Читать книгу Warum der stille Salvatore eine Rede hielt - Michael Wäser - Страница 10
Zu Hause
ОглавлениеDer äußere Anschein körperlicher Unversehrtheit nach dem Unfall und Salvatores anschließender Reanimation hatte getäuscht. Zehn Tage, nachdem Salvatore im Bovniker Universitätsklinikum mehrmals operiert worden war, um sein an drei Stellen gebrochenes Becken wiederherzustellen, wachte er aus dem künstlichen Koma auf, in das man ihn zu seinem eigenen Schutz versetzt hatte. Genau genommen wachte er bereits zum zweiten Mal auf, denn das erste Mal, wenige Stunden zuvor, nachdem das Sedativ abgesetzt worden war, er selbstständig zu atmen begonnen und man den Beatmungsschlauch vom Tubus abgenommen hatte, war bereits wieder komplett aus Salvatores Erinnerung verschwunden, als er mitten in der Nacht von allein wieder erwachte. Da er bis vor einigen Stunden beatmet und künstlich ernährt worden war, schmerzten sein Gaumen, sein Kehlkopf und die Stelle am Hals unterhalb seines Kehlkopfes, in der noch der Tubus des Beatmungsgeräts in seinem Hals steckte, was Salvatore jedoch noch nicht realisierte. Es war still im Raum, nur ein fahles Nachtlicht brannte, und Salvatores Augenlider, die man fürsorglich mit etwas Vaseline eingestrichen hatte, ließen sich nur schwer öffnen. Als er es endlich geschafft hatte, verklebte die Vaseline seine Augen, und er konnte nichts sehen außer einem vagen Lichtschein, der sich in den Schlieren der Vaseline auf seiner Hornhaut vielfach brach. Er blinzelte, die Vaseline brannte in seinen Augen. Er versuchte, sich die unangenehme Substanz mit der Hand abzuwischen, musste aber feststellen, dass er seine Hand nicht heben konnte. Er konnte den ganzen Arm nicht bewegen. Sein Arm tat nicht, was Salvatore wollte. Er tat gar nichts. Auch der andere Arm gehorchte Salvatore nicht. Er fragte sich, ob seine Arme überhaupt noch da waren. Ihm fiel zwar kein Grund ein, weshalb sie nicht da sein sollten, aber in der unklaren Situation, in der er sich befand, erschien es ihm nicht übertrieben, ihre Existenz nachzuprüfen. Er versuchte, den Kopf zu heben, doch ohne Erfolg. Sein Kopf ließ sich nicht bewegen. Ob er irgendwo eingeklemmt war oder Salvatore einfach nicht die Kraft hatte, seinen Kopf zu bewegen, blieb also erst einmal offen. Wenigstens musste er sich keine Sorgen machen, ob sein Kopf noch da war. Er konnte ja unmöglich verschwunden sein, Salvatores Augen ließen sich doch bewegen, und das wäre ohne Kopf kaum zu bewerkstelligen gewesen. Sogar die Zunge konnte er etwas bewegen und den Mund ein wenig öffnen. Also war dort oben vermutlich alles vorhanden. Vom ordnungsgemäßen Zustand seiner Ohren ging er der Einfachheit halber aus, und seine Nase konnte er zwischen seinen Augen erahnen, wenn er sich sehr bemühte, einen Moment lang zu schielen. Wirklich sehen konnte er noch immer nicht. Salvatore blinzelte weiter, ohne dass sich seine Sicht besserte. Womöglich konnte ihm eine kleine Bewegung mit einem Finger gelingen, damit würde er gleichzeitig das Vorhandensein sowohl der Arme als auch der Hände bestätigen können. Er konzentrierte sich auf seinen rechten Zeigefinger, sein rechter Zeigefinger war vermutlich sein meistbenutzter und am besten geübter Finger, auf ihn konnte er sich in der Regel blind verlassen. Ja, er spürte eine Berührung, die Spitze des Zeigefingers berührte die Spitze des Daumens, der die Berührung ebenfalls signalisierte. Wenn dies nicht so etwas wie ein Phantomschmerz war, dann war sein rechter Arm vorhanden, vermutlich mit allem, was dazugehörte. Auch seines linken Armes konnte er sich auf diese Weise versichern. Seine Augen brannten nun recht unangenehm. Salvatore schloss die Lider, kniff sie zu, so fest er konnte. Es strengte ihn an, also ließ er es bald wieder sein. Langsam verschwand das Brennen, aber nun tränten seine Augen. Er spürte, wie die Tränenflüssigkeit zu beiden Seiten seines Gesichts hinab rann. In seinem linken Ohr schien sich die Flüssigkeit zu sammeln. Hier begann es zu jucken. Dieses Ohr war also, wo es hingehörte. Allmählich besserte sich das Brennen in den Augen, das Tränen ließ nach. Die Tränenflüssigkeit auf seinem Gesicht kühlte sich ab, die Bahnen, die sie genommen hatte, trockneten an und juckten nun ebenfalls. Oder war es das Salz, was nun juckte? Salvatore versuchte, seinen Kopf hin und her zu schütteln, um die Tränenflüssigkeit, die sich in seinem Ohr gesammelt hatte, herauszuschleudern oder zumindest großflächiger zu verteilen, aber dazu fehlte ihm die Kraft. Also wartete er, bis die Tränen in seinem Ohr von selbst trockneten. Die Tränen auf der rechten Seite seines Kopfes waren vermutlich unterhalb seines Ohres, von dem er nun annehmen konnte, dass es ebenfalls nicht fehlte, bis in seinen Nacken geflossen, denn dort juckte es ihn nun mit ein wenig Verzögerung auch. Während er wartete, besann er sich auf seine Beine. Die hatte er irgendwie vergessen. Sie zu prüfen war sicher nicht so einfach, wie bei den Händen, denn er hatte seine Zehen noch nie gegeneinander führen können, jedenfalls nicht an ein und demselben Fuß. Er entschied, es erst einmal mit einer beliebigen Bewegung der Zehen zu versuchen, musste aber bald einsehen, dass seine Zehen sich nicht bewegen ließen, ebenso nicht seine Füße und seine Beine. Das musste nicht bedeuten, die Beine seien nicht vorhanden, sagte er sich, aber es war auch nicht unbedingt geeignet, Heiterkeit zu verbreiten. Alles in allem befand er sich offenbar in einer ungewohnten, vielleicht sogar besorgniserregenden Situation. Sein Puls stieg. Wo war er überhaupt? Er hatte keine Ahnung, wo er war. Warum konnte er sich nicht bewegen? Warum kaum etwas sehen? Was war eigentlich passiert, was hatte ihn in diese Situation gebracht? Es gelang ihm, nicht in Panik zu geraten. Im Grunde fühlte er sich wohl. Abgesehen von dem Jucken in seinem Ohr und dem Druckgefühl auf seinem Hals fühlte er sich sogar ausgesprochen wohl. Er konzentrierte sich auf diejenigen Sinneseindrücke, die ihm keine Mühe bereiteten. Der Geruch. Der Geruch, den er wahrnahm, kam ihm zwar nicht gewöhnlich vor, aber auch nicht völlig fremd. Ein klar umrissener Geruch, ein gleichermaßen alarmierender wie vertrauenerweckender Geruch. Er atmete etwas tiefer ein, um ihn genauer identifizieren zu können, erinnerte sich, wie er einmal in einem Krankenhaus einen entzündeten Mückenstich hatte behandeln lassen, weil sein Handgelenk auf die Dicke seines Oberarms angeschwollen war, da zuckten seine Augen vor Schreck. Begleitet von kurzen, blitzartigen Helligkeitsänderungen drangen dumpfe Geräusche herein, harte Schläge, besser, Einschläge. Granateinschläge, gefolgt von tiefem Summen. Genau, Geräusche hatte er noch gar nicht in Betracht gezogen. Er hatte ja auch noch keine registriert, seit er erwacht war, das bemerkte er jetzt. Salvatore erkannte die Geräusche wieder. Vertraute Geräusche. Signaturgeschosse. Das Wort übte eine beruhigende Wirkung aus. Seine eben aufgekeimte Angst legte sich wieder. Signaturgeschosse. Er war in Bovnik. Vermutlich in einem Krankenhaus. Aber er war zu Hause.
Das Bovniker Uni-Klinikum, ehemals „Kaiserliches Universitätsklinikum“, blickte auf eine glorreiche, wenn auch mittlerweile angestaubte Geschichte zurück. Die Keimzelle seines Erfolges, die neurologische Abteilung, zehrte noch heute, beinahe zehn Jahre nach dem Zerbrechen des Staates Thunak und der Unabhängigkeit Bovniks, bald siebzig Jahre nach der Auflösung des Kaiserreiches und einhundertzehn Jahre nach der Gründung des Instituts, vom Ruhm seines zutiefst humanistischen Gründers, und der leitende Professor schien überzeugt, dessen Errungenschaften nichts auch nur annähernd Segensreiches mehr hinzufügen zu müssen. Stattdessen profilierten sich die Ärzte der Neurologie und Psychiatrie seit dem politischen Umbruch und unter dem Eindruck seiner Folgen für die innere und äußere Sicherheit des jungen Staates lieber in der engen Zusammenarbeit mit den Staatssicherheitsbehörden, mit anderen Worten: sie perfektionierten die Methoden der „Befragung Aussageunwilliger“, testeten und entwickelten „unterstützende“ Medikationen und Verfahren und werteten Verlauf und Ergebnisse ihrer Anwendung nach streng wissenschaftlichen Maßstäben aus, um sie weiter zu optimieren. Der noch jugendliche, kleine, um nicht zu sagen zwergenhafte Staat Bovnik verfügte aufgrund des außergewöhnlichen Engagements der besten Neurologen des Landes über die berüchtigtsten und erfolgreichsten Folterer des ganzen Kontinents, die sich allerdings so gut wie ausschließlich mit thunakischen Spionen und Soldaten befassten. Abgesehen davon konnte jeder reguläre Patient der Bovniker Neurologie sicher sein, eine ausgesprochen kompetente Diagnose und Behandlung zu erhalten, und auch jeder Unfallpatient, bei dem eine Schädigung des Gehirns oder Nervensystems nicht von vorneherein ausgeschlossen werden konnte, verließ das Klinikum nicht, ohne dass zumindest die grundlegenden neurologischen Parameter gewissenhaft überprüft worden waren. Die außerordentliche Qualität der Bovniker Neurologen und Neurochirurgen war zwar auch außerhalb Bovniks bekannt, doch niemand wollte in ein Kriegsgebiet kommen, Kopf und Kragen riskieren, um von einem zugegebenermaßen hervorragenden Neurochirurgen operiert zu werden. Doch seit die Signaturtechnologie angewendet wurde, änderte sich die Situation zusehends, und so fanden nun auch zahlungskräftige Patienten aus dem Ausland Aufnahme in den altehrwürdigen Gemäuern des Klinikums. Ihr Geld sorgte im Gegenzug dafür, dass sich die Klinik noch bessere Ausstattung leisten konnte. Bald würde sie weltweit an der Spitze stehen, prognostizierten nicht wenige Kenner der Branche. Einer der ersten dieser ausländischen Patienten war der Vorstandschef eben jenes Rüstungskonzerns, welcher dafür gesorgt hatte, dass Zivilpersonen in Bovnik nicht mehr um ihr Leben fürchten mussten als an Orten der Erde, in denen kein Krieg herrschte. Ein Schlaganfall hatte ihn mitten in einer Vorstandssitzung ereilt, in der erbittert um die künftige Strategie zur Verbreitung ihrer, wie sich herausgestellt hatte, tatsächlich bahnbrechenden Signaturtechnologie gestritten worden war. Allen im Vorstand war nur zu klar geworden, welch unermessliches Marktpotenzial sie würden ausschöpfen können, welche geradezu absurd hohen Wachstums- und Gewinnmargen sie würden realisieren können, wenn auch nur ein Bruchteil der Möglichkeiten umgesetzt würde, die sich zu jenem Zeitpunkt abzuzeichnen begannen. Denn ihre Technik schien wirklich zu funktionieren. Mit ausreichender Zuverlässigkeit hatte sie erst die Erwartungen erfüllt, dann aber bald weit übertroffen. Lizenzvergaben, eigene Anwendungen und Waffenproduktion, Beteiligungen an produzierenden und entwickelnden Unternehmen und: Kunden in der ganzen Welt, auf jedem Kontinent, auf staatlicher und privater Seite erwarteten den Konzern. Geld ohne Begrenzung. Jeder würde die Technik haben wollen, wenn ihre Wirksamkeit unzweifelhaft bewiesen und erprobt und für die Handhabung der ihr innewohnenden ethischen Problematik „griffige Formulierungen“ gefunden sein würden. Und wenn auch nicht jeder staatliche oder privatwirtschaftliche Interessent offen danach fragen würde, so doch wenigstens unter der Hand. Zumindest „erproben“ würde sie nahezu jeder Staat dieser Erde. Und jeder sollte sie auch bekommen. Sehr bald, nachdem der Vorstandschef während der Sitzung in sich zusammengesackt war, hatten die PR-Strategen die große Chance erkannt, die in dieser Situation steckte. Sie würden sie benutzen, um der Welt zu demonstrieren, wie groß das Vertrauen der Firma und der Familie des Vorstandschefs in die Signaturtechnologie war – sie hielten der Ehefrau des Vorsitzenden eine gefälschte Anweisung des Todkranken unter die Nase, ihn im eingetretenen Fall nach Bovnik zu bringen und schickten ihn zur Behandlung und Rehabilitation mitten in den Krieg, den Krieg, der mit ihrer neuen Technologie geführt wurde. Schon jetzt, der bedeutende ausländische Patient hatte gerade einmal seine erste Operation hinter sich und erholte sich nur wenige Zimmer von Salvatore entfernt, begann der Schachzug des Konzerns, die gewünschte Wirkung zu entfalten. Die Vereinten Nationen, die über die Technik tief zerstritten waren und ihren Einsatz in diesem Konflikt nur überwachten, weil sie vorher vollkommen hilf- und erfolglos darin agiert hatten, waren nun, nach knapp zwei Jahren der neuartigen Kriegführung, ausgesprochen kleinlaut geworden. Die Verantwortlichen des Konzerns durften demnach zuversichtlich sein, dem Vorstandschef, sobald er wieder in der Lage sein würde, seine Situation zu erkennen und sich zu der dreisten Urkundenfälschung möglicherweise kritisch zu äußern, einige höchst beeindruckende Zahlen vorlegen und ihn damit – so gut kannte man ihn – ohne Zweifel überzeugen zu können.
Salvatore konnte die Gegenstände in seinem Krankenzimmer nun schon besser erkennen. Sogar seine restlichen Finger ließen sich wieder etwas bewegen und er versuchte, seine rechte Schulter anzuheben. Es gelang. Er bemerkte den Signalknopf, der über seinem Bett von dem galgenähnlichen Gestell baumelte, gleich neben dem grauen Haltegriff, der aussah wie eine fette Triangel. Er fragte sich, ob er den Knopf erreichen und nach einer Schwester klingeln könnte. Nicht, dass er einer Schwester gerade jetzt bedurft hätte, aber als erstes, ehrgeiziges Ziel nach seinem Erwachen schien ihm der Knopf geeignet. Was danach käme, würde er sehen. Vielleicht würde ihm die Schwester ja auch sagen können, warum er überhaupt hier war. Er fasste den Klingelknopf fest in die Augen und hob seinen Arm.
Als die Nachtschwester kurz darauf Salvatores Zimmer betrat, verwunderten ihn zwei Tatsachen: 1. Die Schwester sah ihn, nachdem sie an seinem Bett einen Moment irritiert gewirkt hatte, mit einem schwachen, aber doch erkennbaren, freundlichen Lächeln an. 2. Er konnte sie nicht fragen, warum er im Krankenhaus lag. Die Erklärung für die zweite Tatsache fand er rasch selbst – mit dem Tubus im Hals konnte er einfach nicht reden. Die für Tatsache Nummer eins bekam er in dieser Nacht nicht. Auch nicht am folgenden Tag oder in der folgenden Woche. Diese Erklärung war um ein Vielfaches komplizierter, beinahe unmöglich zu akzeptieren und von derart großer Tragweite für ihn, dass er mehrere Wochen brauchen würde, um sie zu erkennen und anzunehmen – und daraus Konsequenzen zu ziehen. Bis dahin würde diese Tatsache sein Leben aber bereits völlig auf den Kopf gestellt haben.