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Die abenteuerliche Geschichte des Soldaten Lydian Perta, fünfter Teil: Ein glückliches Kind

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Eine solche Zeremonie hatte es in Bovnik noch nie gegeben. Nicht für einen einzelnen Soldaten, einen einfachen Korporal zumal, wenn auch Träger des Ordens Held der Freiheit und, posthum, in den Rang eines Sergeanten erhoben, den er sich, darin waren sich alle einig, selbst verdient hätte, wäre er nicht vorzeitig ums Leben gekommen. Nicht nur, dass neben den Angehörigen des Verstorbenen die Spitzen sämtlicher Teilstreitkräfte, Generäle allesamt, dem jungen Infanteristen die letzte Ehre erwiesen, auch der Oberkommandierende, General Sontir, und eine Regierungsdelegation unter Führung des Verteidigungsministers, der es sich nicht nehmen ließ, die Trauerrede zu halten, waren an diesem achtzehnten August in den alten Bovniker Dom gekommen, selbstverständlich begleitet von einem Tross mit Vertretern der nationalen und internationalen Presse. Ihr Erscheinen hier an diesem symbolhaften Ort – der Dom befand sich direkt am Platz des Sieges, wies auch nach Jahren Neuer Kriegführung deutliche Spuren der Zerstörung auf, die noch immer nicht gänzlich ausgebessert waren, und galt seit Jahrhunderten als die Seele des alten, stolzen Bovnik – ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass der Staat Bovnik hier ein Zeichen setzen wollte, eines, das nicht nur im eigenen Land, sondern auch vom Kriegsgegner Thunak und der Weltöffentlichkeit wahrgenommen werden sollte.

Der Leichnam lag aufgebahrt in einem offenen Sarg, umkränzt von unzähligen Blumengebinden, welche die Nationalfarben Bovniks im Sonnenlicht erstrahlen ließen, das durch die durchlöcherten Fenster in die Kirche strömte: Weiß, Grün und Rot. Man hatte dem Toten, zumindest am Oberkörper, jene Kleidung angezogen, in der er gestorben war: seine Galauniform, nun mit zerrissenem Revers und einem offenen Schulterpolster. Deutlich erkennbar waren Blutflecke auf dem grauen Stoff über der Brust und dem weißen Hemdkragen, Spuren seines gewaltsamen Todes und Zeichen des Protestes der Hinterbliebenen, ihrer Regierung und des ganzen Landes. Der Orden, den der junge, ehrgeizige Soldat kaum zwei Stunden vor seinem Tod für herausragende Leistungen erhalten hatte, war ebenfalls an seinem Jackett belassen und nicht vom Blut gereinigt worden. Nur sein zerfetzter Unterkörper blieb den Blicken der Trauergäste verborgen, die untere Hälfte des Sarges hatte man geschlossen und die bovnische Nationalflagge darüber ausgebreitet. Und doch war es nicht diese Ehrung, die ihn zu der außergewöhnlichen Figur machte, um die sich nun symbolisch die ganze Nation, vertreten durch die gewählte Regierung, versammelte. Der Orden „Held der Freiheit“ wurde regelmäßig und nicht unbedingt selten Soldaten verliehen, die sich im gegenwärtigen Krieg um die Unabhängigkeit des bovnischen Staates verdient machten. Das kleine, junge, gemarterte Land hatte seinen kämpfenden Söhnen wenig mehr zu bieten als Ehre und die eine oder andere Hilfe bei der Wohnungssuche oder der Berufswahl nach dem aufopferungsvollen und trotz Neuer Kriegführung lebensgefährlichen Dienst oder aber der bestmöglichen medizinischen Versorgung, wenn sie im Kampf für ihr Land verwundet wurden. Weshalb die oberste politische und militärische Führung des Landes gerade jetzt und bei diesem Mann so entschlossen öffentlich Anteilnahme zeigte, wurde ersichtlich, als der Verteidigungsminister ans Mikrofon trat und das Wort an die Trauergäste richtete:

„Dieser Mann, Soldat, Korporal und von heute an Sergeant Lydian Perta, fand den Tod im Alter von nur 22 Jahren. Er fand den Tod auf die ehrenhafteste Weise, die wir uns vorstellen können – im Kampf für unsere Freiheit, in seiner Uniform, mit dem Heldenorden, den wir ihm gerade erst dankbar an seine junge, hoffnungsvolle Brust geheftet hatten. Sergeant Lydian Perta war also bereits zu Lebzeiten ein Held. Nun, nachdem er auf so heimtückische Weise sein Leben verloren hat, ist er sogar mehr als das. Lydian Perta ist unser aller Vorbild. Er wurde Soldat, wie sein Vater, wie sein älterer Bruder, und wie sein Bruder starb er als Soldat. Seine Familie hat für unsere Freiheit das Kostbarste hingegeben, das eine Familie haben kann, und wir alle sind deshalb seinem Vater und seiner Mutter in diesen schweren Zeiten verpflichtet! Wir dürfen unsere Freiheit, die Freiheit, die für diesen Mann so heilig war, dass er für sie gestorben ist, nun nicht jenen anheimfallen lassen, die sie uns nehmen wollen, jenen, die diesen Mann, den letzten Sohn dieser Familie, grausam, feige und entgegen allen gültigen Regeln dieses Krieges ermordeten. Dass Sergeant Perta an einem vermeintlich sicheren Ort, in einem vermeintlich sicheren Dienststatus aus dem Leben gerissen wurde, zeigt uns, dass unsere Feinde sich nicht mehr an die Regeln halten wollen. Es zeigt uns, dass wir, ja, wir selbst, nachlässig geworden sind, denn wir, und ja, auch ich, wir alle hätten wachsam sein müssen, aber wir waren es nicht. Wir hätten nichts auf das Wort unserer Feinde geben dürfen, aber wir taten es trotzdem, denn wir sind ehrlich, wir sind gut, und wir sind dumm. Dieser Held, der in seinem Sarg mitten unter uns liegt, er mahnt uns, er verpflichtet uns, den Feinden, die sich um uns herum wieder sammeln, die, so wie sie es bei Sergeant Perta getan haben, ohne Rücksicht und ohne Regeln in unserer Mitte zuschlagen, um unsere Widerstandskraft zu erschüttern, er verpflichtet uns, den Feinden vereint die Stirn zu bieten. Nicht so vereint wie ehemals, nicht so vereint wie in diesem Augenblick, sondern so vereint wie nie zuvor! Denn wenn wir es nicht tun, wenn wir noch ein einziges Mal unachtsam sind, werden wir alle untergehen. Regelwidrige Attacken des Feindes aus Thunak gegen unsere Bevölkerung, gegen unsere Familien, rechtschaffene Menschen, wir haben sie zu oft nicht verhindert, aber wir werden sie verhindern. Tollwütige Angriffe aus dem Innern gegen unsere Geschlossenheit, wir haben sie nicht vorhergesehen, aber wir werden sie vorhersehen. Sergeant Lydian Perta wird dieses Land und seine Bevölkerung inspirieren, sein Opfer wird die Volksbewegung einen, unsere Truppen aufrütteln, wird unsere Regierung und ihre Kräfte nicht ruhen lassen, denn unsere Feinde kennen kein Vertrauen, keine Gnade und keine Menschlichkeit. Die Neue Kriegführung steht auf dem Spiel, unsere Feinde wollen diese zivilisatorische Errungenschaft offensichtlich beiseite wischen. Unsere Freiheit steht auf dem Spiel. Und deswegen schwören wir im Angesicht des Feindes, der uns wieder feige überfallen will, der nur auf die nächste Gelegenheit wartet, und im Angesicht dieses jungen, toten Helden: Lydian Perta, wir werden wachsam sein! Lydian Perta, wir werden standhaft sein! Lydian Perta, wir werden frei sein!“

Wie in Bovnik üblich, zeigte niemand im Dom oder außerhalb des Gebäudes wirkliche Trauer. Bovniker lebten, wenn man das „Leben“ nennen wollte, hinter einer grimmigen, engstirnigen Maske, die allerdings ihrer Lebensweise so sehr entsprach, dass sie eigentlich gar keine Maske mehr war. Ihre Verbissenheit hatte sich in den Kriegsjahren zu ihrer sozialen Identität entwickelt, zum beinahe ausschließlichen verbindenden Faktor ihres Sozialwesens. Dass der Verteidigungsminister seine Trauerrede dafür instrumentalisierte, die Bovniker und die internationale Presse auf eine Eskalation des Krieges einzustimmen, erzeugte nicht nur keine Verwunderung, es wurde, wenn nicht erwartet, so doch ausdrücklich gutgeheißen und am Ende lautstark unterstützt. Dass man sich in einem sakralen Gebäude befand, machte weder für die Kirche einen Unterschied, die sich über jedes Großereignis in ihrem Dom freute, noch für die Besucher der Trauerfeier, die den Kirchenbesuch als Fortsetzung ihres Patriotismus mit anderen Mitteln ansahen. Die Versammelten erhoben sich daher ohne zu Zögern und skandierten „WE KNOW! WE KNOW! WE KNOW!“ Auch Pertas Eltern, typische Bovniker und somit engstirnig und mitleidlos, Pertas Eltern, deren Sohn ein größerer Held geworden war als sein Bruder, der größte Held gar, den Bovnik seit Langem hervorgebracht hatte, standen fest und riefen laut. Sie riefen, erfüllt von Stolz und erleichtert darüber, dass Lydian nicht ruhm- und nutzlos abgetreten war, wie sie es immer befürchtet hatten. Auch Pertas Schwester Dulce schrie laut „WE KNOW!“ genau in die Kameras der Fernsehteams hinein, schrie überwältigt von der Genugtuung, dass ihre Rache nah war, denn sie spürte, sie war nah. Sie würden es den Thunakis zeigen, sie würden es den Terroristen zeigen, oder sie würden, wenn die Warnungen des Ministers zutrafen, draufgehen so wie Lydian. Und wenn alle draufgingen! Erst die Thunakis und die Terroristen, dann Bovnik selbst. Das wäre besser, als so weiterzumachen wie zuletzt. Monate, nein, fast ein halbes Jahr, nachdem dieser seltsame Kerl Salvatore Krig die Wal-Explosion überlebt und seitdem das ganze Land geschwächt und irre gemacht hatte und nun drohte, es vollends in eine Kinderkirmes übergewichtiger Schwachköpfe zu verwandeln, sah sie endlich Licht am Ende des Tunnels. Eigentlich hatte der Kerl es gut gemacht. Krig hatte die Bovniker von sich selbst entfernt, Lydian, ihr Bruder Lydian sie wieder geeint. Und jetzt sahen sie, wo sie standen und wer sie eigentlich waren. Jetzt konnte die junge Kriegswitwe wieder aus ganzer Kraft mitschreien. Vereint würden sie auf den Weg zurückfinden. WE KNOW! Dachten die anderen Schreier anders darüber? Nein. Sie wussten, worum es ging. Seit Langem freute sich Dulce wieder auf die Zukunft. Sie schaute neben sich. Dort stand Heija, ihre kleine Schwester. Dulce erkannte sie kaum wieder. Heija war seit ihren ersten Bombardements ein außergewöhnlich schüchternes Mädchen gewesen und die Medikamente hatten sie nur noch unauffälliger und stiller gemacht. Nun aber schien sie es geschafft zu haben. Das Panzerherz, es schlug jetzt auch in Heijas Brust. Die schmächtige Zehnjährige schrie so laut, dass ihr die Adern aus den Schläfen traten und sich um ihre schmalen Lippen herum Schaum ansammelte. Deutlich konnte man ihr ansehen, dass auch sie den Krieg in sich willkommen geheißen hatte und wünschte, er möge niemals enden. Sie schrie und sah so glücklich aus, wie Dulce sie noch nie erlebt hatte. In der Tat, dieses Kind Bovniks und des Krieges, nach langen Jahren, die es selbst, die seine Familie und sein ganzes Land in demütigender Agonie verbracht hatten, es war nun endlich ein glückliches Kind.

Warum der stille Salvatore eine Rede hielt

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