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1.1 Willkürlichkeit

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Eine Möglichkeit, für offene Grenzen zu argumentieren, beruht schlicht auf dem, was bereits weiter oben erwähnt wurde: Grenzen sind demnach unter moralischen Gesichtspunkten willkürlich, da sie im Allgemeinen eher die gemeinsame Vergangenheit kolonialer Gewalt denn irgendetwas von moralischer Bedeutung repräsentieren. Sie sind selbstverständlich auch in der Hinsicht willkürlich, dass niemand behaupten könnte, er habe es in irgendeinem bedeutsamen Sinne verdient, auf der begünstigten Seite einer Grenze geboren worden zu sein. Das weiter oben angeführte Zitat von Chandran-Kukathas stellt einen Ausdruck dieses Gedankens dar: Wenn es den derzeitigen Einwohnerinnen eines Ortes erlaubt ist, ungebetene Immigrantinnen auszuschließen, fungiert der Zufall des Geburtsortes als Grundprinzip der Verteilung von Rechten. Joseph Carens’ frühes Werk zu diesem Thema zieht eine Parallele zwischen der Staatsbürgerschaft in einem reichen, attraktiven Staat und den Privilegien, die im Feudalismus mit der Geburt verbunden waren: „ein vererbter Status, der die Lebenschancen massiv verbessert.“26 Das Argument der Willkürlichkeit hängt jedoch nicht von materiellen Ungleichheiten ab oder davon, dass ein Staat wohlhabender als andere Staaten ist. Diesem Argument zufolge genügt bereits die Tatsache willkürlicher Unterschiede in der Verteilung von Rechten – Ihnen ist es aufgrund ihres Geburtsortes oder ihrer Eltern erlaubt, in Deutschland zu leben, mir nicht – um die Überzeugung zu rechtfertigen, dass Ausschluss ungerecht sei.

Carens ist nicht allein mit dem Gedanken, dass bereits die Willkürlichkeit von Staatsgrenzen den Ausschluss von Migrantinnen als ungerecht ausweist. Philip Cole argumentiert auf ganz ähnliche Weise, dass Liberale nicht meinen können, das Recht auf Ausschluss stünde im Einklang mit der liberalen Vorstellung von Gerechtigkeit. Cole geht sogar insofern weiter als Carens, als dass er meint, die Willkürlichkeit von Staatsgrenzen könnte uns dazu zwingen, die Vorstellung liberaler Gerechtigkeit an sich zu überdenken:

„Wie wir sehen werden, geben viele Autoren zu, dass der Liberalismus exklusive Mitgliedschaften prinzipiell und Einschränkungen der Einwanderung praktisch ablehnen sollte, und zwar aufgrund seiner Verpflichtung gegenüber der moralischen Gleichwertigkeit aller Menschen als solche und der daraus resultierenden Abscheu gegenüber willkürlichen Unterscheidungen zwischen ihnen. Aber angesichts dieses Eingeständnisses fahren sie damit fort, eine Rechtfertigung für den Ausschluss von Migrantinnen zu suchen, oftmals auf der Basis des Gedankens, dass es möglich sein muss, eine von liberal-demokratischen Staaten so weitgehend akzeptierte Praxis zu rechtfertigen. Aber wie wir sehen werden, stellt ein solches Unterfangen die liberale Theorie vor besondere Probleme. Der Zweck dieses Buches ist es, diese Probleme zu untersuchen.“27

Coles Analyse zufolge begründet die Willkürlichkeit von Staatsgrenzen den Schluss, dass die Praxis staatlichen Ausschlusses ungerechtfertigt ist. Die Tatsache, dass wir nicht bereit sind, diesen Schluss zu akzeptieren, ist für Cole Beweis dafür, dass wir vielleicht eher einer neuen Form der Debatte bedürfen – nicht nur über Grenzen, sondern über politische Gerechtigkeit im weiteren Sinne.

Zwischen Gerechtigkeit und Gnade

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