Читать книгу Zwischen Gerechtigkeit und Gnade - Michael Blake - Страница 14
1.4 Zwangsgewalt
ОглавлениеDas letzte von mir betrachtete Argumentationsmuster ist das Argument der Zwangsgewalt. Viele liberale Theoretikerinnen vertreten die Position, dass Personen bestimmte Rechte gegenüber Institutionen haben, die dazu befugt sind, Zwang über sie auszuüben. Insbesondere neigen wir zu der Annahme, dass die durch eine Institution Gezwungenen besonders starke Rechte auf eine Rechtfertigung der Politik und der Praktiken jener Institution haben; und dass bei dieser Rechtfertigung Personen, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden, auch als gleichwertig betrachtet werden sollten. Diese Idee habe ich bereits an anderer Stelle verteidigt.36 Im Kontext der Migration gewinnt sie ihre Bedeutung aufgrund der simplen Tatsache, dass Staatsgrenzen, wie Carens schreibt, üblicherweise von Menschen mit Schusswaffen bewacht werden.37 Die Ausschlusspraxis, von der wir hier sprechen, ist keine bloße Abstraktion, sondern, einfach gesagt, sowohl potentiell, als auch viel zu oft tatsächlich, gewaltsam. Der Umstand, dass Staatsgrenzen regelmäßig mit dem Einsatz von Zwangsgewalt einhergehen, sollte uns veranlassen, darüber nachzudenken, durch welche Art von Garantien gegenüber den betroffenen Personen diese Form von Zwang potentiell legitimiert werden kann.38 Arash Abizadeh hat argumentiert, dass die soeben beschriebenen Tatsachen ausreichen würden, um neue internationale Institutionen mit Entscheidungskompetenzen hinsichtlich der Migrationspolitik einzelner Länder auszustatten; ihm zufolge gibt es kein einseitiges Recht, ungewollte Immigrantinnen auszuschließen.39 Carens äußert ähnliche Gedanken, wenn er die bedeutenden Effekte der Ausschlusspraktiken für das Leben der gewaltsam ausgeschlossenen Personen beschreibt:
„Es ist schwer vorstellbar, dass es eine Form staatlichen Zwangs jenseits der Haft gibt, die tiefgreifendere Auswirkungen auf das Leben einer Person hat, als die Verweigerung der Einreise. Mit ihr gehen gewaltige Folgen hinsichtlich der Lebensentscheidungen einher, die eine Person im Anschluss noch treffen kann […] für viele Menschen hat selbst die fortdauernde Präsenz staatlicher Macht in ihrem Alltag keinen solch durchdringenden Einfluss auf ihr Leben wie die ursprüngliche Bestimmung darüber, wo sie hingehören und wo sie leben dürfen – oder nicht dürfen.“40
Für Carens sind in diesen Fällen die Auswirkungen staatlicher Zwangsgewalt auf die von ihr betroffenen Personen so schwerwiegend, dass wir meinen sollten, eine angemessene Rechtfertigung könnte kaum gegeben werden. Um es kurz zu machen: Ein liberaler Staat muss seinen eigenen Überzeugungen gerecht werden. Im Falle eines der Zwangsgewalt an der Grenze unterworfenen, potentiellen Immigranten scheint eine Rechtfertigung jedoch nicht vorhanden zu sein. Demnach ist seine Zurückweisung als ungerecht zu bezeichnen und das angebliche Recht eines Staates auf den Ausschluss ungebetener Migrantinnen muss als Illusion begriffen werden.