Читать книгу Liebe, Tod und Pflege - Michael Weiß - Страница 7
ОглавлениеGenügsamkeit
Frau Drechsler ist eine überaus liebenswürdige alte Dame. Sie hat schon das stolze Alter von sechsundneunzig Jahren erreicht, doch wenn sie einem sagen würde sie sei erst achtzig, dann würde man es ihr auch ohne weiteres glauben. Sie wohnt bereits seit fünf Jahren bei uns und benötigt bislang keinerlei Hilfsmittel, außer einer Brille, einem Hörgerät rechts und einem Gehstock mit orthopädischem Griff, welchen sie eigentlich nur pro forma in der rechten Hand hält, während sie regelrecht, von A nach B über die Flure saust. Sie lebt noch vollkommen eigenständig bei uns und benötigt weder Hilfe beim an- oder auskleiden, noch bei der Körperpflege. Sogar den Rücken wäscht sie sich noch vollkommen eigenständig. Dies zeigte sie den Pflegekräften immer wieder gerne, wie sie mithilfe eines Handtuches, welches sie als großen Waschlappen umfunktioniert, welches sie sich über den Rücken wirft um sich damit sehr beherzt, besagten Rücken zu schrubben. Sie wüsste, dass man dies eigentlich nicht mache, aber man könne das Stück Baumwollstoff ja über Nacht in der Dusche trocknen lassen, äußert sie immer verschmitzt lächelnd. Ich sage ihr dann immer, dass wenn ich diesen ominösen Mann, der ihr sagen wolle, wie und wofür man Handtücher benutzt und sich daran störe, einmal persönlich treffen sollte, ich um ein wenig mehr Verständnis in ihrem Namen werben werde. Das bringt sie auch regelmäßig zum Lachen. Sie zeigt generell ein sehr großes Maß an Kreativität als auch Improvisationsvermögen, um sich von den körperlichen Einschränkungen des Alters nicht unterkriegen zu lassen und sämtliche Verrichtungen des Alltages selbstständig durch zu führen. Die einzige Hilfestellung, welche sie seit neuestem bereit war von uns anzunehmen, bestand darin, dass das Pflegepersonal ihr morgens die Beine wickeln durfte, da sie durch eine allmählich fortschreitende Venen- und sicherlich auch ein wenig Herzinsuffizienz, zu Ödem Bildung in den Beinen und den Füßen neigt. Abends wickelt sie sich die Kompressionsbinden eigenständig wieder ab und rollte diese sehr lange auch eigenständig wieder auf. Doch da ihre Arthrose in den Fingern, nun, da sie beinahe ein ganzes Jahrhundert auf dieser Erde weilt, langsam aber sicher immer schlimmer wird, nehmen wir ihr auch diese Mühe, gerne zusätzlich ab. Ich bewundere immer wie genügsam und Anspruchslos sie ist. Immerhin hätte sie auch noch sehr lange eigenständig daheim zurechtkommen können. Doch spätestens jetzt ist es natürlich ohne Frage besser, dass sie sich in einer geschützten und fachpflegerisch betreuten Umgebung befindet und dadurch auf eventuelle Unterstützung zurückgreifen kann. Sie war ihr Leben lang eigenständig und auch wenn es ihre eigene Entscheidung war, musste sie sich irgendwann mit der Tatsache auseinandersetzen, das sie dadurch ihren Hausrat, also alles das, was sie sagen wir mal in den letzten 85 Jahren mehr oder weniger bewusst angesammelt und zumindest die letzten fünfzig Jahre, in einer einhundertdreißig Quadratmeter großen Wohnung bis zu ihrem einundneunzigsten Lebensjahr angehäuft und zusammengetragen hatte, insoweit reduzieren, also verschenken oder entsorgen musste, das es in einem circa zwanzig Quadratmeter großen Zimmer unterzubringen und aufzubewahren war. Sie können mir glauben, diese besondere Situation bei und vor dem Heimeinzug ist in meinen Augen eine, für den Menschen, insofern er dies natürlich noch bewusst verarbeiten kann, sehr herausfordernde und sicherlich nicht einfache. Also wenn sie von mir jetzt verlangen würden und für viele kommt der Heimeinzug sehr überraschend nach Unfall, Sturz, Herzinfarkt oder Schlaganfall…., entscheiden zu müssen was ich in eine zwanzig Quadratmeter Wohnung mitnehme würde und der Rest wird an meine Familie verschenkt und oder kommt weg, da würde ich schon ziemlich doof aus der Wäsche gucken, glauben sie mir das. Alleine die Bücher und die Blue-rays und die Bilder. Wo kommt der Fünfunsechzigzoller hin? Doch für sie war das zum Glück kein Problem erzählt sie auch immer gerne, Sie konnte sich ja darauf vorbereiten, betont sie immer und ja, das ist sicherlich eine gute Sache, aber sie sagt auch, fünfundneunzig Prozent von dem was sie besaß hat sie zurückgelassen. Doch dann fügt sie immer noch hinzu, dass sie durch den Krieg schon einmal alles verloren hatte und dadurch auch wisse was wirklich von Bedeutung sei.
Sie wurde neunzehn hundert sechzehn in Berlin geboren, zu einer Zeit, in der der erste Weltkrieg in vollem Gange war und ihr Vater, ein Jahr nach ihrer Geburt in eben jenem Krieg, an der Französischen Front fallen sollte. Dieser Umstand zwang ihre Mutter dazu, sie und ihre drei Brüder, von denen die beiden ältesten ebenfalls einem späteren Weltkrieg zum Opfer fallen sollten, alleine groß zu ziehen. Als Hitler Polen überrannte war sie bereits dreiundzwanzig, seit vier Jahren verheiratet und bereits Mutter von zwei Söhnen. Als in der Nacht vom neunundzwanzigsten, auf den dreißigsten August neunzehnhundertzweiundvierzig der schwerste Luftangriff der Sowjetunion über Berlin hereinbrach, hatte sie drei Wochen zuvor ihre erste Tochter zur Welt gebracht. In dieser Nacht, in der die sowjetische Luftwaffe unzählige Tonnen Sprengstoff auf die Hauptstadt warf, saß sie mit ihren sechs und drei Jährigen Söhnen und ihrer neu geborenen Tochter in einem Keller in Kreuzberg und war sich sicher, dass sie nun alle in dieser Nacht sterben würden. Der Keller war vollkommen überfüllt, es war dunkel, man sah die Hand vor Augen kaum. Der Lärm muss ohrenbetäubend gewesen sein. Jeder Zentimeter in diesem Keller wackelte und bebte. Sie erzählt diese Geschichten sehr oft und ich bekomme jedes Mal eine Gänsehaut, wenn sie von dem näherkommenden Pfeifen, den stetigen Erschütterungen, dem unbeschreiblichen Lärm, dem Donner und der dauernden Ungewissheit ob die Decke beim nächsten Mal über einem einstürzen und sie alle unter sich lebendig begraben würde, berichtet. Das einzige, dass sie außer ihrem Leben und ihrer blanken Angst in dieser Nacht besaßen, waren die Kleider die sie am Leibe trugen und ein Eimer Wasser um die Windeln des Kleinkindes auszuwaschen. Nach dieser Nacht besaßen sie nichts mehr. Es ging ums nackte Überleben. Ihr Mann war zu dieser Zeit seit etwa sechs Monaten an vorderster Front und kehrte erst vierzehn Jahre später, als einer der letzte von insgesamt etwa 890.000 deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion zurück. Größtenteils zu Fuß legte er diese unendlich langen Distanz zurück.
Nachdem der Krieg vorüber war hieß es improvisieren. Aus den Trümmern und aus dem Schutt, also aus dem was die Bomben, das Feuer und die freie Witterung übriggelassen hatten und was „Der Russe“ wie sie es nannte nicht geplündert hatte, mussten sich die Überlebenden eine neue Existenz aufbauen. Sie erzählt diese Geschichten immer, während sie in ihrem alten beigen Ohrensessel sitzt und eine selbstgestrickte Wolldecke aus bunten Karos auf ihren Beinen ruht. Besonders berührt mich immer eine Szene, in der Sie schildert wie Sie mit ihren Kindern in den Wald geflohen war, aus Angst vor Vergewaltigung und Peinigung und Sie seit Tagen nicht genügend zu trinken hatten, ihr Durst wurde immer stärker, die Angst entdeckt zu werden allerdings auch. Da habe der liebe Gott es leicht schneien lassen und Sie habe die dünne Schneeschicht mit einem Kaffeelöffel von den Blättern und den Ästen aufgesammelt um es in einem kleinen Topf zu schmelzen, dies habe Stunden in Anspruch genommen.
Ich bin jetzt 36 und habe mir gerade mein viertes Sofa gekauft, meinen sechsten Fernseher und überlege jeden Monat aufs Neue, was ich mir denn als nächstes in die Wohnung stellen könnte. Ich habe noch niemals wirklich richtigen Durst oder Hunger verspürt, zumindest nicht aus tatsächlichem Mangel oder gar annähernd in einer ausgeprägten Intensität.
Fr. Drechsler sitzt einfach nur da. Sitzt in dem Sessel den Sie schon seit Jahrzehnten besitz. Sitzt da und schaut aus dem Fenster. Es läuft kein Radio, kein Fernseher und Sie scheint in sich zufrieden zu sein. Sie jammert nicht. Sie jammert nie. Sie sagt Sie sei einfach nur zufrieden. Zufrieden mit sich. Zufrieden mit ihrem Leben, der erlebten Vergangenheit und der jetzigen Gegenwart. Und Sie sei unheimlich stolz, dass Sie all ihre Kinder lebendig durch diese Zeit gebracht hatte und das aus allen etwas Anständiges geworden sei. Das kann Sie in meinen Augen auch sein, eigentlich noch viel viel mehr als das. Eigentlich ist Sie eine Heldin und ich habe das Glück sie zu treffen und sie unterstützen zu dürfen. Ich habe schon sehr viele Helden und Heldinnen getroffen.
In unserer Einrichtung, welche nach dem offenen Hausgemeinschaftskonzept aufgebaut ist, leben drei und dreißig Senioren in drei Gruppen und jeder von ihnen, hat seine ganz eigene, individuelle und persönliche Geschichte zu erzählen. Ich höre jedem einzelnen von ihnen, sobald es meine Zeit erlaubt, immer wieder gerne zu. Man kann sich heute, sehr vieles von dem was in der Vergangenheit geschehen ist nicht mehr, oder nur sehr schwer vorstellen. Auch wenn diese Geschichten, selbst auf mich, heute sehr unwirklich und surreal wirken, kann man aus ihnen auch heute noch sehr viel lernen, vorausgesetzt es besteht die Bereitschaft sich darauf einzulassen.