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Gerechtigkeit und die Ausgeschlossenen, Teil 1: Offene Grenzen

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Unsere öffentliche Debatte über Migration ist zunächst einmal eine Debatte über Ethik. Der Gedanke, dass bestimmte Formen der Migration ungerecht, also unfair, sind, zieht sich als roter Faden durch den jüngeren politischen Diskurs. Um ein prominentes Beispiel zu nennen: Der Wahlkampf Donald Trumps im Jahr 2016 begann mit seiner Behauptung, dass unter den mexikanischen Immigranten Vergewaltiger, Drogenschmuggler und ganz allgemein „bad hombres“ seien.1 Sein zentrales Wahlkampfversprechen – die Errichtung einer von Mexiko bezahlten Mauer entlang der Grenze zwischen den USA und ihrem südlichen Nachbarstaat – wurde mitunter mit der Behauptung gerechtfertigt, dass die mexikanischen Einwanderer auf unfaire Weise die Arbeitsplätze amerikanischer Arbeitnehmer klauen würden. Trumps Antrittsrede verdeutlichte diesen moralischen Unterton:

„Von diesem Moment an heißt es America First. Jede Entscheidung über Handel, Steuern, Einwanderung oder Außenpolitik wird zum Vorteil amerikanischer Arbeiter und Familien getroffen. Wir müssen unsere Grenzen vor den Verwüstungen durch andere Länder schützen, die unsere Produkte herstellen, unsere Unternehmen klauen und unsere Arbeitsplätze zerstören. […] Wir werden uns unsere Arbeitsplätze zurückholen. Wir werden uns unsere Grenzen zurückholen. Wir werden uns unseren Wohlstand zurückholen.“2

Trumps Analyse ist in ihrem Kern moralisch: Die derzeitige globale Ordnung ist unfair. Es ist unfair, dass Immigrantinnen die Arbeitsplätze und den Wohlstand der derzeitigen Einwohner der Vereinigten Staaten an sich nehmen dürfen. Ich denke, dass Trumps Idee von Eigentum am besten als eine bestimmte Form moralischen Anspruchs interpretiert werden kann: Diese Arbeitsplätze und dieser Wohlstand sind berechtigterweise das Eigentum der amerikanischen Bürger. Trump gewann die Präsidentschaftswahlen teilweise auch dadurch, dass er Hillary Clinton als „globalist“ darstellte, die aufgrund mangelnder Liebe zu Amerika dazu bereit war, diese gegenüber den Amerikanerinnen unfairen Verhältnisse zu billigen. Ob wir uns nun angesprochen fühlen von solch einem Populismus oder nicht – und es sollte deutlich werden, dass dies in meinem Falle nicht zutrifft –, so stellt er doch eine bestimmte Vorstellung davon dar, wie Gerechtigkeit in Bezug auf Migration hergestellt werden könnte: Die Vereinigten Staaten müssen ungebetene Immigrantinnen ausschließen, denn alles andere wäre unfair.

Wie diese Position beruht auch die Perspektive der Gegenseite auf einer bestimmten Vorstellung von Gerechtigkeit. Große Teile des politischen Widerstands gegen die Politik der Trump-Administration fußen auf dem Gedanken, dass bestimmte Maßnahmen zur Durchsetzung der Migrationspolitik unfair sind. Der rhetorische Slogan Kein Mensch ist illegal verweist beispielsweise darauf, dass bereits die Sprache, mit der wir Personen ohne Aufenthaltspapiere bezeichnen, ausgrenzend und entmenschlichend und somit unfair sein kann.3 Auch auf einer praktischeren Ebene hat die Linke in den USA ihren Widerstand gegen bestimmte Methoden und Zwecke des Ausschlusses unter Verweis auf moralische Gründe gerechtfertigt. Sowohl Bürgerinnen als auch Bundesstaaten haben sich in rechtlichen Auseinandersetzungen gegen den sogenannten travel ban, das Einreiseverbot der Trump-Administration engagiert, dessen Zweck es war, die Migration aus bestimmen Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit zu unterbinden. Ein gegen dieses Verbot gerichteter Brief argumentierte, dass es sich hierbei um Diskriminierung und somit um unfaire Maßnahmen handele.4 Die wiederauflebende Sanctuary-Bewegung5 vertrat die Meinung, dass Städte und Individuen den mit Abschiebungen beauftragten Beamten der Immigration and Customs Enforcement (ICE) die Unterstützung verweigern sollten, andernfalls würden sie sich, so ein Gründer der Bewegung, „der Ungerechtigkeit mitschuldig“ machen.6 Darüber hinaus haben undokumentierte Amerikanerinnen begonnen, zu argumentieren, dass der Status als Undokumentierte mit einer Form sozialer Ausgrenzung einhergehen kann, die in ihren negativen Konsequenzen der historischen Marginalisierung von Amerikanerinnen afrikanischer Abstammung gleichkommt. Jim Crow hat sich in Juan Crow verwandelt – und den Aktivistinnen zufolge sollten undokumentierte Amerikanerinnen, die bereit sind, für soziale Gleichheit einzustehen, gegen diese Entwicklung Widerstand leisten.7 Auch diese Argumente gründen auf einer Vorstellung von Gerechtigkeit. Sie bestehen darauf, dass manche Formen der Exklusion unfair und daher ungerecht sind. Die Vereinigten Staaten müssten demnach diejenigen Exklusionspraktiken abschaffen, die eine solche Ungerechtigkeit sowohl produzieren als auch dulden.

Ich möchte anmerken, dass nichts von all dem allein auf den politischen Diskurs in den Vereinigten Staaten zutrifft. So sind große Teile der europäischen Politik von ähnlichen Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen im Bereich der Migration bestimmt. In Deutschland hat sich das Problem der Offenheit gegenüber syrischen Flüchtlingen zu einem zentralen Konfliktpunkt zwischen Angela Merkels Christdemokraten und populistischen Bewegungen wie der Alternative für Deutschland entwickelt. In Italien gelangten zwei populistische Parteien – die Fünf-Sterne-Bewegung und die Lega – größtenteils durch die Ablehnung von Einwanderung an die Macht. Eine der ersten Handlungen dieser Koalition bestand darin, ein Boot zurückzuweisen, das 629 Asylsuchende vor dem Ertrinken gerettet hatte.8 Wiederum nichts von all dem trifft allein auf Europa zu. Populistische Bewegungen sind in solch unterschiedlichen Gesellschaften wie Brasilien, Zimbabwe oder Myanmar entstanden und auch dort beruht ihr Machtgewinn zum Teil auf der Verurteilung gegenwärtiger Migrationsbewegungen als ungerecht.9

In öffentlichen Auseinandersetzungen über Migration findet sich häufig ein bestimmtes Muster moralischer Argumentation: Was die jeweils andere Seite vorschlägt, ist ungerecht, und zwar deshalb, weil eine bestimmte Gruppe von Menschen dadurch unfair behandelt würde. Trotz dieser strukturellen Ähnlichkeiten gelangen die verschiedenen Argumentationslinien offensichtlich zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Sie unterstützen jeweils radikal unterschiedliche Bündel von Migrationsrechten und entwerfen radikal unterschiedliche Visionen für die jeweilige politische Gemeinschaft. Aber diese so verschiedenartigen Schlussfolgerungen beruhen auf ähnlichen konzeptionellen Grundlagen. Es ist daher wenig überraschend, dass diese Argumente, wie David Miller es ausgedrückt hat, oft mehr Aufregung denn Aufklärung mit sich bringen.10 Der Unterschied zwischen der Seite, die ein Recht auf Ausschluss rechtfertigt und derjenigen, die eine solche Position als illiberal brandmarkt, verweist nicht auf gänzlich verschiedene moralische Standpunkte, sondern auf subtilere Unterschiede in der Anwendung gleicher moralischer Werte.

Die öffentliche Debatte zum Thema Migration neigt hingegen eher selten zur Subtilität. Einwanderung hat sich in den vergangenen Jahren zu einem der hitzigsten – wenn nicht gar explosivsten – Themen unserer gemeinsamen öffentlichen Diskussion entwickelt. Wir sind, um es vereinfacht auszudrücken, sehr gut darin, aneinander vorbei zu argumentieren. Wir können zeigen, wie unsere eigene Vorstellung von Fairness und Gerechtigkeit die von uns getroffenen Entscheidungen darüber rechtfertigt, wer welche Rechte auf Einlass in unsere politische Gemeinschaft hat. Wir sind zugleich ebenso gut darin, diejenigen zu dämonisieren und zu verurteilen, die nicht unserer Meinung sind. Auf der anderen Seite sind wir allerdings ziemlich schlecht darin, eine offene und sorgfältige Diskussion darüber zu führen, was berechtigterweise gegen unsere Vorstellung von Fairness vorgebracht werden könnte oder darüber, was wir erwidern könnten, um unsere Vorstellung gegenüber gegensätzlichen Ideen von Fairness zu verteidigen.

Was kann die politische Philosophie angesichts dieser Verhältnisse anbieten? Es ist unwahrscheinlich, dass sie so etwas wie einen Konsens über das Verhältnis von Gerechtigkeit und Migration hervorbringt. Uneinigkeit ist eine unvermeidliche Folge von Freiheit und wir sollten Einstimmigkeit zu allerletzt bei solch komplexen und hitzigen Themen wie der Migration erwarten. Aber die Philosophie könnte uns zumindest Werkzeuge anbieten, um unsere Uneinigkeit besser zu verstehen. Sie kann uns mitunter etwas Klarheit über die Konzepte und Ideen verschaffen, die unserem gemeinsamen Diskurs über Gerechtigkeit im Hinblick auf Migration zugrunde liegen und uns somit einen Weg nach vorne weisen – und wenn schon nicht zur Einstimmigkeit, so mag uns dieser zumindest zu so etwas wie gegenseitigem Respekt führen. Präzision im Hinblick darauf, wie wir Ideen und Begriffen nutzen, könnte unsere Debatten über Gerechtigkeit weniger feindselig gestalten, und sei es allein durch den Zwang, genau darzulegen, wie wir – und diejenigen, die uns widersprechen – das Wesen der von uns vorgebrachten Behauptungen verstehen.

Wie also können wir den Begriff der Gerechtigkeit verstehen? In diesem Buch werde ich auf John Rawls’ Überlegungen zurückgreifen, für den Gerechtigkeit die „erste Tugend“ sozialer Institutionen, und somit auch politischer Staaten, darstellte.11 Nach Rawls handelt es sich bei der Gerechtigkeit um einen formalen Begriff (concept of justice), der im Einklang mit einer Vielzahl möglicher Gerechtigkeitsvorstellungen (conceptions of justice) interpretiert werden kann, wobei jede dieser Vorstellungen sozusagen im Detail ausführt, wie der formale Begriff der Gerechtigkeit zu verstehen und anzuwenden ist. Für den Anfang genügt jedoch der formale Begriff, um zu verstehen, wie die Idee der Gerechtigkeit im Falle der Migration spezifischer gefasst werden könnte:

„Man kann sich also natürlicherweise neben den verschiedenen Gerechtigkeitsvorstellungen einen Gerechtigkeitsbegriff denken, der aus der ihnen gemeinsamen Rolle besteht. Menschen mit verschiedenen Gerechtigkeitsvorstellungen können sich also immer noch darin einig sein, daß Institutionen gerecht sind, wenn bei der Zuweisung von Grundrechten und -pflichten keine willkürlichen Unterschiede zwischen Menschen gemacht werden, und wenn die Regeln einen sinnvollen Ausgleich zwischen konkurrierenden Ansprüchen zum Wohle des gesellschaftlichen Lebens herstellen.“12

Dieser Begriff wird in Rawls’ eigenem Werk auf die Grundstruktur einer Gesellschaft angewendet. Diese regelt ihm zufolge „wie die wichtigsten sozialen Institutionen Grundrechte und -pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen.“ Nach diesem Verständnis ist Gerechtigkeit der bedeutendste moralische Aspekt einer politischen Gesellschaft und zwar derart, dass keine andere Tugend Vorrang vor dem Wert der Gerechtigkeit hat; folglich kann ein ungerechtes System von Institutionen nicht durch die Erfüllung anderer politischer Tugenden gerechtfertigt werden.

All das ist Kennern der modernen politischen Philosophie wohlvertraut. Es gibt allerdings drei Aspekte, die ich an dieser Stelle hervorheben möchte. Der erste ist der, dass die Idee der Gerechtigkeit Stringenz hinsichtlich ihrer Anwendung verlangt. Durch die Bezeichnung der Gerechtigkeit als erste Tugend sozialer Institutionen betont Rawls die Idee, dass aufseiten derjenigen, die unter Ungerechtigkeit leiden, starke Ansprüche bestehen. Die Idee der Gerechtigkeit begründet also bestimmte und besonders starke Ansprüche auf die Korrektur ungerechter Verhältnisse. Der zweite Aspekt, den ich hervorheben möchte, besteht in der Beziehung der Gerechtigkeit zur Idee der Gleichheit. Ungerechtigkeit bedeutet demnach Ungleichheit hinsichtlich eines bestimmten Lebensbereichs; tatsächlich kann es als eine Tatsache im Begriff der Gerechtigkeit betrachtet werden, dass sie bestimmte Aspekte von Personen benennt, in Hinsicht auf die diese Personen das Recht haben, als moralisch gleichwertig behandelt zu werden.13 Rawls’ Verwendung des Konzepts der Willkür gibt diese Vorstellung von Gleichheit wieder: Wenn verschiedene Individuen den sozialen Institutionen in einer ähnlichen Situation gegenüberstehen, ist es ungerecht, wenn diese sozialen Institutionen sie aufgrund eines willkürlich bestimmten Fakts unterschiedlich behandeln. Zuletzt möchte ich den institutionellen Aspekt der Gerechtigkeit hervorheben. Die Sprache der Gerechtigkeit ist umfassend: Wir können Individuen wie auch persönliche Verpflichtungen oder persönliche Beziehungen als gerecht oder ungerecht bezeichnen. Die besondere Form der Gerechtigkeit, von der Rawls spricht, bezieht sich hingegen auf Menschen, die durch soziale – allgemeiner: politische – Institutionen verbunden sind.

Wie aber kann uns dieses weite Verständnis von Gerechtigkeit dabei helfen, zu verstehen, welche Formen sozialer Institutionen zu Recht als ungerecht verurteilt werden können? Wie bereits erwähnt, argumentiert Rawls, dass wir eine bestimmte Vorstellung der Gerechtigkeit entwickeln müssen, um zu verstehen, wie wir die abstrakten Bestimmungen des formalen Begriffs der Gerechtigkeit interpretieren und anwenden sollen. Für die Entwicklung einer solchen Vorstellung werden uns jedoch ein paar Hinweise gegeben. Es gibt einige provisorische Orientierungspunkte, die uns dabei helfen, die Sprache der Gerechtigkeit auf die Welt der Politik anzuwenden. Rawls folgt dabei der Logik Abraham Lincolns, der anmerkte, dass der Begriff der Ungerechtigkeit jeglichen Sinn verlieren würde, könnte mit ihr nicht die Sklaverei als ungerecht verurteilt werden.14 Mit Blick auf unsere jüngere Geschichte könnten wir ähnliche Dinge über die Muster der Marginalisierung und Ausgrenzung in den Vereinigten Staaten zu Zeiten von Jim Crow sagen: In den USA zur Zeit der Rassentrennung wurden rechtlich im Prinzip gleichgestellten Personen völlig ungleiche Anteile an politischer Macht, materiellen Ressourcen und öffentlichem Respekt zuteil. Wie im Falle der Sklaverei könnten wir sagen: Sollten diese Verhältnisse nicht als ungerecht gelten, wie könnten wir irgendetwas als ungerecht bezeichnen? Es gibt keinen legitimen Grund zu glauben, dass eine solche Art von Ungleichheit mit Gerechtigkeit in Einklang zu bringen sei und jede Vorstellung der Gerechtigkeit, die Jim Crow als gerecht bezeichnet, könnte allein aufgrund dieser Tatsache zu Recht als ungerecht zurückgewiesen werden.

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf stellt sich die Frage, wie der abstrakte Begriff der Gerechtigkeit uns im Hinblick auf bestimmte Formen der Migration und der Migrationspolitik weiterhelfen könnte. Gibt es möglicherweise auch hier Schlussfolgerungen, die so eindeutig richtig sind, dass sie uns als Maßstab für die Bewertung von Gerechtigkeitsvorstellungen im Bereich der Migration dienen könnten?

Es fällt schwer, anzunehmen, dass es irgendetwas im Bereich der Migrationspolitik gibt, das nicht durch irgendwen abgelehnt wird. Ich glaube jedoch, dass es einige Schlussfolgerungen gibt, die bloß schwerlich von irgendwem zurückgewiesen werden könnten, der behauptet, den Werten moralischer Gleichheit verpflichtet zu sein, die dem in diesem Buch verwendeten Begriff der Gerechtigkeit zugrunde liegen. Demzufolge gibt es tatsächlich einige Möglichkeiten, bestimmte Formen der Migrationspolitik als im gleichen Maße ungerecht – also tatsächlich eindeutig ungerecht – zu bezeichnen wie die Verhältnisse zu Zeiten von Jim Crow. Sollte dies zutreffen, müsste jede Vorstellung von Migrationsgerechtigkeit entweder diese Schlussfolgerungen anerkennen oder mit einer recht wagemutigen Geschichte darüber aufwarten, warum sie dazu nicht verpflichtet ist; und ich kann mir nicht einmal ausmalen, wie eine solche Geschichte aussehen sollte.

Der erste Orientierungspunkt bezieht sich auf die Idee der Gleichheit von Bürgerinnen gegenüber dem Staat. Migrationspolitik betrifft demnach nicht bloß diejenigen außerhalb der Grenzen; wie diese Politik wahrgenommen und durchgesetzt wird kann durchaus auch die Gleichheit derjenigen einschränken, die selbst keine Migrantinnen sind. Denken Sie beispielsweise daran, wie die Rassifizierung des Migrationsrechts das öffentliche Leben für Bürgerinnen lateinamerikanischer und nicht-lateinamerikanischer Herkunft beeinflussen kann. So schafften beispielsweise die von Sheriff Joe Arpaio angewendeten Praktiken zur Durchsetzung des Migrationsrechts ein Klima der Angst und Einschüchterung unter den Bürgerinnen lateinamerikanischer Herkunft von Phoenix, und zwar ganz unabhängig von ihrem aufenthaltsrechtlichen Status: Arpaio schikanierte mit seinen Kontrollen regelmäßig Autofahrerinnen und Autofahrer lateinamerikanischer Herkunft und richtete sogar eine Task Force zu dem Zwecke ein, undokumentierte Einwanderer aufzuspüren und zu bestrafen, was schließlich dazu führte, dass die betroffenen Bürgerinnen in den einfachsten Verrichtungen ihres Alltags eingeschränkt wurden.15 Die soziale Funktion der wiederholten Erfahrung solcher Maßnahmen besteht letztlich in der Marginalisierung und Disziplinierung aller Einwohnerinnen, die aus Lateinamerika stammen. Amy Reed-Sandoval bezeichnet die Maßnahmen von Arpaios Beamten berechtigterweise als ein Schauspiel der Ungleichheit, durch das die Betroffenen an ihren untergeordneten und marginalisierten Status erinnert werden sollen.16 Eine Theorie der Gerechtigkeit der Migration wird daher anerkennen müssen, dass bestimmte Ausschluss- und Durchsetzungsformen zu Ungleichheiten zwischen Bürgerinnen führen können und diejenigen Ungleichheiten zwischen Bürgerinnen, die innerstaatlich als Ausweis für Ungerechtigkeit gelten, werden auf ähnliche Weise auch im Hinblick auf die Bewertung der Migrationspolitik als Maßstab dienen können.

Der zweite Orientierungspunkt bezieht sich auf den Gedanken, dass es Bereiche geben kann, in denen Nicht-Bürgerinnen einen Anspruch darauf haben, vor dem Gesetz ebenso behandelt zu werden wie Bürgerinnen. Wie ausgedehnt diese Bereiche sind, ist selbstredend Gegenstand kontroverser Diskussionen. So dient die Beschwörung der „Illegalität“ beispielsweise oft dem Zweck, die Inanspruchnahme von Rechten durch Migrantinnen prinzipiell zu diskreditieren. (Der rechte Slogan What part of illegal dont‘t you understand? versucht gar, undokumentierten Migrantinnen unter Verweis auf ihren fehlenden legalen Aufenthaltstitel jeglichen moralischen Status abzusprechen.) Aber diese Beschwörung der Illegalität scheint nicht wirklich stark genug, um den Gedanken zu widerlegen, dass es Bereiche gibt, in denen selbst diejenigen außerhalb des Staatsgebiets – oder diejenigen, die ohne Recht innerhalb des Staates anwesend sind – das Recht auf die gleiche Behandlung wie Bürgerinnen haben. Ein einfaches Beispiel ist sicherlich der Schutz durch die Polizei: Unrechtmäßig in den USA lebende Personen sind zwar stets von Abschiebung bedroht, verlieren hierdurch jedoch nicht ihr Recht auf den Schutz vor Mord oder Raub.17 Ein anderes Beispiel ist der Fall von Kindern, deren unrechtmäßige Präsenz korrekterweise als Ergebnis der Handlungen ihrer Eltern verstanden wird und nicht als Resultat einer Handlung der Kinder. Der Supreme Court bemerkte in Plyler v. Doe, dass sich daraus auch für diejenigen ein Recht auf Grundschulbildung ableitet, die sich ohne Aufenthaltsrecht in den USA aufhalten:

„Zumindest sollten diejenigen, die unser Staatsgebiet insgeheim und unter Verletzung unseres Gesetzes betreten, darauf gefasst sein, die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen, darunter, wenn auch nicht allein, die Abschiebung. Allerdings trifft dies auf die Kinder dieser illegal eingereisten Personen nicht auf gleiche Weise zu. Ihre Eltern können das eigene Verhalten den geltenden sozialen Regeln anpassen und es ist anzunehmen, dass sie das Hoheitsgebiet des jeweiligen Bundesstaates auch wieder verlassen können; aber die Kinder, die im vorliegenden Fall die Klägerinnen sind, können weder das Verhalten ihrer Eltern noch ihre eigene Lage beeinflussen. Selbst wenn der Bundesstaat es als angebracht ansehen sollte, das Verhalten der Eltern durch Handlungen gegen deren Kinder zu beeinflussen, steht eine Gesetzgebung, welche die Folgen elterlicher Verfehlungen gegen deren Kinder wendet, im Widerspruch zu fundamentalen Vorstellungen der Gerechtigkeit.“18

Mit anderen Worten: Es gibt einige eindeutige Fälle, in denen Immigrantinnen durch eine Bestrafung ungerecht behandelt werden, selbst dann, wenn im Einzelfall kein Recht auf einen Aufenthalt in dem Land besteht, das diese Strafe aussprechen möchte. Dem Supreme Court zufolge gibt es also Maßnahmen, die wir nicht nutzen dürfen, selbst wenn sie ein effektives Mittel zur Prävention unerlaubter Einwanderung wären. Die jüngsten Anstrengungen der Trump-Administration, die Kinder von Immigrantinnen direkt an der Grenze von ihren Eltern zu trennen, scheinen diesen moralischen Punkt zu missachten: Kinder werden unfair behandelt, wenn sie zu Unrecht für die Handlungen ihrer Eltern verantwortlich gemacht werden und ihnen die Fürsorge durch ihre Eltern verweigert wird – und es ist ungerecht, sowohl diesen Kinder, als auch ihren Eltern gegenüber, sie diesem Leid auszusetzen.

Der letzte Orientierungspunkt, den ich hervorheben möchte, ist womöglich der wichtigste: Es gibt Personen, in deren Fall die meisten von uns glauben, dass ein Recht auf Einwanderung besteht. Der gegenwärtige Rechtsbegriff des Flüchtlings entwickelte sich aus dem Grauen des Zweiten Weltkriegs und der daran anschließenden Scham vieler Staaten über die Zurückweisung derjenigen, die den mörderischen Intentionen des Nazi-Regimes zu entfliehen versucht hatten.19 Wir können und sollten uns fragen, wer genau zum Schutz unter dem Abkommen berechtigt ist, das die Grundlage des internationalen Flüchtlingsrechts bildet; ich werde diese Frage in Kapitel sieben behandeln. Aber ich denke, die Abscheu gegenüber der Entscheidung der Vereinigten Staaten, die Flüchtlinge der St. Louis zurückzuweisen, sollte uns in diesem Fall eine Lehre sein.20 Bestimmte Gruppen von Menschen haben gewiss das Recht, vor bestimmten Formen von Grausamkeit und Übeln geschützt zu werden und eine Theorie der Gerechtigkeit der Migration, die diese Tatsache nicht anerkennen möchte, wäre bereits alleine aufgrund dieses Mangels abzulehnen. Der Flüchtling hat ein Recht auf Zuflucht und wir können sagen, dass die Verweigerung dieses Recht einer unfairen Behandlung gleichkommt – die Sprache der Gerechtigkeit erlaubt es uns, einen solchen Anspruch festzustellen.

Diese Orientierungspunkte setzen unserer Diskussion über die Gerechtigkeit der Migration also einige Schranken. Allerdings bieten sie uns nicht viel. Wir benötigen noch mehr Orientierungshilfen, um die abstrakte Idee der Gerechtigkeit auf das Gebiet der Migration anwenden zu können. Denn was ich bisher dargelegt habe, bietet uns zwar einige Überlegungen hinsichtlich dessen, was wir nicht sagen können – es bietet uns allerdings sehr wenig hinsichtlich der Bestimmung dessen, was wir sagen könnten.

Ein Großteil dieses Buches wird versuchen, eine bestimmte Vorstellung der Gerechtigkeit für den Bereich der Migration zu entwickeln. Mit ihr soll zugleich ein Ansatz ausgearbeitet werden, um die Freiheiten von Staaten im Hinblick darauf zu bestimmen, welche Migrantinnen sie einlassen oder aber ausschließen dürfen. Diese Vorstellung zu entwickeln bildet den Gegenstand der folgenden drei Kapitel. Beginnen möchte ich die Aufgabe in diesem Kapitel jedoch damit, dass ich zunächst diejenigen Theorien der Gerechtigkeit der Migration untersuche – und schließlich widerlege –, die gegen jegliches Recht auf Ausschluss ungebetener Migrantinnen argumentieren. Für diese Theoretikerinnen, die oftmals als Verteidiger offener Grenzen bezeichnet werden, gleicht der Versuch, ein gerechtes System des Ausschlusses zu entwickeln, dem Vorhaben, ein gerechtes System der Rassentrennung auszuarbeiten: Ein solches Vorhaben ist zwar nicht hoffnungslos, aber so etwas wie ein Widerspruch in sich.

Die theoretischen Verteidiger offener Grenzen vertreten die extreme Version einer Seite der bereits weiter oben dargestellten Dialektik. Viele der Menschen, die davon abgestoßen waren, wie die Trump-Administration Immigrantinnen behandelt, haben versucht, diese als rassistisch und völkisch wahrgenommene Migrationspolitik zurückzuweisen. Nicht alle von ihnen glauben, dass Grenzen offen sein sollten. Viele sind einfach der Meinung, dass die Trump-Administration die Grenzen auf falsche Art und gegenüber den falschen Menschen schließt. Der Glaube, dass es Beschränkungen dessen gibt, wie der Staat an seinen Grenzen handeln darf, ist nicht identisch mit dem Gedanken, dass diese Grenzen offen sein sollten – obwohl die Trump-Administration oft versucht hat, jeglichen Widerstand gegenüber ihren migrationspolitischen Maßnahmen als Verteidigung offener Grenzen darzustellen. Die Befürwortung offener Grenzen ist also nicht die einzige Möglichkeit, dem populistischen Ansatz der Migrationspolitik etwas entgegenzusetzen. Tatsächlich findet sich gegenwärtig kaum ein politischer Akteur, der bereit wäre, die Möglichkeit offener Grenzen zu verteidigen. Nichtsdestotrotz ist der Gedanke, dass Staaten niemanden zu Recht ausschließen können, eine genauere Betrachtung wert. Sollte diese Idee erfolgreich verteidigt werden können, hätten wir gute Gründe, die scheinbar unvermeidlichen Einwanderungskontrollen infrage zu stellen. Wie Joseph Carens bemerkt, sollten wir uns nicht von der Tatsache abschrecken lassen, dass uns offene Grenzen in der gegenwärtigen Welt als unmöglich erscheinen, denn eine Welt ohne Sklaverei erschien einstmals ebenso fantastisch.

Wo aber sollten wir mit der Verteidigung des Gedankens, dass Grenzen offen sein sollten, beginnen? In meinen Augen sollten wir uns durch den Begriff der Gerechtigkeit selbst inspirieren lassen. Laut Rawls verträgt sich Gerechtigkeit nicht mit willkürlichen Unterscheidungen, insbesondere dann nicht, wenn dadurch die grundlegenden Rechte und der materielle Besitz einzelner Personen betroffen sind. Wir könnten also meinen, dass die Praxis des Ausschlusses in beiden Hinsichten problematisch ist. Wenn die Vereinigten Staaten einer Migrantin aus einem relativ armen Land die Aufnahme verweigern, verurteilen sie diese Person zu einem Leben ohne denjenigen Wohlstand, der oft (wenn auch nicht immer) Teil des US-amerikanischen Lebens ist. Wenn sie die Aufnahme einer Person verweigern, die unter einem repressiven Regime lebt, verurteilen sie diese Person zu einem Leben ohne politische Freiheit. Wenn sie es einer Person, die zu migrieren versucht, versagen, ein von ihr gewähltes Projekt oder eine von ihr gewählte Beziehung in den Vereinigten Staaten zu verfolgen, beschränken sie die Möglichkeiten dieser Person, ein wertvolles Leben für sich und ihre Nächsten aufzubauen. Zudem tun die Vereinigten Staaten all das aufgrund einer Grenze, die aus einem moralischen Blickwinkel selbst als willkürlich erscheint; niemand hat es verdient, auf der „richtigen“ Seite einer bestimmten, auf dem Boden gezogenen Linie geboren zu werden. Darüber hinaus repräsentiert diese Linie nicht nur einfach materielle Ungleichheit, sondern auch eine Geschichte von Gräueln und kolonialer Ausbeutung: Viele der gegenwärtigen Zurückweisungen an der Grenze bestehen darin, dass ehemalige Kolonialmächte Menschen aus verarmten ehemaligen Kolonien die Einwanderung verweigern.21 Wir könnten, einfach anhand dieser Gedanken, eine Vorstellung der Migrationsgerechtigkeit entwerfen, in der alle Formen von Ausschluss mutmaßlich ungerecht sind. In seiner Zurückweisung aller Versuche, ein Recht auf Ausschluss zu rechtfertigen, bietet uns Chandran Kukathas eine anschauliche kleine Skizze der Möglichkeiten eines Arguments für offene Grenzen:

„Wie also können Einschränkungen der Einwanderung, oder, allgemeiner, der Bewegungsfreiheit, gerechtfertigt werden? Es ist nicht leicht, solche Beschränkungen aus der Perspektive von Individuen oder Völkern allgemeingültig zu verteidigen. […] Ein Argument für die Beschränkung individueller Bewegungsfreiheit wird immer auch ein Argument sein, weshalb eine bestimmte (manchmal begünstigte) Gruppe dabei geschützt werden sollte, die Renten zu genießen, die sie sich durch das große Glück gesichert hat, in einem bestimmten Teil der Welt statt einem anderen zu leben.“22

Dieses breit angelegte Argumentationsmuster führt also an, dass der Gedanke eines (potentiell) gerechtfertigten Systems staatlichen Ausschlusses eine Illusion sei, denn das Ziel aller liberalen Theoretikerinnen sollte es sein, jegliche Formen ungerechtfertigter Hierarchien niederzureißen – und die Struktur des Aufenthaltsrechts, die manche Menschen von manchen Orten ausschließt, könnte schlicht eine solche Form ungerechtfertigter Hierarchien darstellen. Ich denke, dass die Idee offener Grenzen in diesem Sinne einfach als eine Ausweitung des umfassenderen Systems von Bürgerrechten verstanden werden kann. Wie bereits Roger Nett vor einer Generation argumentierte, könnte es sich bei dem letzten Bürgerrecht – das vermutlich am schwierigsten durchzusetzen sei – um das Recht handeln, sich frei über die Erdoberfläche bewegen zu dürfen.23

Ich möchte im weiteren Verlauf dieses Kapitels nun vier spezifischere Versionen des Arguments für offene Grenzen diskutieren. Dabei handelt es sich weniger um einzelne Argumente, als vielmehr um Gruppen von Argumenten, die Möglichkeiten darstellen, das skizzierte Argument gegen staatlichen Ausschluss genauer und rigoroser zu formulieren. Wie ich bereits bemerkt habe, bin ich nicht der Meinung, dass diese Argumente überzeugend sind. Mein Widerspruch beginnt damit, wie die verschiedenen Argumente die besondere Beziehung begreifen, die zwischen einem mit Zwangsbefugnissen ausgestatteten Staat und denjenigen Personen besteht, die ihr Leben unter den Gesetzes jenes Staates gestalten. In meinen Augen tendieren die Argumente für offene Grenzen einfach ausgedrückt dazu, die besonderen Verpflichtungen zu ignorieren, die Staaten gegenüber denjenigen haben, die in direkter Reichweite der staatlichen Zwangsbefugnis ihr Leben fristen. Sie tendieren darüber hinaus zu der Überzeugung, dass jegliches Bürgerrecht zugleich auch ein Menschenrecht sein sollte. Im Folgenden werde ich versuchen, sowohl meinen Dissens mit diesen Theoretikerinnen herauszuarbeiten, als auch den Verdienst, den sie an der Formulierung meines eigenen Ansatzes haben. In meinen Augen besteht ein zu großer Teil der Philosophie darin, die Fehler anderer aufzuspüren und eine theoretische Abhandlung ist immer dort am schwächsten, wo sie auf die Lücken anderer Ansätze verweist.24 Was ich hier vorbringe, soll daher nicht als Demonstration einer einwandfreien Widerlegung der verschiedenen Positionen für offene Grenzen verstanden werden – für solch ein Vorhaben sind diese Argumente sowohl zu komplex als auch zu gut. Vielmehr handelt es sich höchstens um die Darstellung von Überlegungen, aufgrund derer ich die verschiedenen Argumente nicht akzeptieren kann und das trotz der Schuld, in der ich bei ihren Urhebern stehe.

Zwischen Gerechtigkeit und Gnade

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