Читать книгу All die ungelebten Leben - Michaela Abresch - Страница 13

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Selma

Drei Tage waren vergangen, seit Janes Brief sie erreicht hatte. Ein einziges Mal hatte sie ihn gelesen und ihn anschließend über der Toilettenschüssel mitsamt dem Kuvert kurz und klein gerissen. Sie hatte zugesehen, wie die Schnipsel ins Wasser gerieselt und kurz darauf in der städtischen Kanalisation verschwunden waren. Ein Anflug von Erleichterung hatte sie durchströmt. Aber sie dauerte nicht an. Keine Stunde verging, in der Selma nicht von einem durch den Brief geweckten Erinnerungsfetzen eingeholt wurde.

Entschieden setzte sie sich zur Wehr, so wie die Jahre es sie gelehrt hatten. Sie beherrschte wirksame Strategien zur Zerstreuung, die sie einsetzte, sobald die Bilder der Vergangenheit in ihr Alleinsein einbrachen. Schuhe eigneten sich hervorragend, Handtaschen, Schmuck, das fünfundzwanzigste Paar Ohrringe, eine schicke Bluse oder gleich zwei, farblich passende Unterwäsche, alles vom Feinsten, Seide, Leinen, echtes Leder, zwischendurch ein Espresso, zwei bis drei Gläser Prosecco und dazu ein paar Zigaretten. Aber wenn sie am Ende die Einkaufstüten nach Hause trug und ihren Inhalt um sich herum verteilte, meist auf dem Eichenparkett im Wohnzimmer zwischen dem Glastisch und der Teakholz-Skulptur, und erwartungsvoll ihre Blicke darüber hinweg glitten, überfiel sie stets aufs Neue das Gefühl einer bodenlosen Leere.

Dieses Mal war es anders. Janes Worte ließen sich nicht betäuben, nicht einmal kurzfristig. Sie wirkten nach. In einer Heftigkeit, die Selma nicht einordnen konnte und die einem Kaufrausch standhalten würde. Obwohl sie den Brief sofort unschädlich gemacht hatte, spürte sie die Macht, die er weiterhin unterschwellig ausübte. Dass er imstande war, alles, was sie einst verbannt und seither nicht mehr angetastet hatte, auf eine so beunruhigende Weise aus dem Dunkel zu zerren, quälte sie am Tag und noch mehr in den Nächten, in denen sich der Schlaf nicht einstellen wollte.

Sie wälzte sich auf die Seite und drückte auf den Dimmer ihres Weckers. Zwei Uhr dreiundvierzig. Sie hatte noch keine Sekunde geschlafen, seit sie vor drei Stunden zu Bett gegangen war. Der Dimmer erlosch. Sie fühlte sich wie gerädert. Im Dunkeln zog sie die Nachttischschublade auf, tastete nach der Schachtel, die sich darin befand, öffnete sie und drückte eine Tablette aus dem Blister. Während sie sie zwischen die Lippen schob, griff sie nach der Flasche neben ihrem Bett. Routinierte Handgriffe, zahllose Male ausgeführt. Mit einem Schluck Wasser spülte sie die Tablette herunter. Ohne die Lampe einzuschalten, tappte sie auf bloßen Füßen die schmale Wendeltreppe herunter in die Küche. Die Straßenlaternen warfen ihr milchiges Licht durch die Fenster in die Maisonettewohnung, in der sie seit etlichen Jahren lebte. Dreiundneunzig Quadratmeter auf zwei Etagen waren kein Vergleich zu dem großen Haus in Stadtrandlage, das sie mit Lutz bewohnt hatte. Die Wohnung war eine Notlösung gewesen, aber eine Scheidung erforderte Kompromisse, und dieser hatte Selma nicht wehgetan.

Im Halbdunkel fand sie, wonach sie suchte. Zwischen Kaffeemaschine und Cerankochfeld ertastete sie das angefangene Päckchen und ihr Feuerzeug. Im Gehen zündete sie sich eine Zigarette an. Sie stieß den Rauch aus, der sich in hellen Schlieren unscharf im Dämmerlicht verteilte. Selma öffnete die Tür zum Balkon und trat nach draußen. Sie sank in die weichen Polster einer der beiden Korbstühle, die nackten Beine übereinander geschlagen. Die Nachtluft strich ihr kühl über die Haut. Kaum ein Geräusch war zu vernehmen. Der seit ein paar Tagen blühende Rhododendron in der Ecke verströmte einen schwachen Duft. Irgendwo in einer Seitenstraße startete jemand ein Motorrad, es verklang, und wieder war alles still. Selma zog an der Zigarette. Sie blickte in den Himmel, der sternenklar war. Ablenken. Sterne zählen. Sie konzentrierte sich auf die winzigen leuchtenden Punkte, deren Namen sie nicht kannte. Nie hatte sie sich für Sternbilder interessiert oder für Sternzeichen und ihre Aszendenten. Horoskope waren Humbug, sie glaubte nicht an solchen Hokuspokus. Sie gähnte, blies den Rauch aus, legte den Kopf zurück ins Polster.

Geht die Abendsonne schlafen,

kommt der Sternanzündemann.

Und der steckt die vielen Sterne

hoch am dunklen Himmel an.

Mit einem Ruck hob sie den Kopf. Wie erstarrt hielt sie inne, lauschte den Worten, die aus einem Versteck in ihrem Inneren aufgestiegen und ohne Ankündigung in ihren Geist eingebrochen waren. Das Gedicht vom Sternanzünder. Seit einer gefühlten Ewigkeit hatte sie es nicht mehr gehört oder gelesen, geschweige denn aufgesagt! Einem Widerhall gleich klangen die ersten Gedichtzeilen in ihren Ohren nach. Selma versuchte, sich zu entspannen, indem sie ein letztes Mal an ihrer Zigarette zog und den Rauch tief einatmete. Den Stummel drückte sie im Ascher aus, der Tag und Nacht auf der Fensterbank stand. Es war Maschas Gedicht, aber sie hatten es alle drei auswendig aufsagen können. An den Abenden auf Rømø, wenn Tante Gitte ihnen erlaubt hatte, bis zum Einbruch der Dunkelheit auf der Veranda zu sitzen, nachdem das Feuer heruntergebrannt war und sie unter den Blicken ihrer Tante mit Stöcken in der Glut stochern durften. An einem solchen Abend hatte Mascha das Gedicht vom Sternanzünder erstmals aufgesagt, sie mochte zehn oder elf gewesen sein. Niemand hatte sie dazu aufgefordert, es war ihr einfach über die Lippen geflossen, fehlerfrei und mühelos, während die letzten roten Funken in der Feuerstelle verglommen waren und sich über ihnen ein sternklarer Himmel gewölbt hatte. Zweifellos der Verdienst ihres literaturbesessenen Vaters! So wie er einst Selma dazu angehalten hatte, sich in den Lagerlöf-Büchern zu verkriechen, hatte er seiner zweiten Tochter den Weg zu den Gedichten von Mascha Kaléko gewiesen. Dass der Sternanzünder zum Begleiter der Schwestern und das gemeinsame Aufsagen zu einem lieb gewonnenen Ritual geworden war, war wiederum Gitte zu verdanken gewesen, mit deren Hilfe auch Selma und Jane das Gedicht erlernt hatten. Es war zu einem festen Bestandteil ihrer Ferien auf Rømø geworden, indem es den Abschluss eines Tages markiert hatte. Selma wusste nicht, welchen Stellenwert die Zeilen für ihre Schwestern gehabt hatten, aber in ihrem eigenen Empfinden hatte dem Aufsagen der Verse eine größere Kraft innegewohnt als dem Nachtgebet, das ihre Mutter manchmal vor dem Einschlafen mit ihr gesprochen hatte, als sie noch das einzige Kind von Therese und Emil gewesen war. Dem Beten hatte es im Gegensatz zum Sternanzünder an Beständigkeit gefehlt, so wie es der Mutter ebenfalls daran gemangelt hatte, weshalb es irgendwann verloren gegangen war.

Selma begann in ihrem dünnen Nachthemd zu frieren. Sie zog die Beine an den Körper und umschlang sie mit beiden Armen. Das Bild der drei kleinen Mädchen, die mit ihrer Tante rings um den Muscheltisch auf der zu jeder Zeit mit feinem Sandstaub bedeckten Veranda saßen, verblasste nicht. Es war von einer erschreckenden Lebendigkeit, sodass Selma nicht imstande war, es abzuschütteln. Ebenso wenig wie all die anderen Bilder, die sich unweigerlich anschlossen. Maschas doppelte Zahnlücke in der Mitte oben, wegen der sie einen Sommer lang ausschließlich mit zusammengepressten Lippen gelacht hatte. Janes kirschrotes Häkelkleidchen, in dem man sie in den von Heidesträuchern bewachsenen Dünenhügeln auf viele Meter entdeckt hatte. Gitte, die jeden Freitag im Hafen von Havneby geräucherte Makrelen gekauft hatte, mit den Fischhändlern um den Preis gefeilscht und auf dem Weg zurück nach Lakolk das Lied von den Matrosen aus Piräus gesungen hatte.

Selma stieß einen Seufzer aus, erhob sich, verließ den Balkon, schloss die Tür und stieg im Dunkeln die Treppe hinauf. Ihr Nachthemd fühlte sich klamm an.

Endlich schwanden die Erinnerungen, und sie entspannte sich. Ihr Unterbewusstsein war unberechenbar. Es hatte sie nur einwickeln, sie mit Zahnlücken und roten Häkelkleidchen über die hässlichen Streitereien und das unbegreifliche Unglück hinwegtäuschen wollen, an dem die Familie Molander Jahre später zerbrochen war.

Ihr Bett war noch warm. Sie vergrub sich mit angezogenen Knien unter der Decke. Auf der Schwelle des Schlafs drängten die ersten Zeilen des Sternanzünders noch einmal in ihre Gedanken. Doch sie war bereits zu weit hinübergeglitten, als dass ihr Geist sich hätte dagegen stemmen können.

Als der Wecker sie um halb sieben aus dem Schlaf riss, verspürte Selma den unbändigen Wunsch, ihn an die Wand zu werfen. Das Oxazepam wirkte noch. Mehr als drei Stunden hatte sie nicht geschlafen. Sie hatte gewusst, dass sie mit einem Katzenjammer erwachen würde, es war nicht das erste Mal. Schlaftabletten sollten nicht nach Mitternacht eingenommen werden, vielleicht war es ratsam, allmählich damit anzufangen, sich an die Hinweise auf dem Beipackzettel zu halten.

Sie zwang sich dazu, sich aus den Kissen zu schälen, bevor der Schlaf sie erneut überfiel. Pflichtbewusstsein und Disziplin waren schon immer ihre Stärken gewesen. Ihnen war es geschuldet, dass sie vier Jahre lang die Pflege ihrer Mutter hatte übernehmen können, Tag für Tag und Nacht für Nacht. »Du bist die Älteste, ich verlass mich auf dich«, hatte ihr Vater zu ihr gesagt. Mehr Worte hatte er nicht gehabt für sie, keinen Dank, keine Anerkennung, keine Zusage einer Unterstützung. Selma hatte sich gefügt und pflichtschuldig getan, was von ihr verlangt wurde. Nicht nur, weil sie die Älteste war. Sondern weil sie nichts sehnlicher wollte, als ihrem Vater beweisen, dass er sich auf sie verlassen konnte. Und weil sie nicht wusste, womit sie die Schuld, von der bis heute niemand wusste, sonst hätte begleichen sollen.

Nach einer heißen Dusche und zwei Tassen starkem Kaffee begutachtete Selma eine Stunde später ihr Äußeres im Wandspiegel neben der Wohnungstür. Zufrieden stellte sie fest, dass sie eine Meisterin darin war, Schlafmangel, trübe Gedanken und die Folgen ihrer Maßlosigkeit gekonnt zu überschminken. Sie drehte sich etwas zur Seite, ohne den Blick von ihrem Spiegelbild abzuwenden. Ihr gefiel, was sie sah. Die neuen Armani-Jeans saßen einwandfrei, die hochhackigen Boots ließen ihre Beine noch länger wirken, und der schwarze Seidenpullover schmeichelte ihrer schmalen Taille. Die fünfundfünfzig sah man ihr ebenso wenig an wie den Widerstand in ihrem Inneren. Fast hätte Janes Brief sie aus der Bahn geworfen. Aber sie ließ sich nicht beirren. Nichts und niemand würde sie dazu bewegen, sich selbst untreu zu werden und ihre vor zwanzig Jahren getroffene Entscheidung rückgängig zu machen, nur weil ihrer jüngsten Schwester plötzlich einfiel, das Zeitrad anhalten zu wollen. Ein spöttisches Lachen verließ Selmas Lippen. Sie griff nach Mantel, Handtasche und Haustürschlüssel und verließ die Wohnung. Die Arbeit im Laden würde sie ablenken, und bis zum Abend hätte sie diese unnötigen Gedanken vergessen.

All die ungelebten Leben

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