Читать книгу Warum der stille Salvatore eine Rede hielt - Michael Wäser - Страница 12

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Die neurologischen Untersuchungen, die erst nach seinem Erwachen durchgeführt werden konnten, begannen für Salvatore schon am folgenden Morgen und erbrachten glücklicherweise keinen Befund, was bei einem Unfallopfer, das mehrere Minuten ohne Vitalfunktionen und mit erheblichen inneren Verletzungen unter einem Berg von Walinnereien gelegen hatte, nicht unbedingt zu erwarten gewesen war.

Salvatores Freude über seine nun überraschend schnell fortschreitende Genesung wurde anfangs etwas getrübt durch die Unannehmlichkeiten, die sein Beckengips bereitete. Er selbst empfand den Gips nicht wirklich als störend, glaubte aber, damit den Pflegern und Schwestern zur Last zu fallen. Sobald er wieder einigermaßen verständlich sprechen konnte, ließ er es sich deshalb nicht nehmen, sich jedes Mal ausführlich zu entschuldigen, wenn er Hilfe benötigte, um seine Notdurft zu verrichten. Anfangs behalf er sich noch mühsam mit Zeichensprache, doch verheilte sein Luftröhrenschnitt zusehends, was ihn darin bestärkte, auch seine Stimme wieder zu benutzen – zaghaft und vorsichtig zwar, aber das war Salvatore sowieso. Der Gips, der vom Nabel bis kurz über Salvatores Knie reichte, sah aus wie eine Windel, in der Salvatores untere Körperöffnungen ausgespart geblieben waren. Salvatore verspürte einen unbändigen Drang, in Wasser einzutauchen, und er dachte, das läge an dem unbequemen Gips. Doch der war, auch wenn Salvatore das noch so hartnäckig behauptete, nicht geeignet, damit ein Vollbad zu nehmen.

„Nicht mal unter die Dusche lasse ich Sie damit!“, drohte ihm die Schwester scherzhaft. Dass dieses schwere und steife Monstrum es dem Überlebenden des Wal-Unfalls unmöglich machte – denn dazu hatte man es ihm ja angelegt – sich aus dem Bett zu erheben, war offensichtlich, aber hätte er dies in jenen ersten Wochen im Hospital auch nur versucht, wäre er womöglich nie wieder auf eigenen Beinen durch Bovnik gelaufen. Bald entwickelten sich Salvatores Entschuldigungen und ihre scherzhaften Zurückweisungen durch die Pfleger und Schwestern zu einem täglichen Ritual, das Salvatore auf eine Weise beglückte, wie ihn schon lange nichts mehr beglückt hatte, denn er war im Umgang mit anderen Menschen nicht geübt, hatte ihn sogar, wie er sich nun erinnerte, möglichst gemieden und auf das Notwendigste beschränkt. Wenn er nun Hilfe brauchte, klingelte er nach der Schwester, bat, sobald sie erschien, kleinlaut um Verzeihung und freute sich innerlich schon, bevor er zu Ende gesprochen hatte, auf die scherzhafte und fürsorgliche Entgegnung, die meist darauf hinauslief, er brauche sich nicht zu entschuldigen, es sei doch schließlich die Aufgabe des Pflegepersonals, sich um die Patienten zu kümmern. Dann ließ er mit einer Mischung aus echtem Bedauern und stillem Genießen die Hantierungen der Schwester über sich ergehen und verabschiedete sie abschließend mit einem zugleich entschuldigenden, zufriedenen und dankbaren Lächeln. Auch die Schwester oder der Pfleger lächelten, wenn sie die frisch gefüllte Bettpfanne und die benutzten Zellstofftücher oder die körperwarme Urinflasche aus Salvatores Zimmer trugen. Eigentlich lächelte jeder, der Salvatores Krankenzimmer verließ, doch fiel das anfangs niemandem so richtig auf, bis auf Salvatore. Die ungewohnte Freundlichkeit des Pflegepersonals, ja sogar der Ärzte, die ihn untersuchten, verunsicherte den Patienten. Noch nie, seit sich der Krieg so tief in das tägliche Leben seiner Stadt gegraben hatte, war Salvatore derart herzlichen Bovnikern begegnet, was in den vergangenen Jahren für ihn wohl ein Grund – nein, eher eine Bestätigung dafür gewesen war, warum er am Leben der Stadt eigentlich nicht teilnahm. Dass sich diese Bovniker, zumindest die im Krankenhaus, nun derart freundlich zu ihm verhielten, verstand Salvatore einfach nicht. Es gab in Bovnik keine freundlichen Menschen und ihm fiel nichts ein, was diesen Umstand hätte ändern können, denn der Krieg, so hatte man ihm versichert, dauerte noch immer unverändert an und sei für das Land „notwendig“. Erst als die ersten, schwachen Erinnerungen an seinen Unfall wiederkehrten, erkannte er eine mögliche Erklärung für das seltsame Verhalten des Personals.

„Sie sind eine echte Berühmtheit, Herr Krig!“, sagte eine Schwester, als Salvatores bis dahin vollständig vernebelte Erinnerung sich aufhellte und er zum ersten Mal nach dem Wal fragte. Zusammenhangslos schwebten einigermaßen unsinnige, vereinzelte Bilder vor den Schleier, den seine Psyche schützend um sein Gedächtnis gelegt hatte, und erst als er selbst keine Erklärung für die Bruchstücke dieses monströsen Puzzles fand, wagte er es, der Schwester davon zu erzählen. Die war gerade damit beschäftigt, den Blutauffangbeutel für seine Operationsnarben zu erneuern, was vielleicht seine Erinnerungen aktiviert hatte, und reagierte auf eine für Salvatore ausgesprochen unerwartete Weise. Sie freute sich, strahlte übers ganze Gesicht, als er zögernd erst von einer Lawine aus Blutschlamm sprach, von einem Giganten, der ihn verschlingen wollte, freute sich noch mehr, als er dann ein immer klareres Bild zusammenfügen konnte, aus dessen erschreckend bluttriefendem Hintergrund die Umrisse eines Pottwals herauskondensierten.

„Erzählen Sie weiter!“, ermunterte ihn die Schwester.

„Sie machen sich nicht über mich lustig?“, wollte Salvatore wissen.

„Nein, nein, erzählen Sie!“ Er sah die drohend erhobene Fluke des Wals, was mehr seiner Imagination als seiner Erinnerung entsprang, denn sie hatte in Wirklichkeit schlaff über der Zugmaschine geschwebt, sah die blinkenden gelben und blauen Lichter, die er allerdings noch nicht den Begleitfahrzeugen des Waltransports zuordnen konnte, und schilderte der Schwester diese Eindrücke so, wie sie sich gerade in seinem Bewusstsein entfalteten. Bisher hatten die Ärzte es für hilfreich erachtet, Salvatore nicht mit den Einzelheiten seines Unfalls zu belasten und das Personal angewiesen, ihm gegenüber so lange nur von einem „Verkehrsunfall“ zu sprechen, wie sich noch keine Erinnerung an das Ereignis bei ihm zeigte. Da Salvatore keine Angehörigen hatte, die ihn im Krankenhaus besuchen und eventuell verwirren konnten, verfing dieses Vorgehen ausgezeichnet und Salvatore hatte sich unbedrängt und in kleinen Schritten wieder in die Realität einfinden können. Nun aber schien sich die verschlossene Tür von selbst geöffnet zu haben, und die Schwester beschloss, unverzüglich den diensthabenden Neurologen zu benachrichtigen. Ganz konnte sie es sich allerdings nicht verkneifen, Salvatore etwas über seine wahre Situation zu verraten, und so sagte sie, bevor sie das Zimmer verließ, in einem amüsierten und etwas verschwörerischen Ton und natürlich mit einem fröhlichen Lächeln: „Sie sind berühmt, Herr Krig! Sie haben ja keine Ahnung, was da draußen los ist!“

Seitdem bekannt geworden war, dass der unbekannte Rollerfahrer wieder ins Leben zurückgekehrt war, hatten sich erst die lokalen, dann immer mehr ausländische Reporter auf die Story gestürzt, die bis dahin aus nichts als Spekulationen, Gerüchten und Lügen bestanden hatte. Deshalb belagerten sie nun das Krankenhaus geradezu, um ihre gierigen Leser, Zuschauer und Zuhörer wenigstens wahrheitsgemäß über den Gesundheitszustand des Wal-Opfers auf dem Laufenden halten zu können. Zu ihm ins Zimmer durfte außer dem Personal niemand, dennoch hatten mehrere Berichterstatter und Fotografen versucht, dorthin vorzudringen. Nachdem jedoch ein Fotograf es fast in Salvatores Zimmer geschafft hatte, stellte die Bovniker Polizei eine Wache ab, welche die Station rund um die Uhr vor ungewolltem Besuch schützte. Von all dem hatte Salvatore bis zu jenem Tag nichts bemerkt, zumal das Fernsehgerät noch während seines Komas aus seinem Zimmer entfernt worden war. Da er in seinem ganzen Leben noch nie eines besessen hatte, war ihm nach seinem Erwachen das Fehlen des Fernsehgeräts gar nicht aufgefallen. Seine Vermutung, diese kuriose und sicherlich sehr kurzlebige Berühmtheit sei der Grund für die Freundlichkeit, mit der ihm alle Menschen in der Klinik begegneten, half ihm immerhin, die folgenden Wochen der Rehabilitierungsmaßnahmen im Kreise ausnehmend freundlichen Krankenhauspersonals zu überstehen, ohne an seinem Verstand zu zweifeln.

Warum der stille Salvatore eine Rede hielt

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