Читать книгу All die ungelebten Leben - Michaela Abresch - Страница 14
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Jane
Es war früh, nicht einmal sechs Uhr. Der anbrechende Tag stritt mit den letzten Schatten der Nacht und kroch als grauer Dämmer ins Zimmer. Jane hatte bei weit offen stehender Verandatür geschlafen und war vom Gesang der Vögel erwacht. Wie an jedem Morgen tastete sie nach dem Aufwachen mit unsichtbaren Fühlern ihren Körper ab. Nichts fühlte sich besorgniserregend an. Selbst die dumpfen Schmerzen im Rücken, die sie seit einiger Zeit begleiteten, waren auszuhalten. Die Metastasen in den Lendenwirbeln wuchsen. Jane wusste es, obwohl die letzte MRT-Untersuchung Monate zurücklag. Damals hatte man drei von ihnen ausfindig gemacht und mit dem Befund »progredienter Verlauf« das letzte noch glimmende Hoffnungsflämmchen ausgelöscht. Es lag allzu nahe, dass der Krebs inzwischen weiter gestreut hatte. Der Befund hatte Jane getroffen, als habe jemand ihr mit einem glatten Schnitt eine Ader geöffnet, um allen Lebensmut aus ihr herausrinnen zu lassen. Betäubt vor Enttäuschung hatte sie sofort eingewilligt, als Doktor Mensberg, ihre Onkologin, eine stämmige Ärztin mit raspelkurzem und leuchtendrot gefärbtem Haar, ihr zu einer dritten Chemotherapie geraten hatte. Leben wollen. Überleben. Den Scheißkrebs besiegen. Nichts anderes hatte Janes Gedanken beherrscht.
Schon die ersten beiden Infusionen hatten sie von den Füßen gerissen. Fünf Tage und Nächte vergrub sie sich im Bett, unfähig, auf ihren schwammigen Beinen zu stehen, sich aufrecht bis zur Toilette zu bewegen, den geringsten Bissen bei sich zu behalten oder auch nur die Zahnbürste in die Hand zu nehmen. Als schließlich ein Schüttelfrost nach dem anderen über ihren Körper hinweg jagte, verbarrikadierte sie sich in ihrem Zimmer und weinte die Kissen nass, bis sie keine Tränen mehr hatte. Es schmerzte, die Widersacher zu spüren, die in ihrem Inneren miteinander rangen. Eine ganze Nacht lang. Bis sie schließlich verstand, was sie ihr sagten.
Du musst es tun!
Ich will es nicht!
Tu, was Doktor Mensberg dir sagt!
Aber ich kann nicht mehr.
Willst du leben?
Ja, verdammt noch mal! Aber nicht so!
Stell dich nicht an, andere schaffen das auch!
Aber ich habe keine Kraft mehr!
Still weinte Jane in sich hinein, und sie wollte niemanden sehen, nur allein sein und sich den finsteren Grübeleien hingeben. Gitte, die das Schlimmste fürchtete, klopfte ein paar Mal an die verschlossene Tür, aber Jane schickte sie fort. Am Ende einer durchgeweinten Nacht gestand sie sich ein, dass sie weder Kraft noch Willen verspürte, ihre Tage mit dem Aushalten von zermürbenden Nebenwirkungen zu verbringen, nur um drei, vier Monate Zeit herauszuschinden. Lebenszeit gewiss, doch was nützte diese, wenn ihr Körper nicht mehr funktionierte? Unter Tränen und in der Einsamkeit jener Nacht traf Jane ihre Entscheidung: keine Medikamente mehr, die machtlos waren gegen die sich stetig vermehrenden Krebszellen und ihr nichts weiter als einen Berg unerwünschter Wirkungen bescherten. An jenem Tag hatte Jane beschlossen, sich zu ergeben.
Und ich lebe noch immer. Sie musste wieder eingeschlafen sein, denn nach einem ersten Blinzeln bemerkte sie, dass die Dämmerung gewichen war und die Strahlen der Morgensonne ein helles Rechteck auf den Holzfußboden warfen, das sich von der Verandatür bis zu ihrem Bett erstreckte. Jane schlug die Bettdecke zurück. Sie setzte sich auf. Ihre Beine waren zwei hagere Anhängsel geworden. Mit beiden Händen strich sie über die knochig hervorstehenden Knie und weiter über die Waden, wo sich kaum noch Muskulatur zwischen Haut und Knochen befand. Sie tastete nach ihren Wollsocken am Fußende des Bettes und streifte sie über die Füße, die eiskalt waren, wie so oft. Etwas zu hastig schwang sie die Beine aus dem Bett. In ihren Ohren begann es zu rauschen. Im Nu perlte kalter Schweiß auf ihrer Stirn. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich weich wie Schaumgummi an.
Nicht so schnell, Jane …
Sie richtete sich auf, umklammerte mit beiden Händen die Bettkante und atmete tief. Dass ihr Kreislauf in letzter Zeit manchmal schlappmachte, gefiel ihr nicht. Zweimal war sie dadurch bereits gestürzt, zum Glück ohne Folgen für ihre spröde gewordenen Knochen, die dabei ebenso gut hätten brechen können.
Dieses Mal schien es gut zu gehen. Das Rauschen verebbte, nichts schwankte, ihre Füße fanden Halt. Sicherheitshalber wartete sie einen Augenblick, bevor sie sich erhob.
Dann angelte sie nach ihrer Strickjacke. Auf Socken trat sie durch die Tür nach draußen auf die Veranda. Die Luft war kühl. Still ruhte der Morgen über den Dünen. Die dänische Fahne in Henriksens Garten hing schlaff am Mast. Den morgendlichen Sonnenstrahlen, die von der Ostseite her auf die Veranda trafen, fehlte es noch an Wärme. Dennoch reckte Jane ihnen ihr ausgezehrtes Gesicht entgegen, die durchscheinenden Wangen, das spitze Kinn, den Kopf mit dem feinen hellen Flaum. Wie eine Aufforderung an die Sonne. Durchdring mich mit deiner Wärme, so schwach sie auch ist, und mit deiner Helligkeit! Fließ durch meine Haut, durch meine Augenlider. Schenk mir einen kleinen Teil der Kraft, mit der du die ganze Welt versorgst!
Sie machte ein paar Atemübungen, legte dazu die Handflächen über dem Kopf aneinander und ließ die Arme beim Ausatmen zu beiden Seiten langsam herabgleiten. Dann ging sie zurück ins Zimmer. Die mit Tee gefüllte Isolierkanne, die Gitte ihr jeden Abend ins Zimmer stellte, war unberührt geblieben in der Nacht. Jane schraubte den Deckel ab. Der Tee war noch lauwarm, sie goss ihn in den Becher und trug ihn nach draußen. Langsam stieg sie die vier Stufen der Veranda herunter. Die Wirbel schmerzten bei jedem Schritt. Der Tee schmeckte nach nichts. Sie trank ihn der Wärme wegen und weil der Salbei ihre Schleimhäute besänftigte.
Ein schmaler, auf einer Seite ans Haus grenzender, auf der anderen von Lavendelbüschen gesäumter Weg aus Holzplanken führte um das Haus herum bis zur Vorderseite. Jane folgte ihm. Ihre Gedanken glitten zurück in die Zeit, in der sie sich ausgemalt hatten, Tante Gittes Haus sei ein Walfangschiff. Sie hatten es geliebt, als Frauen der dänischen Kommandeure und Walfänger barfuß über die von der Sonne beschienenen Holzplanken zu laufen und Ausschau nach ihren Männern zu halten. Beflügelt von Tante Gittes abendlichen Erzählungen am Feuer, waren sie eingetaucht in die Geschichte der dänischen Walfänger, die ebenso die Geschichte der starken Frauen auf Rømø war, weil sie Haus, Hof, Vieh und Felder versorgt hatten, solange ihre Männer in den Eismeeren auf Walfang gewesen waren.
Vor der Haustür blieb Jane stehen. Min lille hus ved havet stand auf verwittertem Treibholz, das Gitte seinerzeit am Strand gefunden, mit weißer Farbe beschriftet und anschließend auf einer Klappleiter balancierend mit zwei Nägeln neben der Haustür befestigt hatte. Mein kleines Haus am Meer – die ersten dänischen Worte, die Jane in der fremden Sprache gelernt hatte.
Sie trank einen Schluck Tee, umrundete das Haus und gelangte wieder zur Veranda. Mit leisem Stöhnen sank sie auf die oberste Stufe der kleinen Holztreppe, presste für einen Moment die flache Hand gegen den Rücken und zog die Strickjacke enger um sich. Der Tee wärmte ihre Kehle. Eine Brise strich durch den Strandhafer. Die Geister wisperten.
Hörst du, mein Kind, ihren ewigen Hauch in Halmen und Rauch …
Seit Tagen dachte Jane darüber nach, Gitte endlich in ihren Plan einzuweihen. Wie lange wollte sie noch warten? Ohne Gittes Hilfe würde ihr Vorhaben scheitern. Mit ihr zu sprechen, war demzufolge unausweichlich, auch wenn Jane wusste, dass es das Schwerste sein würde, um das sie ihre Tante jemals gebeten hatte. Die Jahre hatten ein Band aus tiefer Liebe und bedingungslosem Vertrauen zwischen ihnen gewebt, sodass die Gewissheit, dass es einmal eine andere Mutter in ihrem Leben gegeben hatte, für Jane zu einer verblassten Erinnerung geworden war. Zweiunddreißig lange Jahre lebte Therese Molander schon nicht mehr. Werde ich dich wiedersehen? Werde ich dich erkennen? Bist du da, wo ich bald sein werde?
Ihr Blick glitt über den Becher hinweg zum Horizont, wo einzelne Wolkenfetzen am blassblauen Morgenhimmel trieben.
»Störe ich?«
Sie spürte den sanften Druck einer Hand auf ihrer Schulter. Die Gedanken an ihre Mutter stoben davon wie ein Schwarm aufgescheuchter Küstenvögel.
»Nein, setz dich zu mir.« Jane rückte ein Stück zur Seite.
»Ich hole mir einen Kaffee«, sagte Gitte und verschwand im Haus. Jane hörte sie in der Küche hantieren.
War dies der Zeitpunkt, auf den sie gewartet hatte? Zahllose Male hatte sie sich den Kopf darüber zermartert, wie ihre Tante wohl reagieren mochte. Was Jane ihr zu sagen hatte, war nichts, womit Gitte rechnen, nichts, worauf sie vorbereitet sein könnte. Es würde sie unvermittelt treffen. Jane hörte ihre Tante auf die Veranda zurückkehren. Sie hatte ihren Morgenmantel über das dünne Nachthemd gezogen und hielt einen Becher mit Kaffee in der einen, Janes Kissen in der anderen Hand.
»Hier, darauf sitzt du besser.« Jane stellte ihren Teebecher ab und schob sich das Polster unter, während Gitte sich neben ihr auf der obersten Stufe niederließ. Der Kaffee duftete. Jane überlegte, wann sie den letzten getrunken hatte. Es war eine halbe Ewigkeit her. Doch obwohl sein Geschmack sie anwiderte, erinnerte sein Duft sie noch immer an gute Zeiten, an Lebensfreude, Vitalität, Normalität. Und an die kostbaren Augenblicke mit Chris, an die seltenen Pausen, die sie sich während der Einsatzfahrten in den Dörfern gegönnt hatten, wo sie tagelang Menschen geimpft hatten und ihnen der lauwarme Kaffee, den sie nebeneinander auf der Motorhaube ihres Einsatzfahrzeuges getrunken hatten, wie ein Geschenk erschienen war.
»Habe ich dir schon dafür gedankt, dass du mit mir hierhergekommen bist?« Jane sprach leise und ohne Gitte dabei anzusehen. Ihr Blick verlor sich in den mit Dünengras bewachsenen, sandigen Hängen. Dahinter befand sich das unerreichbar gewordene Meer; nur ein einziger Kilometer trennte sie von ihm, tausend Schritte, die sie früher gedankenlos und leichtfüßig zurückgelegt hatte.
»So ganz offiziell meinst du?« Auch Gitte hielt ihren Blick geradeaus gerichtet. Dennoch entging Jane das Schmunzeln in der Stimme ihrer Tante nicht. »Schriftlich, in dreifacher Ausfertigung und notariell beglaubigt? Nein, das steht noch aus.« Gitte kicherte, Janes Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Den Oberkörper zur Seite geneigt stupste sie Gitte mit der Schulter spielerisch an.
»Ich meine es ernst, Tante Gitte. Ohne dich wäre in meinem Leben vieles nicht möglich gewesen. Auch das hier nicht. Deine Unterstützung bedeutet mir unglaublich viel und … und auch deine Liebe.« Ihre Blicke kreuzten sich. »Danke, dass du so für mich da bist.« Jane bemerkte den plötzlichen Glanz in Gittes Augen, aber er verschwand, kaum dass sie ihn wahrgenommen hatte.
»Was wird das hier, Jane? Muss ich Taschentücher holen?« Jane lachte auf und erschrak beinahe, weil sie fast vergessen hatte, wie es sich anfühlte. Ihr Lachen, ein flüchtiger Augenblick der Unbeschwertheit, der vorbei war, bevor sie ihn realisiert hatte. Sie sprachen nicht, saßen nebeneinander, tranken, atmeten die kühle Luft, sahen hinaus in den erwachenden Tag. Auf Janes nackten Beinen bildete sich eine Gänsehaut. Sie zog die Strickjacke über ihre angewinkelten Knie. Weich schmiegte sich die Wolle an ihre Haut.
»Ich möchte dir etwas sagen, Tante Gitte.« Es war der richtige Augenblick. Kairos. Worauf sollte sie warten?
»Ich denke schon eine ganze Weile darüber nach. Und mein Entschluss steht fest.« Aus dem Augenwinkel versuchte sie, das Gesicht ihrer Tante zu streifen, um eine Regung darin zu erkennen, konnte aber keine Veränderung feststellen. Mit beiden Händen hielt Gitte den Kaffeebecher umschlossen und nippte daran.
»Es ist etwas, das ich nicht alleine kann«, fuhr Jane fort. Ihre eigenen Worte wühlten sie auf. Darüber nachzudenken, war das eine, es war leicht. Gedanken gehörten einem ganz allein, man konnte sie zu Ende denken oder in eine andere Richtung lenken oder sie abbrechen, wann immer man es für notwendig hielt. Die gleichen Worte jedoch aus dem Vakuum der eigenen Gedankenwelt zu entlassen, sie auszusprechen und dem Menschen, an den sie gerichtet waren, abzuverlangen, sich damit auseinanderzusetzen, ließ Janes Blut jetzt in einem wilden Strom durch ihre Adern rauschen.
»Deshalb brauche ich deine Unterstützung, Tante Gitte. Vielleicht erschreckt dich, was du jetzt hören wirst. Wenn das so ist, tut es mir unglaublich leid, das musst du mir glauben. Ich will dir keine Angst machen.«
»Lieber Himmel, Jane, wir haben in den letzten Jahren so vieles gemeinsam durchgestanden! Ich glaube nicht, dass mich noch irgendetwas aus der Bahn werfen kann.«
Jane schätzte die resolute Art ihrer Tante, auch wenn sie dadurch gelegentlich etwas bärbeißig wirkte. Das war sie nicht. Gitte war die liebevollste Frau, die Jane kannte. Sie kleidete ihre Warmherzigkeit nur gern in einen schroff gestrickten Mantel, weil ihre Seele ohne ihn jämmerlich erfrieren würde. Er war ihr Schutz, das wusste Jane, und deshalb nahm sie ihr die mitunter bissig klingenden Bemerkungen nicht übel. Mit Gittes Art, den Dingen furchtlos und forsch zu begegnen, war Jane in den letzten Jahren gut gefahren. Nicht auszudenken, wenn ihre Tante bei jeder neuentdeckten Metastase, bei jedem weiteren desaströsen Laborbefund, bei jeder neu hinzugekommenen Nebenwirkung weinend zusammen gebrochen wäre.
Mit einem Arm umschlang Jane die angezogenen Beine. Sie wandte ihrer Tante das Gesicht zu und sah, dass diese sich die silbergraue Strähne, die sich so gern aus der Spange löste, hinters Ohr strich. Die tropfenförmigen Bernsteinohrringe, die Jane ihr vor Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, schmückten ihre Ohrläppchen.
»Hör dir an, was ich dir erzähle«, sagte Jane, »aber gib mir nicht direkt eine Antwort. Denk zuerst darüber nach.«
Gitte nickte, trank einen Schluck Kaffee, blickte Jane fest ins Gesicht.
»Wir leben zusammen, seit ich zehn Jahre alt war«, sagte Jane. »Während meiner Auslandseinsätze nicht mehr regelmäßig, aber ich hatte auch während dieser Zeit immer einen Hafen bei dir. Bei dir war mein Platz zum Ankerwerfen. Das, was man Zuhause nennt. Und auch dies hier, dein kleines Haus am Meer, ist ein Zuhause für mich. Du hast mit meinen Schwestern und mir viel Zeit hier verbracht, damit wir wenigstens für eine Weile dem Desaster daheim entkommen konnten. Es war dir immer wichtig, mich zu beschützen, aber so ganz kann man Kinder wohl nicht vor der Realität abschirmen, die in ihrem Elternhaus vorherrscht.
Was Mama und Papa mir mitgegeben haben, hat mich geprägt, aber durch dich konnte ich die werden, die ich heute bin.« Jane nippte an ihrem Tee, um die Trockenheit in ihrem Mund zu vertreiben. Sie legte wie Gitte ihre beiden Hände schützend um den Becher. Die Worte waren aus der Tiefe ihres Herzens aufgestiegen und ohne großes Zutun über ihre Lippen geflossen. Gitte hielt ihren Blick unverwandt auf Janes Gesicht gerichtet, sie sagte kein Wort, aber in ihren Augen sammelten sich Tränen.
»Du hast mir etwas Wichtiges beigebracht«, fuhr Jane fort, »nämlich immer so zu leben, wie es mir selbst, meinen Bedürfnissen entspricht. Das hat dazu geführt, dass ich nicht in irgendeiner Klinik in Deutschland gearbeitet habe und es bequem und sicher hatte, sondern dass es mich in risikoreiche Länder verschlagen hat und ich organisatorische Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen musste. Aber meine Arbeit in den Hilfsprojekten hat mich zutiefst erfüllt. Sie war genau das, was ich machen wollte. Du hast mich ermutigt, ein möglichst unabhängiges Leben zu leben, eins, das mein eigenes und nicht das eines anderen ist.«
Sie lächelten einander an. Eine Träne rollte über Gittes Wange, sie rieb sie fort, und Jane sah, dass sie die Lippen zusammenpresste, um das Zittern zu unterdrücken.
»Auch den Entschluss, nicht länger mit Chemie gegen den Krebs zu kämpfen, habe ich selbstbestimmt getroffen. Du weißt, dass mich kein Arzt und keine Klinik der Welt mehr zu irgendwelchen Therapien überreden werden. Therapien, die meine Lebenszeit vielleicht um ein paar Wochen verlängern, mir aber gleichzeitig die Möglichkeit nehmen, so etwas wie das hier noch einmal erleben zu können. Und so frei und selbstbestimmt, wie ich gelebt habe, möchte ich auch sterben.«
Eine Brise strich durch die Gräser, kühlte ihre Gesichter, raschelte im Strandhafer und brachte die rot-weiße Fahne in Henriksens Garten dazu, sich ein paar Mal müde zu bewegen. Die Sonne stieg. Aus einem der umliegenden Ferienhäuser hörten sie einen Säugling schreien.
»Was meinst du damit?« Gitte veränderte ihre Sitzposition, wandte ihren Oberkörper mehr in Janes Richtung, sodass sie ihre Nichte ansehen konnte, ohne den Kopf zur Seite zu drehen. In einer Geste der Ungeduld rieb sie sich mit dem Handrücken über beide Augen. »Du denkst über Sterbehilfe nach?«
Jane schüttelte den Kopf. »Dann hätten wir uns auf ein anderes Reiseziel verständigen müssen.«
»Was dann?«
»Ich möchte nicht so sterben wie Mama.« Das Kindergeschrei verebbte. Auf dem Dünenpfad, der hinter dem Grundstück entlang verlief, erkannte Jane zwei Feriengäste, die ihren Hund spazieren führten, einen schwarzen Labrador. Die Nase ins Gras gedrückt lief er ihnen voran.
»Auch wenn ich nicht auf viele Erinnerungen an die schlimmen Jahre zurückgreifen kann, weiß ich doch, dass sie warten musste. Auf den Tod. Ich war damals zu jung, um das alles im ganzen Ausmaß zu verstehen. Wenn du mit mir zu Besuch hingefahren bist, beschränkte sich mein Kontakt zu Mama auf höchstens eine Viertelstunde. Ich konnte nichts mit dieser Gestalt anfangen, die einmal meine Mutter gewesen war und plötzlich nur noch mit weit aufgerissenen Augen an die Decke starrte und nicht mal mehr den kleinen Finger rühren, geschweige denn ein Wort sprechen konnte. Meine letzte Lebenszeit so verbringen zu müssen, ist eine unerträgliche Vorstellung für mich, Tante Gitte. Und Abwarten ist sinnlos. Mir läuft die Zeit davon. Ich werde nicht mehr gesund, und es wird kein Wunder geschehen!«
Ihre Zunge klebte am Gaumen fest, wie immer, wenn sie viel redete. Dass sie über ihr Lebensende sprach, machte es nicht leichter. Ein Schluck Tee vertrieb das unangenehme Gefühl. »Die Tage, in denen ich an ein Wunder geglaubt habe, sind vorbei«, fügte sie leise hinzu. Noch immer ruhte Gittes Blick auf ihr.
»Ich verstehe dich«, sagte sie. »Wer sucht sich schon freiwillig ein langes Siechtum aus? Auch deine Mutter hätte es nicht getan, aber sie wurde nicht gefragt.«
»Ich werde auch nicht gefragt, aber ich kann versuchen, es abzuwenden.« Jane stieß ein abgehacktes, trockenes Husten aus, das ihr kaum Möglichkeit ließ, genug Luft zu holen, und das sich allmählich steigerte.
»Ich hole das Morphin, bleib sitzen und mach deine Atemübung«, sagte Gitte knapp. Rasch erhob sie sich, verschwand im Haus und erschien kurz darauf mit einer Spritze, die sie Jane auf der ausgestreckten Handfläche entgegenhielt.
»Willst du selbst?«, fragte sie. Jane nickte. Sie nahm ihrer Tante die Spritze aus der Hand, zog die Kappe von der Kanüle und injizierte sich fünf Milligramm Morphin in eine Hautfalte der Bauchdecke, die diese Bezeichnung kaum noch verdiente.
»Lass uns zusammen atmen«, sagte Gitte. Wie oft hatte sie Jane in den letzten Monaten dazu aufgefordert! Lass uns zusammen atmen … Und wie routiniert sie inzwischen ihren eigenen an Janes Atemrhythmus anpassen konnte und gleichzeitig die Dauer der Ausatmung mit leicht aufeinander liegenden Lippen vorgab. Nach einer Weile begann das Morphin zu wirken. Jane atmete ruhiger.
»Wollen wir später weiterreden?«, fragte Gitte.
Energisch schüttelte Jane den Kopf. »Geht schon.«
»Also gut«, sagte Gitte. »Du sagtest, es geht nicht um Sterbehilfe. Was ist es dann?«
»Es nennt sich Sterbefasten.«
»Und was soll das sein?« Gitte runzelte die Stirn.
»Man fastet sozusagen in den Tod hinein.«
»Entschuldige, wenn ich dir gerade nicht folgen kann«, sagte Gitte, darum bemüht, Janes Antworten einen hinreichenden Sinn beizumessen.
»Man hört auf zu essen und zu trinken. Damit man sterben kann.« Jane senkte die Stimme, weil leises Sprechen sie weniger anstrengte.
Gittes Augen wurden schmal wie kleine Schlitze. »Eine Art Selbstmord?« Offensichtlich fiel es ihr schwer, das Gehörte in Einklang mit den Gedanken in ihrem Kopf zu bringen. »Das kannst du nicht tun, Jane!«
Eine Windböe blies ihnen kühl in die Gesichter, und die Sonne verschwand hinter einer vorüberziehenden Wolke. Jane fröstelte.
»Niemand darf es mir verbieten«, sagte sie. »Es ist eine Entscheidung, die ich selbstbestimmt treffen kann, unabhängig von der Meinung anderer.«
»Jane, was redest du denn da?«
Noch einmal füllte Jane ihre Lungen mit Luft, dankbar dafür, dass ihr durch die Spritze das Atmen allmählich leichter fiel. Hatte sie sich wirklich eingebildet, Tante Gittes Verständnis ohne Erklärungen gewinnen zu können?
»Es ist nicht strafbar, Tante Gitte! Ich verlange nicht, dass du mir einen Giftcocktail mischst und mir beim Austrinken den Strohhalm hältst. Ich will auch nicht, dass jemand mir eine Spritze gibt, nach der die Atmung aussetzt. Ich höre nur damit auf, meinem Körper das zu geben, was er braucht, um die Vorgänge darin aufrechtzuerhalten, die ihm das Leben ermöglichen. Denn solange er das tut, werde ich leben. Und leiden! Aber wenn ich ihm zugestehe, dass er aufhören darf, zu funktionieren, werde ich sterben. Ich verzichte nur auf etwas. Und ich tue es im Vollbesitz meines Geistes.«
»Du willst dich …« In einer Geste der Verzweiflung schlug Gitte beide Hände vors Gesicht. Das Zucken ihrer Schultern verriet, dass Janes Worte ihre Tante bis ins Mark erschüttert hatten und sich die bislang so mühselig zurückgehaltenen Tränen nicht länger unterdrücken ließen. Nur ein einziges Mal hatte Gitte in Janes Beisein die Fassung verloren und hemmungslos geweint. Als Doktor Mensberg in der onkologischen Frauenklinik ihnen den Befund der MRT-Untersuchung mitgeteilt hatte, aus dem hervorging, dass der Brustkrebs zurückgekehrt war und in die Lunge gestreut hatte. Apathisch hatte Jane auf dem Stuhl vor dem weiß lackierten Schreibtisch gesessen, der ihr ebenso steril und makellos erschienen war wie alles in diesem spartanisch eingerichteten Raum. Die Stimme der Ärztin war von weit her gekommen, als befände sie sich auf der anderen Seite einer unsichtbaren, schützenden Wand, die Jane von der Realität trennte, von der unumkehrbaren Diagnose und der Bösartigkeit, die sich nach der scheinbaren Heilung erneut in ihrem Körper ausbreitete. Irgendwann hatte Jane schwerfällig den Kopf zur Seite gedreht und die tränennassen Augen ihrer Tante bemerkt, die klein und blass und zusammengesunken auf dem Stuhl neben ihr gekauert und ihre Hände im Schoß ineinander verschlungen hatte. Später hatte sie sich bei Jane dafür entschuldigt. Nie vorher habe sie den Tod so unmissverständlich vor Augen gesehen. Nie habe sie die Endlichkeit so sehr in allen Fasern gespürt. Nie sei die Hoffnung im Vergleich zur Resignation so winzig gewesen. Vielleicht fühlte ihre Tante in diesem Augenblick auf der Veranda ähnlich, weil jeder Schutzmantel aus Humor und Ironie kläglich versagte.
Jane schluckte hart und verurteilte sich dafür, ihrer Tante diesen Schmerz zuzufügen. Sie rückte ein Stück näher und legte ihren Arm um Gittes Schultern.
»Ja, es ist eine Art Suizid, wenn du so willst«, sagte sie leise. Ihre Finger strichen über Gittes Arm. »Und sei beruhigt: Es heißt, dass der freiwillige Verzicht von Nahrung und Flüssigkeit nicht mit großem Leiden verbunden ist.«
Gittes Hände sanken herab. Für einen Moment sah sie Jane wortlos an, dann schmiegte sie ihren Kopf an die Schulter ihrer Nichte. Es schien, als würden sie einen Rollentausch vollziehen, bei dem plötzlich Jane die Stärkere von ihnen beiden war.
Seit Monaten beschäftigte Jane sich mit dem Sterbefasten, sie hatte positive wie auch kontroverse Artikel darüber gelesen und eine Zeitlang unschlüssig gezweifelt, die Option verworfen, sie wieder aufgenommen und neu bedacht. Es hatte sich angefühlt wie ein Prozess, den sie hatte durchlaufen müssen, um am Ende festzustellen, dass es ihr gefiel, auf diese Möglichkeit zurückgreifen zu können. Sollte der Krebs auf die Idee kommen, über sie und ihr Leben bestimmen zu wollen, könnte sie sich mit dem bewussten Verzicht auf Essen und Trinken ihre Autonomie bewahren. Doch sie wusste auch, dass das Sterbefasten Durchhaltevermögen verlangte. Disziplin. Geduld. Und einen Menschen, der sich kümmern würde, wenn sie selbst es nicht mehr konnte. Jane machte sich nichts vor. Ungeachtet dessen, dass ihr Entschluss feststand, verspürte sie, wenn sie lange darüber nachdachte, eine riesengroße Angst in sich heraufkriechen. Sterbefasten war nichts, was sie üben könnte. Sie würde es nur einmal machen, ohne Generalprobe und ohne die Chance auf eine Wiederholung. »Verzeih mir, Jane, aber das ist … Es ist nicht so leicht, wie du vielleicht glaubst.«
Jane drückte sie an sich und starrte über den gelben Teppich aus blühendem Stechginster hinweg auf die sandigen Dünenhänge.
»Gib mir ein paar Minuten, ja?« Gitte wartete die Antwort nicht ab, stand auf, stieg die Verandatreppe herunter und ging bis zum Ende des Grundstücks, wo ein Gartentor und zwei Schwarzkiefern den Durchgang in das sich daran anschließende Dünengebiet öffneten. Jane sah ihr nach. Was tat sie ihrer Tante nur an? Autonom getroffenen Entscheidungen wohnte immer der schale Beigeschmack von Egoismus inne, und sie wirkten rücksichtslos, sobald sie die Assistenz eines anderen Menschen erforderlich machten. Aber welche Wahl hatte Jane? Alle Grübeleien hatten früher oder später immer zur gleichen Antwort geführt: Sie konnte Gitte nicht aus ihrem Vorhaben heraushalten.
Die Feriengäste mit dem Labrador kamen den Dünenpfad zurück. Jane beobachtete, wie der Hund vorauslief und am Gartenzaun schnüffelte. Ein Pfiff rief ihn zurück. Sofort machte er kehrt. Seine Besitzer sprachen im Vorbeigehen ein paar Worte mit Gitte, die abwesend nickte und sich ein Lächeln abrang. Wie verloren und klein sie zwischen den beiden Schwarzkiefern wirkte. Als habe sie Janes Blick auf sich gespürt, wandte sie sich um und kam zurück. Am Fuß der Verandatreppe blieb sie stehen.
»Ich habe noch nie gehört, dass man so etwas machen kann, Jane. Dass man auf diese Art sterben kann. Freiwillig, meine ich. Ich verstehe nicht, wie das gehen soll. Wie lange … dauert denn so etwas?«
Jane blinzelte in die Sonne, die eine Wolkenlücke gefunden hatte, um ihre Strahlen hindurch zu schicken.
»Zehn Tage, zwölf, fünfzehn vielleicht.«
»Gütiger Himmel«, murmelte Gitte. »Und du hast das schon beschlossen?«
Jane nickte.
»Wo willst du … es tun?«
»Zuhause.« Jane schloss die Augen. Zuhause … Sie spürte dem Wort nach, schmeckte es auf der Zunge. Es weckte Erinnerungen. Nicht an die Mühlenwohnung, in der sie aufgewachsen war, wo ihr Vater sie aber nicht mehr hatte haben wollen, nachdem das Unglück über die Familie hereingebrochen war. Auch nicht an die Eltern oder ihre Schwestern. Zuhause schmeckte anders. Zuhause, das war das kleine Zimmer mit den schrägen Wänden unter dem Dach, das Tante Gitte für sie eingerichtet hatte, als Jane bei ihr eingezogen war, mit dem Fenster zum Garten, in dem Pflaumen und Mirabellen an den Bäumen wuchsen, aus denen sie im Herbst zusammen Marmelade gekocht hatten.
Zuhause … Was für ein Komfort, sich den Ort des Sterbens aussuchen zu dürfen!
Die Erinnerungen zogen davon, Jane öffnete die Augen. »Wenn Selma und Mascha … Wenn ich alles dafür getan habe, dass die beiden … nachher, also, nachdem ich, wenn ich …« Sie stockte, seufzte auf, atmete, so tief sie konnte. Danach, nachher … Zweifelte sie etwa ihre gerade so entschlossen vorgebrachte Entscheidung an? Oder waren es nur die Worte, die ihr nicht über die Lippen wollten? Wie eine zähe Masse verklebte die Angst ihre Kehle und verhinderte, dass sie einen vollständigen Satz herausbrachte. Noch einmal füllte sie ihre Lungen mit Luft.
»Wenn sie wieder in ihre Leben zurückkehren«, sagte sie umständlich, »dann lass auch uns zurückfahren, ja? Ich will zuhause sein, in meinem Zimmer … wenn ich gehe.«
Dort will ich sein, wenn ich gehe klang milder als Dort will ich sterben, und Jane hoffte inständig, dass ihre Tante dies ebenso empfand. Gitte sagte nichts, presste die zitternden Lippen aufeinander und rieb sich unaufhörlich mit den Ärmeln ihres Morgenmantels über die Augen. Jane ließ ihr Zeit.
»Was wird passieren, Jane?«, fragte sie irgendwann, und sie klang etwas klarer, als habe sie ihre Gedanken geordnet. »Ich meine, geht das überhaupt? Hält man das aus, einfach nichts mehr zu essen und zu trinken? Was passiert dann in deinem Körper?«
Jane erhob sich nun ebenfalls. Der Schmerz schoss aus den Lendenwirbeln den Rücken hinauf, gleichzeitig ins Becken hinunter und weiter in die Oberschenkel. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, ruhig zu bleiben, indem sie sich zwang, gleichmäßig zu atmen. Es funktionierte, das Morphin wirkte, der Atem reichte, die Schmerzspitze ebbte etwas ab. Langsam stieg sie die vier Stufen zu ihrer Tante herunter. Sie standen einander gegenüber.
»Nach zwei bis drei Tagen ohne Essen setzt der sogenannte Hungerstoffwechsel ein.« Mit einem Mal lag eine erschreckende Ruhe in Janes Stimme. Sie klang wie die Krankenschwester bei der Anleitung einer Pflegeschülerin. »Damit der Energieverbrauch reduziert wird. Dann lässt auch das Hungergefühl nach. Was keinen großen Unterschied macht, da ich davon ohnehin nicht mehr viel spüre. Und wenn ich nichts mehr trinke, trocknet mein Körper langsam aus. Ich werde Durst haben und einen trockenen Mund, unsicher auf den Beinen sein, solange ich noch gehen kann, und vielleicht nicht mehr deutlich sprechen. Und irgendwann werde ich müde sein und viel schlafen.« Jane ließ den letzten Satz in ihrem Inneren nachklingen. Müde sein und viel schlafen … Eine beinahe heilsame Vorstellung.
»Wirst du einen Arzt brauchen?«
»Ich möchte keinen brauchen müssen.«
»Das ist keine Antwort, Jane!« Ihr Gespräch verlagerte sich auf eine andere Ebene. Gitte wirkte nun so sachlich wie Jane, doch sie wussten beide, dass dies nur dem Abstecken der Fakten diente, die Gitte brauchte, um sich einen Eindruck vom Umfang des Bevorstehenden machen zu können.
»Ich möchte nicht, dass ein Arzt kommt«, erklärte Jane. »Ärzte legen eine Nadel in meine Vene und hängen mir Infusionen an. Das ist eine unnötige Verlängerung meines Lebens. Ich habe meinen Willen aufgeschrieben und ihn unterzeichnet. Damit du etwas in der Hand hast und niemand sich darüber hinwegsetzt. Die Leute vom Palliativ-Team sind die einzigen, die ich akzeptiere.«
Gitte seufzte und nickte gleichzeitig. »Ich bin keine Krankenschwester. Woher weiß ich, was ich tun muss, um alles richtig zu machen?«
»Indem du nichts anderes tust, als was du in den letzten Jahren immer schon für mich getan hast, wenn es mir schlecht ging. Meinen Mund pflegen, um mir das Durstgefühl zu nehmen, mich sauber und trocken halten, meine Beine und meinen Rücken mit Kissen stützen, mir die Medikamente geben, wenn ich es selbst nicht mehr kann. Und bei mir sein. Nur das. Einfach da sein.«
Sie unterbrach sich, schwieg, suchte im Gesicht ihrer Tante nach einer Regung, nach Zustimmung, Verständnis, Ablehnung, irgendetwas, das sie hätte einordnen können. »Ich weiß, dass ich etwas Unglaubliches von dir verlange«, fügte sie entschuldigend hinzu, fast im Flüsterton, aber Gitte verstand es. Fest sahen sie einander in die Augen.
»Wir beide ganz allein, Jane?«
»Traust du es dir zu?«
»Und du?« Gitte nahm Janes Hände in ihre. »Traust du es dir zu?«
Gittes Frage trieb Jane Tränen in die Augen. Sie wehrte sich dagegen, versuchte, sie wegzublinzeln, und drehte ungeduldig den Kopf zur Seite, um ihr Gesicht vor Gitte zu verbergen. Der Garten verschwamm vor ihren Augen. Bleib stark, Jane! Wie konnte sie von ihrer Tante verlangen, was sie selbst nicht aufzubringen vermochte? Gittes Händedruck, warm und fest, wirkte heilsam wie ein tröstender Zuspruch, und er ließ nichts anderes zu, als sich ihr wieder zuzuwenden. Jane spürte, wie ihr innerer Widerstand zerbrach. Sie ließ die Tränen fließen, ohne sich dafür zu schämen.
»Das Sterben?« Ihre Worte verloren sich in heftigen Schluchzern. »Ja, wenn du bei mir bist, traue ich es mir zu.«
Schon fand Jane sich in der vertrauten Umarmung ihrer Tante wieder. Die Wärme und der sanfte Druck ihrer Hände übertrugen sich durch die Wolle der Strickjacke hindurch auf ihren knochigen Rücken.
»Du hast mich gebeten, darüber nachzudenken, bevor ich dir antworte«, hörte sie Gittes Stimme an ihrem Ohr. »Das brauche ich nicht, mein Engel. Ich weiß nicht, was auf uns zukommt, aber wenn es dein Wunsch ist, bin ich für dich da, das weißt du.«
Da ertönte plötzlich von der Veranda die Abfolge melodischer Laute, die sich gleich darauf wiederholte.
»Dein Handy«, sagte Jane. Sie hob den Kopf. Gitte löste sich von ihr, stieg die Treppenstufen hinauf, griff nach dem Telefon, das sie auf den Muscheltisch gelegt hatte. Jane wandte sich ab. Der Wind kühlte ihr Gesicht und die brennenden Augen. Sie hörte Gitte in ihr Handy sprechen, ohne Einzelheiten zu verstehen. Gleichzeitig traf sie die Erkenntnis wie ein Blitzschlag.
Sie fragte sich, wie laut ein Herz hämmern konnte, ohne dass die ganze Insel davon Kenntnis erhielt. Wie zu Stein erstarrt verharrte sie. Die gerade noch empfundene Nähe des so schrecklich greifbar gewordenen Sterbens rückte von beiden Frauen ab. Gitte nickte, sprach, wartete, sprach wieder, lächelte, beendete das Telefonat. Sie warf Jane einen vielsagenden Blick zu.
»Das war Mascha!« Sie hörte nicht auf zu lächeln und brachte mit ihren Worten Janes Herz zum Hüpfen. »Sie wird in drei Tagen bei uns sein.«