Читать книгу Warum der stille Salvatore eine Rede hielt - Michael Wäser - Страница 9

Sica

Оглавление

Das einzige Tröstliche, das Mme. Eloise Altimer der Situation in Bovnik an diesem Abend abgewinnen mochte, war, dass sie auf die Sensationslust der Bovniker vertrauen konnte. Sie würden die ungeheure Demütigung, welche der Regierung gerade widerfahren war und nach den Maßstäben der einfach gestrickten Bovniker durchaus eine Sensation darstellte, bald vergessen, weil am selben Tag ein Wal explodiert war. Ein solches Ereignis erregte in Bovnik mittlerweile weitaus mehr Aufsehen und ereignete sich vor allem sehr viel seltener als das öffentliche Lächerlichmachen von Repräsentanten des Staates durch die Chaoten. Doch auch wenn die Bovniker Bevölkerung die Verhöhnung ihrer Regierung alles andere als billigte, sondern sich (nachdem sie sich in zunehmend beunruhigendem Maße darüber amüsiert hatte) im Gegenteil jedes Mal selbst angegriffen und verhöhnt fühlte, hatte die Chefin des Bovniker Geheimdienstes keinen Grund, diese Attacken auf die leichte Schulter zu nehmen. Denn es war ihr Job, genau die Art von Vorkommnis zu verhindern, welches sich heute Abend schon wieder zugetragen und bereits einer ganzen Reihe von Amtsvorgängern ihre Stellung gekostet hatte, und nicht nur die. Nein, weitaus mehr als das! Sie war lange genug im Geschäft, um zu wissen, wie hoch sie ihren Kredit anzusetzen hatte und dass sie einen, maximal zwei Lakaien in den Abgrund stoßen konnte, bevor sie selbst an der Reihe war – wenn sie nicht bald einen Erfolg vorweisen konnte. Ein Erfolg bedeutete die Erweiterung – oder zumindest die Aufrechterhaltung – ihres Kredits, eine Verhaftung bewahrte oder vergrößerte den Sicherheitsabstand zwischen ihr und dem Abgrund, eventuell auch die Anzahl von Lakaien, die nach den nächsten Vorkommnissen vor ihr würden dran glauben müssen. Ein Ereignis wie das heutige allerdings kam einem Erdrutsch gleich, ließ den Boden zwischen ihr und der Abbruchkante auf einen Schlag abbröckeln. Mit der Instrumentalisierung und Beeinflussung des Bodens kannte sich Mme. Altimer eigentlich bestens aus. In der ganzen Bovniker Führungsebene gab es niemanden, der diese Technik der Existenzsicherung besser beherrschte als sie. Schon in ihrem ersten Verwaltungsjob nach dem Studium hatte sie bemerkt, wie ungemein wirkungsvoll es war, Konkurrenten und Untergebenen den festen Boden unter den Füßen zu nehmen, wenn sie zu kritisch wurden oder nach ihrem Posten griffen. Sie nutzte jede sich bietende Gelegenheit, und ein gewisses Maß an Macht erleichterte dieses Vorgehen, ihre Kollegen und Untergebenen zu verwirren, ihnen die Orientierung zu rauben, ihnen unterschiedliche, oft auch widersprüchliche Informationen, unmögliche Aufgaben zu geben und dabei zuzusehen, wie sie immer verzweifelter versuchten, damit irgendwie zurecht zu kommen, um nicht wie Trottel dazustehen. Sie perfektionierte diese Technik bald derart, dass sie den Boden um sich herum bei Bedarf geradezu verflüssigen konnte. Da es in Bovnik sehr häufig zu kleineren Erdbeben kam, kannte Mme. Altimer die Verunsicherung, die ein schwankender, rüttelnder oder zitternder Boden auslösen konnte, nur zu gut und nutzte sie als Inspiration für ihre eigene Existenzsicherung. Wie ein Erbeben die Sandkörner in der Erde löste sie die Verbindungen zwischen den Bestandteilen dessen, was ihr personales Umfeld zusammenhielt. Wo ihre Mitarbeiter eben noch glaubten, sicher stehen und agieren zu können, verloren sie plötzlich ihr Vertrauen, ihre Gewissheiten, vor allem aber: die Berechenbarkeit ihrer Situation, der Entscheidungen und der Beziehungen um sie herum – insbesondere der zu Altimer, aber nicht nur dieser. Verunsichert, schwankende Häuser, die im verflüssigten Boden zu versinken drohten, waren sie nur noch damit beschäftigt, ihren eigenen Untergang zu verhindern, während Altimer in aller Seelenruhe ihre Karriere vorantrieb. Freilich – diese Methode nützte vor allem bei Gleichrangigen oder Untergebenen ersten Grades. Bei Sesselfurzern wie dem Agenten hier vor ihrem Schreibtisch wäre sie übertrieben gewesen. Ihn konnte sie bei Bedarf ganz direkt ins Aus befördern, auch wenn sie schon absehen konnte, demnächst selbst zum Rapport beim Regierungschef bestellt zu werden. Das war nur noch eine Frage von Minuten, allerhöchstens von Stunden. Der Kerl schien auch die Sekunden zu zählen, die ihm noch blieben, denn er schaute unentwegt verstohlen auf seine Armbanduhr. Eine von den Dingern, die sich in der Behörde und im ganzen Regierungsapparat wie eine ansteckende Krankheit ausbreiteten: für den Rang und die Bedeutung ihres Trägers mindestens eine Gehaltsklasse zu kostspielig. Nutzen würde ihm seine teure Zwiebel jetzt auch nichts mehr.

Sie selbst hatte immerhin so eben noch festen Grund unter den Füßen, aber Sica, der Lakai, der ihr gerade gegenüberstand, hier in ihrem Büro, dieser Lakai ruderte am Abgrund bereits unübersehbar mit den Armen, in der verständlichen, aber im wahrsten Sinne des Wortes unbegründeten Hoffnung, er werde noch irgendwo Halt finden oder sie – man denke! – sie selbst werde ihm ihre Hand zur Rettung ausstrecken. Der Mann war erledigt, er wollte es hinter seiner altmodischen, schweren Brille nur noch nicht wahrhaben. Sein Nachrücker stand schon bereit, direkt neben ihm und um einiges jünger und unverbrauchter als er. Dieser athletische, attraktive Agent, wusste er, dass er der letzte Puffer zwischen seiner Dienstherrin und dem Abgrund war, sobald er an die Stelle dieses erbärmlichen Verlierers träte, der vor dem Schreibtisch stand und versuchte, Mme. Altimer einen Jauchelaster als Sportwagen zu verkaufen? Sie spielte scheinbar abwesend mit den beeindruckend großen und schimmernden Perlen an ihrer Halskette, beobachtete den älteren Lakaien dabei, wie er in der Duftwolke ihres italienischen Parfums und ihres französischen Haarsprays nach Luft rang, während sich der Junge in gesundem Abstand hielt. Gut, dachte sie, er konnte sich das momentan noch leisten und es so aussehen lassen, als sei er höflich, sich seines niedrigeren Ranges bewusst und vielleicht sogar zurückhaltend. Dumm war er also nicht. Bei ihm würde es ihr nicht so leicht fallen, ihn abstürzen zu sehen. Nicht so leicht wie es ihr jetzt fallen würde, dem schwitzenden, nach Atem japsenden Kerl vor ihrem Schreibtisch den finalen Tritt zu verpassen, sobald sie seinen Bericht zu Ende gehört und ihn gezwungen haben würde, jede schmerzhafte und demütigende Einzelheit absolut unnötigerweise noch einmal vor seinem jungen Kollegen zu wiederholen.

„Nur noch einmal, um mir die Situation besser vorstellen zu können, Sica: Wie viele Menschen befanden sich heute Abend auf dem Platz des Sieges – abgesehen von den Spitzen unseres Staates und unserer Unterhaltungsindustrie, den Vertretern der Presse, mehrerer Fernsehteams und den Lackaffen von der UN?“, fragte sie und klang beinahe, als habe sie wirklich noch nicht verstanden.

„Rund neuntausend.“

„Davon Sicherheitskräfte?“

Sica räusperte sich. „Knapp dreitausend.“ Sica sah verstohlen auf seine Armbanduhr.

Altimer nickte, als habe sie nun verstanden. „Und niemand von diesen sechstausend Bürgern und dreitausend Staatsbeamten der Sicherheits- und Polizeibehörden hat gesehen, woher dieses Ding … dieses …“

„Frisbee“, sprang Lensky, der junge Agent, Mme. Altimer bei.

„… woher dieses Frisbee geflogen kam.“

„Nein, Mme. Altimer, niemand. Es kam einfach um ein Haus herum geflogen. Soviel wissen wir.“

Altimer hob mit einer Spur von Bedauern ihren Kopf: „Wenn Sie das ‚Wissen‘ nennen, Sica …“

Er sah auf seine Uhr. Altimer lächelte ihn an, wie man einen Delinquenten auf dem Elektrischen Stuhl anlächeln würde.

„Aber ich habe Sie unterbrochen.“

„Erst, als dieses … Etwas … zur Rednertribüne flog und in der … der Überdachung zerplatzte. Da war plötzlich auf dem Podium alles voller Krümel, und dann …“

„Dann?“

„Nun ja, Sie wissen doch …“

„Soll ich mir vorstellen, was Sie mir nicht sagen wollen? Ich möchte mir das nicht vorstellen, Sica! Erzählen Sie es mir!“

Sica blickte wieder zur Uhr an seinem Handgelenk und atmete tief. „Dann kamen die Tauben. Alle hiesigen Tauben anscheinend, aus jedem Winkel Bovniks und stürzten sich auf die Krümel, wie wahnsinnig.“

„Und dann, Sica?“, drehte Altimer ihr Messer in seinem Bauch um.

„Dann haben sie sich überall hingesetzt, auch auf die Gäste, wurden ja immer mehr und mehr … und bekamen anscheinend von dem Zeug … offenbar also …“

„Bekamen was?“

Der junge Agent Lensky stöhnte vor Qual.

„Die Krümel verursachten bei den Tauben offenbar starken Durchfall, den sie, also, wo sie eben saßen. Sahen natürlich bald alle ziemlich unansehnlich aus, die Leute, Entschuldigung, die ehrenwerten Gäste auf der Tribüne. Und auch der Gestank … Wir konnten nichts machen, nicht mal schießen. Die Gäste, also die wollten natürlich nicht vor Tauben davonlaufen, deshalb blieben sie da. Ich hab eine totgetreten. Eine Taube.“ Altimer fixierte ihn unentwegt und zeigte keine Regung. Er blickte verstohlen auf seine Armbanduhr.

„Und die Leute?“, fragte Altimer.

„Die Leute … haben gelacht.“

Für einen Moment schien sich Altimer tatsächlich in der Vorstellung tausender Menschen zu verlieren, die sich vor den Fernsehkameras über die Angehörigen der höchsten Staatsebene vor Lachen ausschütteten, nicht weil sie die Regierung ablehnten, sondern weil sie Opfer dieses unappetitlichen Anschlags waren. All das war geplant gewesen und so abgelaufen, wie die Terroristen es sich gewünscht hatten. Wieder einmal. Als sich ihr Blick nun auf den verschwitzten, nervös blinzelnden Sica fokussierte, war darin keine Ironie mehr, keine Frage und keine Erwartung. Altimer blickte in das Gesicht eines Vergangenen. Dass der noch immer nach seiner Uhr schielte, machte ihn nur noch jämmerlicher. Jetzt blieb ihr bloß noch, den Hebel umzulegen, den Elektrischen Stuhl unter Strom zu setzen, was hieß: Sica aus dem Büro in die Bedeutungslosigkeit führen zu lassen und Lensky, der bleiben würde, zu befördern. Nur der verzweifelte Sica schien das nicht zu begreifen. In diesem Moment öffnete ihr Sekretär behutsam die Tür:

„Ein Bote für signor Sica, Mme. Altimer“, sprach er so gedämpft, als habe er Teppichboden geschluckt. Sofort spannte sich Sicas Rücken, er drehte sich zur Tür, dann zu Altimer:

„Madame … das ist sehr … , ich habe diesen Boten erwartet, seit ich mein Büro verlassen habe!“

Einigermaßen erstaunt ließ Altimer den Boten eintreten. Der steuerte sogleich unter zahlreichen Verbeugungen gegen Altimer den angezählten Agenten an und überreichte ihm ein Kuvert. Sica ließ ihn sich entfernen, riss das Kuvert auf und zum Vorschein kamen ein Papier und ein Foto, das mit einer Sofortbildkamera geschossen worden war. Sica überflog alles und atmete durch.

„Dürfen wir erfahren, was das ist?“ Altimer betrachtete sich und den jungen Agenten Lensky offenbar bereits als das neue „Wir“. Sica ignorierte Lensky, legte das Foto vor Altimer auf den Tisch, daneben das Papier mit der Analyse.

„Das, Madame, ist das erste Mal, dass wir einen der Terroristen zu Gesicht bekommen, von dem wir wissen, dass er ein Terrorist ist, das ist unsere Attentäterin. Ein Besucher einer Bar hat sie heute Abend kurz nach dem Vorfall zufällig aufs Bild bekommen.“

„Woher wissen wir, dass sie die Attentäterin ist?“ Dieses „Wir“ schloss Sica bereits nicht mehr ganz aus.

„Sehen Sie die beiden Tauben, die die Frau dort am Brunnen bedrängen?“

„Ja, und?“

„In der ganzen Stadt gab es zu dieser Zeit keine Tauben mehr. Die waren alle auf unserer Tribüne oder noch auf dem Weg dahin, weil sie wie hypnotisiert von irgendeiner Substanz angelockt wurden. Wenn diese beiden Tauben sich stattdessen für die Frau dort interessiert haben, und das sieht mir ganz danach aus, dann muss sie etwas sehr, sehr Anziehendes für Tauben an sich gehabt haben.“

In seinem persönlichen Fiasko vergaß Lensky jegliche Zurückhaltung und fragte Sica fassungslos:

„Wie sind Sie so schnell da rangekommen? Mit diesem Steckbrief pflastern wir die ganze Stadt!“

Der Blick, den er von Sica daraufhin empfing, machte ihm, schmerzhaft wie ein harter, tiefer Schlag, klar, wer von ihnen beiden ein blondierter, karrieregeiler Schnösel und wer ein Agent war, vor dem sich die Staatsfeinde fürchten mussten.

Mme. Altimer spürte, wie der Boden unter ihren Füßen und in einem beruhigenden Umkreis wieder fest wurde.

Warum der stille Salvatore eine Rede hielt

Подняться наверх