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Ziel-Sprint

Am letzten Tag geht es in ca. 16 km nach San Pedro. Es wurde noch mal richtig spannend. Hierzu musst du wissen, dass zwei Tage zuvor etwas Seltsames passiert ist. Die Top-10-Läufer müssen am jeweiligen Etappenziel ihre Rucksäcke überprüfen lassen. Da ich nun auch zu diesem exklusiven Kreis gehörte, wurde auch bei mir nachgeschaut, ob ich meine Pflichtausrüstung noch immer brav dabei habe. Hatte ich, da hat sich in meinem Rucksack rein gar nichts geändert, außer dass nun alles dreckig war. In den Augen der Organisatoren aber fehlte nun angeblich eine Ersatzstirnlampe. Obwohl ich eine dabei hatte und mir vorher beim allgemeinen Check-in und der Ausrüstungskontrolle auch schriftlich bestätigt wurde, dass sämtliches Pflichtequipment ordnungsgemäß vorhanden sei. Letztlich habe ich für mein »Vergehen« eine Zeitstrafe von 10 min erhalten. Das Ganze aus für die meisten Läufer nicht nachvollziehbaren Gründen. Ich protestierte. Nicht wegen der Zeit, sondern aus Prinzip, weil es ungerecht war. Aber es nützte nichts. Mein 5-min-Vorsprung vor dem nächstplatzierten Läufer schmolz nicht nur dahin. Ich bin durch die 10-minütige Strafe in der Gesamtwertung 5 min hinter einen chilenischen Läufer gerutscht, der, so habe ich gehört, gleichzeitig Repräsentant des Veranstalters in Chile ist. Ein Schelm, wer da Böses denkt. Zumindest wurde nicht nur in unserem Gruppenzelt der Kopf wegen dieser Entscheidung geschüttelt. Aber was soll’s. Es ist nicht zu ändern.

Ich habe den chilenischen Läufer Matias gefragt, ob wir einfach zusammen laufen und gemeinsam das Rennen beenden wollen. Wie bei der Tour de France. Schließlich sind die Abstände zu den Läufern vor und hinter uns jeweils so groß, dass wir uns im Gesamtranking eigentlich weder verbessern noch verschlechtern können, und ich habe eh schon viel mehr erreicht, als erwartet. Er hatte kein Interesse, wollte nochmal alles geben. Schließlich habe er die Woche darauf Sponsorengespräche und müsse ein optimales Ergebnis abliefern. Verärgert über die ungerechte Zeitstrafe, aber auch ein wenig enttäuscht über das Verhalten des chilenischen Läufers, entschied ich mich, auf der letzten Etappe ein weiteres Experiment zu versuchen – und habe dann auch in den Wettkampfmodus geschaltet.

Zirka 5 min trennten mich also vom vorplatzierten chilenischen (Semi-)Profilläufer auf dem 7. Rang. Einen Vorsprung von gut 5 min in der kurzfristig auf 10 km Gesamtdistanz verkürzten Etappe aufzuholen, schien mir ein sehr verwegener Plan, aber ich wollte es versuchen. Und nachdem ich in der Woche zuvor jeden Tag ein persönliches Meisterstück abgeliefert hatte, warum sollte das nicht auch auf der letzten Etappe gelingen?

Das Rennen startet schnell, nach 800 m denke ich, mir wird die Lunge explodieren, die Beine sind schwer wie Blei. Das ist nicht mein Tempo. Aber wenn ich 5 min aufholen und den Chilenen überholen will, muss ich dieses Tempo durchziehen und tue es.

Alles oder nichts.

Ich bin kurz nach dem Start an Matias vorbeigezogen. Ohne mich ein einziges Mal umzuschauen, denn mein Ziel liegt vor mir. Ich halte den Rhythmus, renne und renne, sage mir »Komm, du weißt, wie du dich mental stark und körperlich (halbwegs) frisch machen kannst, dann mach es auch!«. Ziemlich geplättet erreiche ich das Ziel. Erst jetzt schaue ich mich um. Kein Matias in Sicht. Ich stehe am Ziel und warte, schaue. Noch immer kein Matias in Sicht. Ich schnappe mir eine Cola und schaue auf die Uhr, die Zeit läuft: Ich bin schon 3 min im Ziel, und Matias ist nicht da … 4 min … Ich werde kribbelig … Ist das denn zu fassen?! Auch nach 5 min ist Matias nicht durchs Ziel gelaufen. Mir kommen die Tränen … 6 min … 7 min … Letztlich bin ich mit einem etwa 8-minütigen Vorsprung in San Pedro angekommen. Das bedeutet, dass ich mir den 7. Platz in der Gesamtwertung wieder zurückerobert habe. Wow! Mein letzter Streich in diesem Rennen. Die Verbesserung im Gesamtranking um einen Platz ist für mich irrelevant, aber dass ich heute so ein Ding rausgehauen habe, das haut mich doch um.

Und nun dringt auch Stück für Stück folgendes Bewusstsein an die Oberfläche: Das Rennen ist vorbei, es ist tatsächlich geschafft. Ich habe es geschafft. Ich bin einfach nur überglücklich, die Medaille überreicht zu bekommen und stürze mich auf die Pizza. Immer wieder Händeschütteln, Umarmungen, Freudentränen, Komplimente, Fotos und wieder Pizza. Nach einer Woche Tütenessen und Pulverdrinks ein wahres Festmahl.

Was für eine Woche, was für ein irres Erlebnis für mich. Eigentlich kann ich es noch immer nicht fassen. Wie du ja bereits weißt, sitze ich zwei Tage nach dem Rennen überglücklich in San Pedro auf der Plaza Central. Mein Handy habe ich griffbereit neben mir liegen, denn zwei Journalisten aus Deutschland haben sich angekündigt. Im Rahmen der Interviews verrate ich zum Abschluss einen Teil meiner Zukunftspläne. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ich arbeite in meiner Coachingpraxis zwar bereits mit mentalem Training, Sporthypnose und Flow-Zuständen. Aber jetzt bin ich richtig angefunkt. Ich will noch mehr dazu wissen, will noch intensiver in das Thema eintauchen. Will Erkenntnisse sammeln, um meinen Ansatz zu verfeinern, will Erklärungsansätze und Argumente zusammentragen, um auch andere davon zu überzeugen, dass sich die Beschäftigung mit Flow und Sporthypnose lohnt. Ich bin zutiefst davon überzeugt, einem heißen Thema auf der Spur zu sein. Diese Überlegung hat sich weiter verfestigt, weil ich auch in den Folgejahren immer wieder mit relativ geringem physischem Trainigsaufwand vordere Plätze bei ähnlichen Etappenrennen belegt habe.

Tja, und so wurde ich zum Flow-Jäger.

Einspruch, euer Ehren! Nun könnten kritische Geister natürlich denken, mein Erfolg in der Atacama beruhe auch auf besonderen Genen, eine besondere körperliche Ausstattung. Das ist definitiv nicht der Fall. Ich wurde eine Weile nach dem Rennen mal von einem befreundeten und neugierigen Sportmediziner zu einer Leistungsdiagnostik eingeladen. Der Beweis: Das Ergebnis war ganz okay, aber nicht berauschend. Ich habe die Daten dann einem Trainingswissenschaftler und Leistungsdiagnostiker am Olympiastützpunkt zugemailt und um seine Einschätzung gebeten. Sein Kommentar: »Naja, deine Ausdauerleistungsfähigkeit ist auch nicht besser als bei einem Ringer.« Ich weiß zunächst nicht, ob ich traurig oder glücklich sein soll, muss dann aber grinsen. Ein besseres Argument für meinen Ansatz kann es nicht geben. Mir ist natürlich bewusst, dass wir auch mit mentalem Training und Sporthypnose nicht zaubern können, dass wir aus einem Würstchen kein Steak machen können. Aber wir können viel besser all die Potenziale aktivieren und für das Erreichen persönlicher Ziele nutzbar machen, die oft noch unangetastet im Verborgenen in uns schlummern.

Wie ging es weiter? Zunächst wollte ich wissen, ob es ähnliche Erfahrungen gibt, bei denen Menschen ohne große Vorerfahrung oder entsprechendes körperliches Training ähnliche Leistungen abrufen. Ich wollte wissen, welche Erfahrungen es mit Trance- und Flow-Zuständen im Laufsport gibt und bin auf etwas sehr Interessantes gestoßen …

Flow-Jäger

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