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TRANCERUNNING. VORSTOSS IN UNGEAHNTE MÖGLICHKEITEN

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Wagen wir ein kleines Gedankenexperiment: Nur mal angenommen, dein Lauftraining würde über einen längeren Zeitraum ausschließlich darin bestehen, neben einer besonderen Atemtechnik vor allem deine Konzentrations- und Vorstellungsfähigkeit zu verbessern. Meinst du, du könntest dadurch schneller, weiter und entspannter laufen? Wenn du eher zu den Skeptikern gehörst, könnten dir die nächsten Zeilen das bisherige Denken auf den Kopf stellen.

Vergessenes Wissen:

die Lung-Gom-Pa-Wunderläufer

Viele Menschen haben schon einmal von den Shaolin-Mönchen gehört. Sie sind berühmt für ihre außergewöhnlichen körperlichen und geistigen Fähigkeiten. In atemberaubenden Kampfkunst- und Akrobatik-Shows rund um den Globus gewähren sie einen Einblick in ihr Können. Wäre es nicht denkbar, dass es noch andere Mönche gibt, die über ähnlich außergewöhnliche körperliche und geistige Kräfte verfügen, diese jedoch in eine andere Richtung lenken? Mönche, die weniger die Öffentlichkeit suchen, diese sogar meiden und eher im Geheimen praktizieren?

Hast du schon mal von den Lung-Gom-Pa gehört? Falls nicht, wird es Zeit. Lung-Gom-Pa-Läufer sind tibetische Mönche, die der Legende nach oder im Geheimen immer noch seit Jahrhunderten während ihrer berühmten Tranceläufe 48 h und mehr ohne Pause laufen. Sie legen dabei mehr als 300 km pro Tag zurück und bewegen sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit und majestätischen Leichtigkeit durch die Landschaft. Die Grundlage für diese außergewöhnliche Leistung bildet ein rigoroses dreijähriges Training. Hierfür ziehen sich die Lung-Gom-Pa-Läufer in eine abgelegene Höhle zurück. Was dich womöglich verwundert: Die Mönche verzichten in den drei Jahren auf jegliches athletisches Training. Es gibt keine Intervall-, Tempo- oder langen Läufe, kein Lauf-ABC, kein Stabi-Training und was es sonst noch alles im herkömmlichen Lauftraining gibt. Die Lung-Gom-Pa-Läufer fokussieren sich ausschließlich auf das Erlernen einer speziellen Atemtechnik sowie auf die Schulung ihrer Konzentrationsfähigkeit. Sie versetzen sich beim Laufen in eine hypnotische Trance und werden so zu Meistern des »Trancerunnings«. Durch das gezielte Bündeln und Lenken innerer Energien scheinen sie die Grenzen des körperlich Machbaren zu pulverisieren. Die Lung-Gom-Pa-Läufer sind wahre Meister des mentalen Trainings und der Laufhypnose. Die gute Nachricht: Die Techniken kannst auch du nutzen, und zwar ohne drei Jahre in einer Höhle zu verbringen.

Neues Wissen: Sportmedizin und Kreislaufforschung

Obwohl seit den 1960er-Jahren bekannt ist, dass sich Hypnose z. B. positiv auf die Kraftleistungsfähigkeit auswirkt, gelten für Ausdauerleistungen bisher unverändert das Herzkreislaufsystem und Stoffwechselprozesse als limitierende Faktoren. Es wird Zeit zum Umdenken. Bereits im Jahr 2006 wurde in der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin eine Arbeit mit dem Titel »Das Gehirn – der leistungsbegrenzende Faktor bei Ausdauerleistungen?« veröffentlicht. Am »Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin« der Deutschen Sporthochschule Köln wurde nachgewiesen, dass bei sportlicher Aktivität das Gehirn vor (!) der lokalen Muskulatur ermüdet. Macht das Gehirn schlapp und kann es die Muskelkontraktionen nicht wie gewünscht aufrechthalten bzw. steuern, kommt es zu einem Leistungsabfall bzw. -abbruch, obwohl die Muskulatur selbst eigentlich noch weiterarbeiten könnte. Die Forscher konnten zeigen, dass die Aktivität der Arbeitsmuskulatur trotz ermüdeten Gehirns durch künstliche Stimulation fortgesetzt werden kann, indem die relevanten Nerven oder die Muskulatur selbst stimuliert werden. Die Mediziner kommen zu dem Schluss, dass dem Gehirn eine leistungsbegrenzende Rolle zukommt. Eine Steilvorlage für die Psychologen.

Praxis-Wissen: Laufhypnose

Der gezielte Einsatz von Hypnose würde für viele Läufer einer Revolution im Trainings- und Wettkampfalltag gleichkommen. Obwohl es sich bei Selbsthypnose um eine Jahrtausende alte Kulturtechnik handelt, die in Kombination mit modernen Coachingstrategien extrem wirkungsvoll ist, und obwohl immer mehr Spitzensportler ihre Erfolge auch auf den Einsatz von Mentalcoaching und Selbsthypnose zurückführen, nutzen viele Läufer eben diese Techniken bisher nicht gezielt. Vielleicht, weil sie es einfach nicht gelernt haben, vielleicht, weil sie schlicht skeptisch sind aufgrund irreführender Eindrücke von »miefigen« Hypnoseshows, Hollywood-Streifen oder all der wenig seriösen, geschweige denn fundierten Angebote auf dem Markt der Heilsbringer, Hypnotiseure und Mentalcoaches.

In den 1970er-Jahren haben die Forscherin Dr. Eva Banyai und Professor Ernest Hilgard, der zu den herausragenden amerikanischen Psychologen des 20. Jahrhunderts zählt, an der Stanford-Universität eine neuartige Hypnose-Technik entwickelt: Aktivwachhypnose. Entgegen der landläufigen Vorstellung, Hypnose bedeute tiefenentspannte, schlafähnliche Zustände, gelangt man bei der Aktivwachhypnose durch kontrollierte rhythmische Bewegung und der Suggestion von Frische, Wachheit und Lockerheit in einen veränderten Bewusstseinszustand. Man ist hellwach, konzentriert und dennoch entspannt. Die Wahrnehmung ist messerscharf und kristallklar. Körper, Geist und Umwelt verschmelzen miteinander. Dinge laufen leicht und locker, wie von allein. Es fließt. Man bewegt sich »wie in Trance«. Wir könnten auch sagen »wie im Flow«. Diesen angenehmen und hochfunktionalen Zustand können wir gezielt hervorrufen, wenn wir diesen benötigen und zudem nutzen, um die positiven Effekte mentaler Trainingsprogramme zu verstärken.

Und was genau bedeutet Laufhypnose? Ich habe im Lauf der Zeit ein Verfahren entwickelt, das Elemente der Aktivwachhypnose, mentale Trainingstechniken und weitere Strategien zu einem wirkungsvollen Coaching-Ansatz kombiniert, bei dem unter anderem gezielt Flow-Zustände hervorgerufen werden. Die Effekte können verblüffend sein.

Flow-Coaching, Fallbeispiel 1:

»Es war wie fliegen.«

Eine Frau in den Endzwanzigern möchte mehr laufen. Sie war früher auf dem Weg zur professionellen Balletttänzerin, war es gewohnt, über Jahre hinweg Hochleistungssport zu betreiben. Bis zu acht Stunden Training/Proben pro Tag an sechs Tagen die Woche. Bis die Füße blutig waren. Das ist nun aber bereits einige Jahre her. Seitdem hält es sich mit dem Sport zwar in Grenzen, aber sie scheint dennoch einigermaßen fit. Die Versuche mit dem Laufen enden allerdings meist nach wenigen Minuten, spätestens nach einer Viertelstunde. Die Muskeln und Knie tun weh, die Stimmung ist schlecht. Eines Tages gehen wir gemeinsam auf die Laufstrecke. Nach wenigen Minuten wird es wie gehabt schwer für sie. Wir starten eine Laufhypnose-Session »On the run«. Ich beginne, die Aufmerksamkeit der Läuferin während des Laufens gezielt auf die Wahrnehmung der eigenen Körperprozesse zu lenken, kombiniere dies mit intensiven Vorstellungsübungen und der Suggestion von Frische und Leichtigkeit. Im Prinzip rede ich schnell und unaufhörlich wie am laufenden Band während der Einheit auf sie ein. Das hat Folgen. Ich komme etwas außer Atem und die Frau läuft. Und läuft. Die magische 15-min-Schwelle ist erreicht – und sie läuft weiter. Sie schaut fröhlich. Grinst regelrecht. Und läuft weiter. Etwas ungläubig blicke ich auf die Uhr. Wir sind bereits über 40 min unterwegs. Keine Spur von Müdigkeit oder Frust. Im Gegenteil, sie wird auch noch immer schneller. Ich habe Mühe, ihr zu folgen, da ich ja gleichzeitig auch noch durch meine hypnotischen Suggestionen den Trancezustand begleite und verstärke. Nach 50 min frage ich die Läuferin, wie lange wir wohl schon unterwegs sind. Sie guckt mich an und meint: »Keine Ahnung, es läuft toll, vielleicht 15 min?« Als ich sie über die tatsächliche Laufzeit informiere, schaut sie völlig baff und irritiert. Das hätte sie nicht gedacht, das fühle sich überhaupt nicht so an. Ich schlage vor, dass wir den Heimweg antreten. Wir wollen es ja nicht übertreiben. Im Anschluss an die Tour, die letztlich 75 min dauerte, war sie gut gelaunt und fühlte sich richtig frisch. Keine Schmerzen in den Knien oder Muskeln. Wir schauen uns beide an und können kaum glauben, was wir da soeben gemeinsam erlebt haben.

Völlig überwältigt fasste sie im Anschluss dieses Erlebnis folgendermaßen zusammen: »Ich war wie in einem Rauschzustand. Ich spürte meine Füße über dem Boden nicht mehr. Es fühlte sich an, als würde ich über den Boden schweben. Mein ganzer Körper fühlte sich so leicht an. Ich merkte nicht mehr, wie ich mich bewegte. Die Natur, mein Körper, mein Geist, die Geschwindigkeit, das Gefühl der Schwerelosigkeit verschmolzen förmlich ineinander, ohne dabei zu merken wieviel Zeit vergeht. Es war wie fliegen.« Für einen Moment schien sie den Lung-Gom-Pa-Läufern ganz nahe.

Haken wir doch mal nach!

Nun ist bereits an der einen oder anderen Stelle das Wort Flow gefallen. Auch wenn man sich etwas in der Laufszene herumtreibt, hört man immer wieder und in unterschiedlichen Situationen den Begriff Flow. Hier war jemand im Flow, dort war jemand im Flow, die Strecke ist flowig usw. Ich bin mir nicht sicher, ob dabei auch immer das Gleiche gemeint ist. Aus diesem Grund habe ich einfach mal einige Läufer gefragt, was genau für sie Flow bedeutet. Ausgesucht habe ich mir hierfür aber nicht irgendwelche Läufer. Und bei dieser Gelegenheit habe ich gleich noch ein paar weitere flowige Fragen nachgeschoben …

Flow-Jäger

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