Читать книгу All die ungelebten Leben - Michaela Abresch - Страница 12
ОглавлениеVergangenheit
Selma wurde im August geboren, sieben Minuten bevor die Turmuhr von St. Agnes gegenüber der Klinik zur Mitternacht schlug. Sie war das erste Kind von Therese und Emil Molander, ein zierliches kleines Ding von nicht einmal dreitausend Gramm und von seinen Eltern sehnsüchtig erwartet. Es glitt leicht aus dem Schoß seiner Mutter, nachdem diese zweiundzwanzig kräftezehrende Stunden in den Wehen gelegen hatte. Therese hatte nicht gewusst, dass ein so zartes Kind imstande war, solche Beschwerlichkeiten auszulösen. Aber zu jener Zeit hatte sie vieles nicht gewusst. Niemand hatte sie auf das Kommende vorbereitet, und hätte sie die Veränderungen geahnt, so hätte sie dem fünfzehn Jahre älteren Emil die Ehe mit weniger Arglosigkeit versprochen.
Dass sie nach den zermürbenden Stunden der Wehen noch Kraftreserven besaß, ihr kleines Mädchen zur Welt zu bringen, verdankte sie ihrer besten Freundin Gitte, der Halbschwester ihres Mannes, die zwar im Gebären nicht sonderlich erfahren, aber von einem einfühlsamen Wesen war, mehr ermutigende Worte fand als die Hebamme und eine wohltuende Zuversicht verströmte.
Es war die Zeit, in der angehende Väter den Geburten ihrer Kinder noch nicht so selbstverständlich beiwohnten, wie sie das heutzutage tun. So saß Emil wartend vor dem Kreißsaal und verließ sich darauf, dass die Hebamme und Gitte seiner Therese den nötigen Beistand zukommen lassen würden.
Therese und Gitte kannten einander, seit man sie in der Schule nebeneinander in die Bank gesetzt hatte. Schnell freundeten sie sich an und besuchten einander zum Spielen, sodass Therese den Halbbruder ihrer Freundin kennenlernte. Die Zuneigung zueinander entdeckten Therese und der viele Jahre ältere Emil jedoch erst, als er bereits ein gestandener Mann von Mitte dreißig war und nach seinem Studium der Pharmazie als angestellter Apotheker in der Mühlen-Apotheke am Marktplatz ein gutes Gehalt verdiente. Die Apotheke war im Erdgeschoss eines einhundert Jahre alten Gebäudes untergebracht und verfügte über einen mit alten Laubbäumen bestandenen Garten, der mit seinen verwilderten Blumenrabatten und der heruntergekommenen Gartenlaube immer ein wenig verwahrlost wirkte, an heißen Sommertagen aber einen wunderbaren Ort für Müßiggang bot.
Emil, der ohne viele Worte durchs Leben kam und in seiner offensichtlichen Bedürfnislosigkeit auf Gitte stets wie ein verschreckter Sonderling wirkte, fand Gefallen an der verspielten Lebensfreude der quirligen, brünetten Freundin seiner Halbschwester.
Therese und Gitte waren damals frischgebackene Abiturabsolventinnen, die es liebten, sich sonntagabends im Beatkeller die Pumps von den Füßen zu streifen und in ihren Pepitakleidern Twist zu tanzen bis zum Umfallen. Sie tranken Persico oder Martini auf Eis und fanden immer zwei Jungen, die sie mit ihren Vespa-Rollern heimfuhren.
Lehrerinnen wollten sie werden. Beide. Doch nur Gitte verwirklichte ihren Traum. Therese warf ihn über den Haufen, sobald Emil begann, ihr ohne viele Worte den Hof zu machen und ein Jahr später ebenso einsilbig um ihre Hand anhielt. Gitte begriff nicht, was Therese zu Emil und seiner Verschlossenheit hinzog, und als beste Freundin fragte sie natürlich nach. »Sieh ihn dir doch an«, antwortete Therese daraufhin mit funkelnden Augen, »einen besseren werde ich nicht finden!«
Gitte schüttelte den Kopf, führte vorsichtig ein paar Bedenken ins Feld, unterließ es aber, als sie merkte, dass kein Wort der Welt die Kraft gehabt hätte, Therese umzustimmen. Vielleicht besaß Emil ja eine Seite, die Gitte nicht kannte und die er nur der Frau zeigte, die er zum Traualtar führen würde.
Therese war eine bildhübsche Braut und schwebte auf einer rosafarbenen Wolke, als sie schon bald darauf erfuhr, dass sie schwanger war. Doch das Schweben währte nur kurz. Denn mit der Geburt der kleinen Selma kehrte der Alltag in der Mühlenwohnung ein. So nannten sie ihr Fünf-Zimmer-Domizil im zweiten Stock des Hauses, das Emil gekauft hatte und in dessen Parterre sich die Apotheke befand.
Selma entwickelte sich zu einem Kind, das kaum schlief, dafür umso mehr schrie. Emil, dem dies zu schaffen machte, floh frühmorgens treppab in die Apotheke und kehrte erst am Abend wieder zurück. Therese kam es vor, als sei sie innerhalb kurzer Zeit in ein anderes Leben geraten. In eins, das sie sich nicht ausgesucht hatte. Dabei hatte sie »Ja« gesagt zu diesem Leben, laut und deutlich, und ihr Herz hatte dabei gehämmert wie verrückt. Sie wusste, dass sie von vielen jungen Frauen im Dorf um den Platz an der Seite von Emil Molander beneidet wurde. Ein attraktiver, wohlhabender Mann. Eine gut gehende Apotheke, die er schon bald übernehmen würde. Eine große Wohnung direkt darüber. Auto, Schwarz-Weiß-Fernseher, Waschmaschine. Ein hoher Lebensstandard für die damalige Zeit, Anfang der Sechziger. Und nun sah Therese dabei zu, wie der einst geträumte Traum trotz aller Annehmlichkeiten Tag für Tag mehr auseinanderbrach. Daran änderte auch der neue vier Meter lange Perserteppich nichts, den Emil eines Tages im Flur ausrollte, oder das achtzehnteilige Kaffeegeschirr aus feinstem Porzellan, das er Therese am Morgen ihres dreiundzwanzigsten Geburtstages in einem riesigen Karton stolz auf den Küchentisch stellte. Sie hatte alles, wovon andere Frauen träumten. Und wovon Emil glaubte, dass sie es brauchte. Doch gleichzeitig fühlte es sich an, als habe sie nichts.
Die Abende verbrachte Emil grundsätzlich lesend in seiner Bibliothek, nachdem er die Tageseinnahmen gezählt und in der Schublade seines Sekretärs verschlossen hatte. Meistens war es nach Mitternacht, wenn er im Dunkeln ins Schlafzimmer getappt kam. Therese stellte sich schlafend, weil sie ihre Tränen vor ihm verbergen wollte, und sie weinte still in sich hinein, ohne dass er es bemerkte. Einmal im Monat rollte Emil sich zu ihr herüber, forderte stumm den Beischlaf ein, und Therese lag unter ihm, ließ ihn gewähren und starrte mit offenen Augen an die im Dämmer liegende Schlafzimmerdecke, während nebenan die kleine Selma schrie.
Mit Wehmut trauerte sie der Zeit nach, in der sie unbeirrbar daran geglaubt hatte, dass die Liebe zwischen ihr und Emil beständig wachsen würde, und sie fragte sich, warum er jetzt, nachdem sie die Mutter seiner Tochter geworden war, das Interesse an ihr verlor. Sie fing an, eine Mauer um sich herum zu errichten, sie gedieh beständig und war der einzige Schutz, den Therese zur Verfügung hatte.
So wuchs Selma mit einem Vater auf, der sie zwar mit materiellen Bequemlichkeiten versorgte, es aber nicht fertigbrachte, eine Bindung zu ihrer kleinen Seele herzustellen, und mit einer Mutter, die ein Bollwerk um sich herum erschuf, um die innere Einsamkeit ertragen zu können.