Читать книгу All die ungelebten Leben - Michaela Abresch - Страница 15
ОглавлениеVergangenheit
Als Mascha Molander geboren wurde, war ihre Mutter siebenundzwanzig und bereits geübt darin, die Schwere, die ihr durchs Leben folgte, gekonnt zu verbergen und ein scheinbar gleichmütiges Äußeres zu zeigen. Das unsichtbare Bollwerk, das sie um sich herum errichtet hatte, war ihr ein lebensnotwendiger Schutz geworden, und sie beherrschte das Verstecken dahinter in solcher Perfektion, dass sie allmählich vergaß, wie unbeschwert und leicht und anschmiegsam sie gewesen war, bevor sie »Ja« gesagt hatte.
Maschas Zeugung war keinesfalls auf einen Akt zärtlicher Verschmelzung zweier Liebender zurückzuführen, sondern nichts weiter als das Ergebnis des monatlichen Beischlafs, nach dem Emil noch immer wortlos verlangte und den Therese seit Jahren ohne eine Regung ertrug.
Sie hatte es nicht gewollt. Hatte gehofft, Selma bliebe ihr einziges Kind, denn einen weiteren Sprössling der väterlichen Gefühllosigkeit auszusetzen und ihm Mutter und Vater zugleich sein zu müssen, lag für sie jenseits des Vorstellbaren.
Doch fünf Jahre nach Selma hielt sie erneut einen Säugling in den Armen. Wieder war es ihre Freundin Gitte und nicht Emil, die ihr bei der Geburt beistand. Gemeinsam mit ihr vernahm sie den ersten Schrei des fünfundvierzig Zentimeter kleinen Molander-Mädchens im Kreißsaal. Und wieder war es Emil, der einen Namen für seine Tochter auswählte. Seine Bibliothek und seine Passion für die Literatur boten ihm eine immens große Auswahl, und allein die Hingabe, mit der er nach dem passenden Namen suchte und dass er ihn pünktlich am Tag von Maschas Geburt präsentierte, weckte in Therese die stille Hoffnung, es könne nun alles wie früher werden.
Als die Hebamme das gesäuberte und in ein gestärktes Moltontuch gewickelte Kind in Thereses Arme legte, nahm diese es mit einem Gemisch aus Zuversicht und Zweifeln an sich und legte es an die Brust. Sogleich begann Mascha zu saugen, als hätte sie nie etwas anderes getan. Sie schmatzte und schluckte in einem fort, dabei lag ihre kleine Hand besitzergreifend auf der Brust ihrer Mutter. Thereses Blick fiel auf das Plastikbändchen am Handgelenk ihrer Tochter, auf dem in Druckbuchstaben der Name MOLANDER stand. Tränen rannen aus ihren Augenwinkeln, weil sie sich wünschte, Mascha eine gute Mutter sein zu können, aber gleichzeitig fürchtete, zu scheitern, aus Angst, die zwischen ihr und Emil herrschende Kälte auf ihr kleines Mädchen übertragen zu können.
»Was ist los?«, fragte Gitte, die bei ihr am Krankenhausbett saß und in ihrer Feinfühligkeit längst bemerkt hatte, dass ihre Freundin seit Selmas Geburt die einstmals überschäumende Unbeschwertheit eingebüßt hatte.
Therese schwieg. Dass sie unter Emils Gefühlskälte litt, hatte sie Gitte gegenüber ein paar Mal erwähnt, aber sobald sich ihre Gespräche auf eine tiefere Ebene verlagerten und Gitte nachfragte, senkte sich die Beklemmung auf Thereses Brustkorb nieder, fest und hart und unnachgiebig, und sie konnte nicht anders, als in ein tiefes Schweigen zu fallen oder nervös das Thema zu wechseln.
»Ich habe ein Haus gekauft«, sagte Gitte eines Tages, als sie Therese und die Mädchen zu einem Spaziergang abgeholt hatte. Ihre Augen leuchteten, ihre Freude war unübersehbar.
»Ein Haus?«, fragte Therese. »Was für ein Haus?« Sie schob das schlafende Baby im Kinderwagen vor sich her. Emil hatte einen neuen gekauft, dabei wäre Selmas Kinderwagen durchaus noch zu gebrauchen gewesen. Selma in Matrosenkleidchen und blauen Lackschuhen sprang voraus. Ihre blonden Zöpfe wippten.
»Ein Sommerhaus, für die Ferien!«, sagte Gitte.
»Und wo?«
»In Dänemark auf einer kleinen Insel.«
»Lohnt sich das, ein Haus nur für die Ferien? Im Ausland? Du hast doch ein Haus.«
Selma blieb stehen, wartete, bis ihre Mutter und Gitte herangekommen waren, und schob ihre kleine Hand in die ihrer Tante.
»Es wird sich auszahlen, du wirst sehen, Therese. Ich fahre in den Herbstferien hin, um es einzurichten. Und wenn es fertig ist, lade ich dich ein. Ans Meer, Therese! Dich und die Mädchen.«
Insgeheim hatte Gitte gehofft, ihrer Freundin mit der Aussicht auf die gemeinsame Zeit am Meer eine Freude machen zu können und ihr damit das Korsett der Traurigkeit ein wenig aufzuschnüren, damit sie freier atmen konnte. Aber sie hatte sich getäuscht. Nicht mehr als ein unbeteiligtes Schulterzucken brachte Therese ihr entgegen.
»Ach, Therese, komm, freu dich doch mit mir!«
»Es tut mir leid«, sagte Therese steif. »Ich fürchte, ich habe es verlernt, das Freuen.«
Die Ausgelassenheit in Gittes Gesicht wich einem Ausdruck der Besorgnis. »Es ändert sich nichts zwischen dir und Emil, oder?«, fragte sie. Es war eine rhetorische Frage, das wussten sie beide. Therese schwieg und senkte den Blick.
»Warum sprichst du nicht endlich mit ihm darüber?«
»Mit ihm sprechen? Mit Emil kann man nicht sprechen, das weißt du ebenso gut wie ich!« Thereses Augen glänzten, und in ihrer Stimme lag ein feines Zittern.
»Ich weiß, Therese, aber vielleicht ist ihm nicht bewusst, wie sehr du leidest.«
Schweigend richtete Therese den Blick aus ihren wässrigen Augen an ihrer Freundin vorbei ins Leere.
»Er sollte es wissen«, fügte Gitte leise hinzu. »Ich glaube nicht, dass es ihm egal ist.«
»Soll ich dir sagen, was ihm wichtig ist?« Therese erhob nur selten ihre Stimme. Dass sie es nun tat, zeigte Gitte, wie sehr Emils Verhalten sie verletzte. »Das Bild, das wir nach außen hin abgeben! Das ist ihm wichtig. Was die Nachbarn über uns denken ist wichtig. Und seine Kunden in der Apotheke. Hans Georg und Lieselotte, unsere einzigen Freunde. Selbst die bekommen nur eine geputzte Fassade zu sehen. Und alle, Gitte, wirklich alle, würden dasselbe sagen, wenn man sie fragte. Die Molanders sind eine perfekte Familie, würden sie sagen. Was für ein patentes Paar! Und die Mädchen, so hübsche Kinder, immer wie aus dem Ei gepellt und wie gut erzogen sie sind! Die Große haben sie schon mit fünf eingeschult, weil sie ein so kluges Kind ist! Und nun dieses putzige Baby, seht nur, in was für einem wunderschönen Kinderwagen sie es spazieren fahren!«
Bei den letzten Worten hatte der Spott Thereses Stimme nach oben geschraubt. Ihre Augen funkelten. Sie warf den Kopf in den Nacken und stieß mit einem Schnauben die Luft aus der Nase aus, als könne sie sich nur auf diese Weise beruhigen. Gitte blieb stehen.
»Und sie sehen alle nur die Fassade, Therese, nicht wahr?«
Therese warf ihr im Gehen einen kurzen Blick über die Schulter zu. Gitte spürte den fester werdenden Druck von Selmas kleiner, verschwitzter Hand. Jetzt verharrte auch Therese. Sie drehte sich um, bemüht um einen gemäßigteren Tonfall.
»Sei lieb, Selma, und lauf ein bisschen vor!«, rief sie ihrer Tochter zu, und weil Selma ein gehorsames Kind war, tat sie, worum sie gebeten wurde.
»Emil und ich stecken in einer Sackgasse«, sagte sie leise, als Selma sich außer Hörweite befand. »Aber er merkt es nicht.«
»Liebst du ihn noch?«
»Er macht es mir schwer, ihn zu lieben. Aber er macht es mir genauso schwer, ihn aufzugeben, weil ich sehe, wie er sich kümmert. Er überhäuft mich mit Dingen, von denen er glaubt, dass sie mir gefallen oder dass ich sie brauche. Er sorgt für alles. Aber es ist materiell, Gitte! Es sind nur Dinge. Gegenstände. Möbelstücke. Gardinen. Handtaschen. Ein Puppenhaus. Kleider für die Mädchen. Und Bücher. Immer wieder Bücher.«
»Vielleicht ist es seine Art, dir seine Liebe zu zeigen.«
Therese stieß einen Seufzer aus. »Manchmal glaube ich, dass wir ihn als Familie zu sehr anstrengen. Er zieht sich von uns zurück. Braucht Ruhe. Er erträgt es nicht, wenn Mascha schreit. Wenn er abends aus der Apotheke nach oben in die Wohnung kommt und die Mädchen etwas lauter sind, flehe ich sie an, im Kinderzimmer zu bleiben, damit Emil nicht direkt in seine Bibliothek flüchtet. Dass er sich dabei immer weiter von seinen Kindern und von mir entfernt, scheint er in Kauf zu nehmen.«
»Soll ich mit ihm reden?«
»Nein, bitte nicht, Gitte! Er glaubt sonst, dass ich mich über ihn beschwere. Oder undankbar bin. Er tut doch alles für uns!«
»Wie du meinst, aber dann überleg wenigstens, ob du nicht doch mit nach Dänemark kommen willst, wenn ich das Haus eingerichtet habe. Wir könnten uns zusammen eine schöne Zeit machen.«
Thereses Schultern sanken herab. Mit einer Hand schob sie Maschas Kinderwagen unaufhörlich ein Stück vor und wieder zurück. »Ich kann das nicht. Welche Frau verreist ohne ihren Mann? Was sollen sie über uns denken?«
»Wer, die Leute?«
Therese nickte. »Ich kann nicht mit dir kommen«, sagte sie, »das geht nicht. Nicht hier. Nicht, wenn man verheiratet ist. Man würde über uns tratschen. Diese Schmach kann ich Emil nicht antun.«
Gitte wandte sich ab. Sie unterdrückte die aufsteigende Wut und schluckte die Worte herunter, mit denen sie Therese gern zur Besinnung rufen würde. Aber sie spürte die ihr entgegenschlagende Abwehr und beschloss, auf einen besseren Augenblick zu warten.