Treppe stehen und sie gingen hinein.

Drinnen nannte sie ihren Namen und verwies auf ihren Termin. Ihr wurde ein Platz mit Mikrofiche-Gerät zugewiesen. Hier breitete sie ihre Unterlagen aus, ließ aber ein kleines Plätzchen frei, wo sie Timos Malsachen hinlegte. Er machte sich sofort eifrig ans Werk. Und sie ebenfalls.

Das Kirchenbuch hatte ein Personenregister. Also suchte sie zunächst nach dem Namen »Riekmüller«. Sie fand auch einige, die ihr allerdings schon bekannt waren. Die weiteren Eintragungen hatten eine leicht abgewandelte Schreibweise: »Riekhmüller« mit »h«. Das musste sie sich genauer ansehen. Sie wählte also die im Register genannten Seiten. Dort waren die Daten von Taufen, Konfirmationen, Trauungen und Beerdigungen vermerkt sowie die Geburts- und Sterbedaten der jeweiligen Personen. Vom Standesamt hatte sie ja bereits die Daten ihrer Urgroßeltern erhalten. Diese verglich sie mit den Daten im Kirchenbuch und fand schließlich ihre Ururgroßeltern, bei denen sich der Nachname also noch anders schrieb. Das »h« ist dann wohl nach dieser Generation unter den Tisch gefallen, warum auch immer. Von den Seiten fertigte sie sich eine Kopie an.

Auf diese Weise ging sie weiter vor, und sie fand die Daten ihrer Vorfahren bis ins Jahr 1835 zu ihren vier Mal Ur-Großeltern. Dort endeten die Einträge im Personenregister, die Kirchenbücher reichten aber noch weiter zurück. Die Suche wurde also mühseliger, denn sie musste alle Seiten durchblättern. Irgendwann entdeckte sie ihre fünf Mal Ur-Großeltern. Und nach langer Suche, als sie fast aufgeben wollte, fand sie zwar nicht den Namen »Riekhmüller«, aber »Riekhen«. Sollte es vorher schon einmal eine Änderung des Namens gegeben haben? Warum nicht? Vielleicht war einer ihrer Vorfahren ein Müller und deshalb wurde aus »Riekhen« irgendwann »Riekhmüller«. Auch von dieser Seite machte sie eine Kopie.

Ihre sechs Mal Ur-Großeltern hießen demnach vermutlich Herold und Cecilie Riekhen. Das war enttäuschend. Denn die Jahreszahlen in dem Buch vom Dachboden lagen zeitlich zwischen den Jahresdaten von Geburt und Tod des Ehepaars Riekhen, das passte also. Die Initialen stimmten aber nicht.

Deshalb forschte sie eine weitere Generation zurück und fand, nach erneuter langer Suche, noch mal den Namen Riekhen. Jedoch passten die Initialen wieder nicht, denn ihre sieben Mal Ur-Großeltern hießen Diether und Alheyt. Außerdem waren die beiden schon viele Jahre, bevor das Buch verfasst wurde, gestorben. Der Sohn, Herold, war noch ein Kind.

Timo wurde langsam maulig. Er hatte keine Lust mehr, zu malen. Ständig fragte er, wann er denn wieder Gokart fahren könnte und ob er es nicht ein wenig auf dem Flur tun könnte.

Sie machte schnell Kopien von den letzten gefundenen Seiten und verließ den Platz.

Mit Timo im Schlepptau suchte sie noch einmal die Dame an der Information auf.

»Entschuldigen Sie bitte, ich hätte eine Frage«, sagte Editha. Die Frau lächelte sie an. »Ist es möglich, dass in den Kirchenbüchern Einträge fehlen?«

»Theoretisch schon«, antwortete die Frau, eine graue Maus in den Vierzigern. »Die Kirchenbücher sind nur so vollständig, wie die Pastoren, die sie führten, gewissenhaft waren.

»Also könnte es sein, dass eine Person komplett fehlt?«

»Das ist eher unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist in dem Fall, dass von einer Person ein kirchliches Ereignis nicht eingetragen ist, dass zum Beispiel die Trauung fehlt.«

Editha war enttäuscht. Was sollte sie nun tun?

»Wissen Sie, ich bin mir ziemlich sicher, dass einer meiner Vorfahren, der Ende des 18. Jahrhunderts gelebt hat, die Initialen ‚J‘ und ‚R‘ hatte. In den Kirchenbüchern ist aber niemand mit diesen Initialen zu finden.«

Die Dame lächelte geduldig weiter.

»Sie könnten es mal im Staatsarchiv probieren. Dort gibt es über die kirchlichen Daten hinausgehend noch andere Daten für die Ahnenforschung.«

»Staatsarchiv? Und wo finde es das?«

Die Dame griff nach einem Notizzettel, gab etwas in ihren Computer ein und schrieb die Adresse auf. Editha nahm den Zettel entgegen.

»Am Damm«, las sie laut. »Können Sie mir sagen, wo das ist?«

»Im Innenstadtbereich. Dort müssen Sie sich aber auch einen Termin holen.«

»Mist! Dann kann ich ja wieder ein paar Tage warten.«

»Die Zeit können Sie aber nutzen: Sie können bereits online recherchieren, welche Dokumente für Sie interessant sein könnten.«

Am nächsten Vormittag kam sie mit ihrem Artikel für die Zeitung gut voran. Die Handwerker waren heute vergleichsweise ruhig. Die schlimmsten Arbeiten hatten sie am Vortag erledigt, weil sie da den alten Kaminschacht abgerissen hatten. Nun hatten sie anscheinend leisere Aufgaben zu erledigen. Auch Timo hatte sie weitgehend in Ruhe arbeiten lassen, sodass sie mit dem, was sie geschafft hatte, sehr zufrieden war.

Nun wollte sie die Zeit nutzen, in der Timo seinen Mittagsschlaf hielt, und sich wieder ein wenig ihrer privaten Ahnenforschung widmen. Im Internet fand sie die Homepage des Oldenburgischen Staatsarchivs und dessen Telefonnummer. Sie rief an und vereinbarte einen Besuchstermin, der leider erst am Ende der folgenden Woche war. Aber sie konnte ja schon in der Online-Recherche suchen, was sie auch sofort begann.

Als erstes stellte sie einen Benutzungsantrag, den sie für ihren Vor-Ort-Termin benötigen würde, wie ihr der Herr am Telefon sagte. Dann rief sie die Recherche-Funktion auf und fand eine Gliederung der im Archiv vorhandenen Dokumente vor mit einer enormen Anzahl von Untergliederungspunkten. Wenn sie sich dort überall durchklicken wollte, würde sie am Sonntagabend noch hier sitzen. In der Titelleiste entdeckte sie den Begriff »Suche«. Also klickte sie darauf. Es erschien ein Fenster, in das sie einen Suchbegriff eingeben konnte. Sie tippte »Riekhen« ein. Insgesamt gab es 94 Treffer, allerdings für ganz Niedersachsen. In der Navigationsleiste bestand die Möglichkeit, die Suche nach Regionen weiter einzugrenzen. Neben »Oldenburg« stand in Klammern eine 39. Also klickte sie hierauf. Und wieder erschienen viele Untergliederungspunkte, jeweils mit der Anzahl der Treffer dahinter.

Da sie nicht genau wusste, wonach sie hier eigentlich suchte, klickte sie diese der Reihe nach an. Das meiste von dem, was daraufhin auf der rechten Seite erschien, überflog sie nur kurz, bevor sie es als uninteressant einstufte und sich dem nächsten Dokument widmete. Dabei waren Dinge wie Militärsachen und Kirchensachen, ein Dokument sollte von einer Jagdverletzung eines Riekhen handeln, ein anderes von einer Zollstrafsache. Die meisten dieser Dokumente konnte sie aufgrund der nicht zutreffenden Jahreszahlen von vorneherein ausschließen.

Als sie dann bei den Untergliederungspunkten auf »Oldenburgische Vogteien« klickte, wurde rechts endlich ein Dokumenttitel angezeigt, der interessant klang. Es handelte sich um einen Übertragungskontrakt zwischen Diether von Riekhen und der Grafschaft Oldenburg aus dem Jahre 1768. Sie konnte sich dazu noch eine Detailseite aufrufen, die sie ausdruckte. Dieses Dokument wollte sie sich auf jeden Fall ansehen, wenn sie das Staatsarchiv aufsuchte.

Sie dachte über den Titel des Dokuments nach. Zum einen fiel natürlich das »von« im Namen auf. Sie holte die Kopie aus dem Kirchenbuch hervor. Tatsächlich, das hatte sie vorher übersehen: Auch hier stand »Diether von Riekhen«. Sein Sohn Herold hieß aber nur Riekhen, ohne »von«. Ungeheuerlich, welche Wandlung der Name durchgemacht hatte: Aus »von Riekhen« wurde »Riekhen und danach kamen »Riekhmüller« mit »h« und »Riekmüller« ohne »h«. Aber wie es wohl zu dem Wegfall des Adelsprädikats kam?

Doch in dem Zusammenhang fiel noch etwas anderes auf: Zur gleichen Zeit wurde ein Besitz Diether von Riekhens an das Herzogtum Oldenburg übertragen. Dort stand zwar nicht, um welche Art von Besitz es sich dabei handelte, aber wenn es extra eine Urkunde dafür gab, musste es einen gewissen Wert gehabt haben, wie beispielsweise Grundbesitz.

Sie rief die Suchfunktion erneut auf und gab »Herzogtum« ein, doch bereits bei der Eingabe merkte sie, dass sie damit nicht weiterkommen würde. Denn allein »Herzogtum« hatte über 13.000 Treffer, und dann gab es noch weitere Varianten, wie zum Beispiel »Herzogtums«, »Herzogthum« und »Herzogtume«. Deshalb versuchte sie es mit der Kombination aus »Herzogtum« und »Übertragungskontrakt«. Dafür gab es 12 Treffer. Danach probierte sie die anderen Varianten und kam auf insgesamt 33 Treffer, von denen 27 zeitlich nach dem Kontrakt Diether von Riekhens ausgestellt wurden. Von allen druckte sie sich die Detailseiten aus.

Sie sah auf die Uhr. Es war Zeit, Timo aus dem Bett zu holen, sonst würde er am Abend nicht müde werden.

Die Handwerker waren schon lange ins Wochenende gegangen und Editha musste langsam das Abendbrot fertig machen. Sie hatte sich von Timo dazu breitschlagen lassen, ihm Pfannkuchen zu backen. Also suchte sie die Zutaten dafür zusammen.

Das Telefon klingelte in einem ungünstigen Moment. Sie hatte Teig an den Fingern und auch von der Rührmaschine tropfte er in großen Flatschen herunter. Hastig wischte sie sich die Hände am Küchenhandtuch ab und griff zum Telefon.

»Gruning hier«, meldete sich die andere Seite.

»Oh, hallo Herr Gruning.«

Sie stellte fest, dass doch noch Teig an ihren Fingern war und sie damit das Telefon eingeschmiert hatte. Verdammter Klehkram!

»So, mein Mädchen. Die ersten 30 Seiten sind fertig und können abgeholt werden«, meinte Gruning fröhlich.

Editha riss mit der freien Hand ein Küchenkrepp ab und versuchte, den Teig vom Telefon zu wischen und gleichzeitig zu telefonieren, was sich als schwer machbar herausstellte.

»Oh, das ist schön.« Fast fiel ihr der Apparat herunter. »Äh ... was? Wir hatten doch gesagt, dass Sie erst mal nur 10 Seiten übertragen.«

Vor Schreck vergaß sie die Schmiererei und hielt sich das Telefon direkt ans Ohr.

»Ja, ja, keine Sorge. Ich werde nur 10 Seiten in Rechnung stellen. Es war einfach so interessant, dass ich nicht aufhören konnte. Ich musste zumindest die Ereignisse des aktuellen Datums komplett übertragen.«

Zum Glück, dachte Editha. Sie hatte ein klebriges Gefühl am Ohr. Mit dem Krepp von vorher wischte sie einmal zwischen Telefon und Ohr entlang.

»Weißt du«, fuhr Gruning fort, »ich liebe diese Berichte aus früheren Zeiten. Daran kann ich mich gar nicht sattlesen. Wann möchtest du denn herkommen?«

Editha ging im Geiste schnell den weiteren Tagesablauf durch. Das war zwar alles ein wenig knapp, aber er hatte sie neugierig gemacht und sie brannte darauf, den Text zu lesen.

»Würde es heute noch gehen?«

Sie vereinbarten einen Abholtermin für den Abend und beendeten das Gespräch.

Das Telefon war immer noch voller Pfannkuchenteig. Sie nahm ein neues Küchenkrepp und wischte zuerst ihre Finger und dann das Telefon sauber. Ihr Ohr fühlte sich auch noch klebrig an. Sie ging mit frischem Krepp bewaffnet auf den Hausflur, doch als sie dort ihre Haare im Spiegel sah, merkte sie, dass hier nur eine Dusche half.

Die 30 Blätter Papier, ausgedruckt mit einem Tintenstrahldrucker, der einen Patronenwechsel nötig hatte, und mit einem hellblauen Heftstreifen zusammengeheftet, lag am Samstagmorgen zuerst auf dem Küchentisch, falls Editha beim Frühstück nebenbei einen Blick hätte hineinwerfen wollen. Zwei oder drei Male hätte sie auch die Gelegenheit dazu gehabt. Doch bevor sie dazu kam, wollte Timo wieder irgendetwas.

Dann lag der Papierstapel eine ganze Weile auf ihrem Schreibtisch. Immer wieder sah sie ihn sekundenlang an, war im Begriff, darin zu lesen, aber stets fielen ihr andere Dinge ein, die sie zuerst machen wollte.

Zur Mittagszeit lag er wieder auf dem Küchentisch und nachmittags erneut auf dem Schreibtisch und das Spiel vom Vormittag wiederholte sich.

Am Abend saß Editha auf ihrem Sofa. Timo war schon eine Weile im Bett. Die Blätter mit der in lateinische Buchstaben übertragenen Version der ersten 30 Buchseiten befand sich vor ihr auf dem Couchtisch. Jetzt hatte sie Zeit, in Ruhe darin zu lesen. Sie atmete tief durch und genoss die Ungestörtheit. Gleich würde sie anfangen, nur einen Moment die Augen schließen.

Nach diesem Moment sah sie das Heftchen wieder an und sie begriff, warum sie den ganzen Tag noch kein Wort davon gelesen hatte. Nicht etwa, weil sie keine Zeit oder keine Ruhe dazu hatte. Nein, da hatte sie schon weitaus stressigere Tage hinter sich. Der eigentliche Grund war, dass sie Angst hatte.

Was wäre, wenn es so wie letztes Mal sein würde? Wenn sich der Ablauf der Dinge wiederholte? Wenn sie von einem Geschehnis läse, und sie hinterher abermals eine Vision davon hätte? Beim ersten Mal fand sie es erschreckend. Und anschließend wäre ihr womöglich wieder so schlecht. Der Gedanke daran machte ihr eine Gänsehaut.

Aber andererseits wollte sie genau das. Sie wollte nochmal durch die Augen dieses Mannes aus längst vergangener Zeit sehen, wollte seine Gefühle fühlen, wollte das erleben, was er erlebte. Diese Möglichkeit übte eine gewaltige Anziehungskraft auf sie aus, als wäre sie einer Sucht bereits nach dem ersten Anfixen verfallen.

Sie starrte die Blätter an. Das war doch Unsinn. Wer sagte, dass es wieder so kommen würde? Wahrscheinlich war das sowieso ein einmaliges Erlebnis.

Mit einem Ruck beugte sie sich nach vorn und griff sich die Blätter. Sie lehnte sich ins Sofa zurück und begann, auf der ersten Seite zu lesen.

Wie sie bereits in der Originalfassung anhand der Jahreszahlen festgestellt hatte, hatte J. R. etwa drei Jahre vor diesem Überfall am Lappan damit begonnen, das Buch zu schreiben. Im Gegensatz zu der Szene, die sie schon kannte und die in einer Art Romanstil verfasst war, wurden die ersten Seiten im typischen Tagebuchstil geschrieben. Dabei waren die Einträge eher sporadisch, alle paar Wochen oder Monate wurden nur besondere Erlebnisse ergänzt. Die Beschreibungen waren sehr kurz und knapp gehalten, sodass die ersten 30 Seiten bereits mehr als zwei Jahre überspannten. Neben der Schilderung der Erlebnisse hatte J. R. das beschrieben, was sie Visionen nannte. Er nannte sie »Gesichte«. Diese hatte er seit frühester Kindheit. Er lebte im 18. Jahrhundert und schrieb von Dingen, die er eigentlich noch nicht kennen konnte, wie Autos und Smartphones. Die Begriffe kannte er natürlich nicht, sodass er die Dinge umschrieb. So bezeichnete er Autos als pferdelose Kutschen.

Die Geschehnisse, die er schilderte, hatte er durch die Augen einer Frau gesehen, wie man an den Formulierungen merkte, aber ihr kamen sie gänzlich unbekannt vor. Vielleicht hatte er diesen Austausch mit verschiedenen Frauen in ihrer Zeit.

Andererseits kamen ihr die Gefühle und Sinneswahrnehmungen seltsam vertraut vor, so als würde er von ihr sprechen. War es möglich, dass diese Ereignisse ihr noch bevorstanden, also in ihrer Zukunft lagen?

Aber das würde ja bedeuten, dass dieser Mann regelmäßig in ihrem Körper steckte. Er bekam mit, was sie fühlte, was sie dachte und tat. Jederzeit könnte er erscheinen und sie beobachten.

Editha lief ein Schauder über den Rücken. Wenn ein Fremder Kameras in ihrer Wohnung installiert hätte und sie ständig beobachten würde, hätte sie sich nicht anders gefühlt.

Unheimlich berührt warf sie die Blätter zurück auf den Tisch, als wären sie mit ekligem Schleim bedeckt.

Plötzlich war sie völlig erschöpft. Sie beschloss, heute sehr früh ins Bett zu gehen.

Zu ärgerlich: Editha knurrte jetzt schon der Magen, weil sie heute früh in der Eile noch nicht zum Essen gekommen war und sich nur etwas eingepackt hatte mit dem Hintergedanken, es während der Recherche zu essen. Doch auf der Glastür, durch die sie in den großen Hauptraum des Staatsarchivs gehen wollte, prangte ein Schild, das sogar die Mitnahme ihres Rucksackes untersagte. Eigentlich hätte sie sich das aber auch denken können, dass man hier die Dokumente vor schmierigen Fingern und Kaffeeflecken bewahren wollte. Da sie jetzt keine wertvolle Zeit verlieren wollte, musste sie wohl eine Weile Kohldampf schieben.

Zu ihrer Linken sah sie einen Bereich mit Schließfächern für die Dinge, die im Rechercheraum unerwünscht waren oder von den Besuchern aus eigenem Interesse nicht mitgenommen werden sollten. Sie ging zum ersten Schrank, fütterte ihn mit einem Euro, schloss ihre Sachen ein und war dann bereit den Hauptraum zu betreten.

Die Dokumente, die sie für die Einsichtnahme angemeldet hatte, lagen schon für sie parat. Ein recht freundlicher Mann mittleren Alters gab ihr dazu noch ein paar Hinweise und bat sie dann an einem der Tische für ihre Recherche Platz zu nehmen.

Editha breitete die Unterlagen, so gut es ging, auf der vorhandenen Fläche aus. Sie hatte nun alle 28 Übertragungskontrakte, die sie vorab online entdeckt hatte, vor sich liegen: den einen zwischen Diether von Riekhen und dem Herzogtum Oldenburg und die 27 zwischen dem Herzogtum Oldenburg und verschiedenen anderen Personen.

Zuerst nahm sie sich Diether von Riekhens Kontrakt vor und las ihn sorgfältig durch. Er war zwar auch in altdeutscher Schrift verfasst, aber es handelte sich um Druckschrift, die sie einigermaßen entziffern konnte. In dem Dokument stand, dass das gesamte Grundeigentum inklusive aller Gewerke an das Herzogtum Oldenburg übergegangen war, und zwar ohne Gegenleistung. Unter Zuhilfenahme natürlicher Begrenzungen wie Bäche und Erhebungen war angegeben, wo sich die Ländereien befanden.

Editha runzelte die Stirn. Sehr eigenartig: Warum wurde der gesamte Landbesitz Diether von Riekhens, mit allem, was sich darauf befand, einfach an das Herzogtum übergeben? Das war ja quasi eine Enteignung.

Ob so etwas öfter vorkam? Sie nahm sich die 27 weiteren Kontrakte und ging sie einen nach dem anderen durch. Tatsächlich kam es noch mehrmals vor, dass Grundeigentum in den Besitz des Herzogtums überging. Aber es wurde auch Grundeigentum vom Herzogtum an Bürger übereignet. In einem Fall behandelten zwei zeitlich aufeinander folgende Kontrakte das gleiche Landstück, das zuerst von einem Bürger auf das Herzogtum überging und einige Tage später auf einen anderen Bürger.

Das brachte Editha auf eine Idee: Vielleicht wurde Diether von Riekhens Grundbesitz ja ebenfalls später einem anderen Bürger übereignet. Sie verglich die Daten der Ländereien mit denen der anderen Kontrakte. Beim neunten Dokument wurde sie fündig. Hierbei handelte es sich, bis auf ein kleineres Landstück, das nicht mit aufgeführt war, um die gleichen Ländereien, die früher Diether von Riekhen gehörten. Diese wurden drei Jahre später an einen Barthel von Zölder übertragen für die Gegenleistung von einem Reichstaler.

Editha wusste nicht, wie hoch der Wert eines Reichstalers gewesen war, doch sie war sich ziemlich sicher, dass er als Bezahlung für einen größeren Landbesitz niemals ausreichend gewesen war.

Aber was war damals mit dem kleineren Landstück passiert, das nicht an diesen Barthel von Zölder gegangen war? Sie nahm den Übertragungskontrakt mit den Daten des Landstücks, ging damit an einen der Recherche-Computer und gab die Daten in die Suchmaske ein. Mehrere Dokumente wurden angezeigt: Zum einen natürlich die beiden Übertragungskontrakte und außerdem noch drei Pachtverträge für dieses Landstück. Sie notierte sich die Bezeichnungen der Dokumente und ging zu dem Herrn von vorhin, der die Dokumente – ausnahmsweise, wie er betonte – für sie heraussuchen wollte. Während der damit verbundenen Wartezeit begab sie sich kurz in den Vorraum und holte ihr Essen aus dem Schrank, um sich zu stärken. Danach galt es, schnell zurück an die Arbeit zu gehen.

Die Pachtverträge für das Land lagen schon für sie bereit. Sie nahm sie mit zu ihrem Platz und sah sich den ersten an. Er wurde genau an dem Tag ausgestellt, als auch der Grundbesitz Diether von Riekhens an das Herzogtum übereignet wurde. Der Pächter des Landes war ein Bernhard Stuhrke. In einer Bemerkung war ausgeführt, dass er mit seiner Frau Martha in gleicher Weise wie bisher fortfahren soll, die auf dem Landstück befindliche Mühle zu bewirtschaften. Dann war noch der Pachtzins angegeben, mit dem Hinweis, dass dessen Höhe ebenfalls unverändert war.

Editha nahm sich den zweiten Pachtvertrag vor, der 14 Jahre später abgeschlossen worden war. Sie las den Namen des Pächters und näherte sich mit ihrem Gesicht unwillkürlich dem Papier, weil sie nicht glauben konnte, was dort geschrieben stand: Herold Riekhen. Ihr Mehrfach-Urgroßvater war der spätere Pächter des Landstücks, das seinem Vater einmal gehörte. Warum war ihr das Dokument nicht schon bei ihrer Online-Recherche vom heimischen Computer aus aufgefallen? Ja, richtig, nachdem sie das Übertragungsprotokoll gefunden hatte, hatte sie sich so auf diese Spur fokussiert, dass sie die anderen Treffer gar nicht weiter durchgegangen war.

In dem Pachtvertrag mit Herold Riekhen war, neben der Angabe des Pachtzinses und sonstiger Konditionen, wieder eine Bemerkung vorhanden: Er sollte mit seinem Bruder Jacob in gleicher Weise wie bisher sein Stiefvater fortfahren, die auf dem Landstück befindliche Mühle zu bewirtschaften.

Und wieder starrte Editha überrascht auf das Papier. Jacob? Herolds Bruder? Also Jacob Riekhen? Da waren sie, die Initialen: J. R. stand für Jacob Riekhen. Das Buch war demnach vom Bruder ihres Soundsoviel-Urgroßvaters geschrieben worden.

Merkwürdig nur, dass es in den Kirchenbüchern keinen Eintrag zu Jacob Riekhen gab, als wäre er nie geboren worden und auch nicht gestorben, zumindest nicht in Oldenburg.

Sie warf noch einen Blick auf den dritten Pachtvertrag und wie sie schon vorher vermutete, war dieser mit dem Nachkommen Herold Riekhens abgeschlossen worden, von dem sie ja die Daten in den Kirchenbüchern gefunden hatte.

Nun hatte sie alles, was sie wollte. Sie machte von den für sie interessanten Dokumenten Kopien und sortierte sie wieder an die richtigen Plätze.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es soweit war, nach Hause zu gehen. Sie hatte ein älteres Mädchen aus dem Karatekurs zum Babysitten gewinnen können und die vereinbarte Zeit war bald herum.

Jenseits der Zeit - Historischer Mystery-Thriller

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