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1.2 Verteilungsgerechtigkeit
ОглавлениеDas soeben dargestellte Argument gewinnt offensichtlich an Stärke, wenn anerkannt wird, dass Staatsgrenzen nicht nur Bürgerinnen und Migrantinnen trennen, sondern oft auch wohlhabende von armen Menschen. Der Gedanke, dass die Zurückweisung von Migrantinnen nicht nur in sich falsch ist, sondern auch, weil sie die distributiven Rechte der Armen dieser Welt untergräbt, bildet die Grundlage für ein weiteres, starkes und wichtiges Argument gegen ein Recht auf Ausschluss. Seine Begründung kann allerdings zwei verschiedene Formen annehmen: Sie kann zum einen auf Überlegungen der wirtschaftlichen Gerechtigkeit, zum anderen auf Überlegungen der Chancengleichheit beruhen.
Das Argument der wirtschaftlichen Gerechtigkeit führt die schlichte Tatsache globaler wirtschaftlicher Ungleichheit an und zeigt, wie verschiedene Arten des Ausschlusses potentieller Migranten durch die reicheren Länder Nordamerikas und Europas dazu tendieren, diese ungleiche Verteilung des globalen Wohlstands zu verstärken. Dieses Argument kann durch Prognosen hinsichtlich möglicher Wohlstandsgewinne durch offene Grenzen weiter verstärkt werden. Wie Michael Clemens gezeigt hat, könnte die Abschaffung staatlicher Grenzen wirtschaftliche Gewinne vom anderthalbfachen Umfang des gegenwärtigen globalen Bruttoinlandsprodukts schaffen.28 Darüber hinaus haben Geldüberweisungen von Migrantinnen, die aus einkommensschwachen in einkommensstarke Länder migriert sind, bedeutende Auswirkungen auf die Entwicklung jener einkommensschwachen Länder; laut Schätzungen ist der Umfang dieser Überweisungen derzeit größer als die weltweiten Aufwendungen für Entwicklungshilfe.29 Der Punkt ist jedoch nicht, dass der Ausschluss von Migrantinnen die Welt ärmer macht als sie sein könnte. Zentral ist vielmehr, dass das Recht auf Ausschluss es den Wohlhabenden effektiv erlaubt, ihren Wohlstand trotz legitimer Gerechtigkeitsansprüche des armen Teils der Weltbevölkerung zu bewahren.30 Darauf bezieht sich Kukathas’ Argument der Renten und Carens’ Argument des Feudalismus – wir meinen, dass die Wohlhabenden dieser Welt eine bessere Rechtfertigung für ihren Reichtum anführen können sollten als bloßes Glück. Mehr als die meisten anderen Philosophen fügt Philip Cole alldem den Gedanken hinzu, dass unsere gemeinsame Erfahrung globaler Ungleichheit auch eine gemeinsame Geschichte kolonialer Gewalt und kolonialen Grauens widerspiegelt. Es ist demnach nicht bloß so, dass wir die Armut derjenigen verstetigen, die das Pech hatten, in einem Entwicklungsland geboren worden zu sein. Vielmehr setzen wir bis zum heutigen Tag eben jene koloniale Ausbeutung fort, die ursprünglich bestimmt hat, welches Land sich entwickeln konnte und welches nicht.
Der zweite Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit, den ich diskutieren möchte, ist das Prinzip der Chancengleichheit. Wir sind überzeugt davon, dass Chancengleichheit innerhalb von Staaten ein zentraler Wert ist – wie John Rawls in seinen eigenen Ausführungen zur Gerechtigkeit feststellt, wäre eine Gesellschaft ungerecht, in der es keine zuverlässige Gewährleistung der Chancengleichheit gibt. Allerdings schaffen Staatsgrenzen eine Welt radikal ungleicher Chancen, indem sie Menschen daran hindern, an den Ort ihrer Wahl zu gelangen. Diese Version des Arguments könnte unter der Überschrift „Gleiche Freiheit“ diskutiert werden, wie etwa bei Kieran Oberman, oder schlicht als ein weiterer Fall ungleicher Chancen. Laut Carens ist der springende Punkt in diesem Fall jedoch, dass wir jeden Tag Zwangsgewalt einsetzen, um Menschen davon abzuhalten, ein besseres Leben für sich und ihre Familien aufzubauen. Oberman betont diesen Punkt besonders nachdrücklich: Ihm zufolge schulden wir Menschen nicht bloß einen adäquaten Umfang an Möglichkeiten zur Gestaltung des eigenen Lebens, sondern den größtmöglichen. Da es laut Oberman für Personen von essentiellem Interesse ist, am Ort ihrer Wahl ein Leben gemäß ihrer Wertvorstellungen aufzubauen, wäre es folglich allein globale Bewegungsfreiheit, die mit der von uns vorgeblich hochgeschätzten liberalen Vorstellung von Gerechtigkeit kompatibel ist.