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Geburt eines Kultes

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Wer in schönen Dingen einen schönen Sinn entdeckt – der hat Kultur.“

Oscar Wilde

Nach dem Desaster im Madhouse sprachen Friederike und ich etwa drei Wochen nicht miteinander. Ich hatte mir nichts vorzuwerfen und sie meinte, ich solle mich bei ihr entschuldigen, was ich natürlich überhaupt nicht einsah. Von Andy erfuhr ich, dass sie ganz schönen Stress mit Wolfgang nach unserem Freitagabend hatte, weil der bescheuerte Jochen ihn sofort von den Vorkommnissen unterrichtete. Der hatte sich durch die Aktion zwei Finger gebrochen und konnte wochenlang nicht auf dem Bau arbeiten. Diese Information nahm ich gerne und nicht ganz ohne Häme entgegen.

Aufgrund des Streites mit Friederike, war eine Wiederholung des Discoabends zunächst in weite Ferne gerückt. So ergab es sich, dass mindestens ein Tag an den folgenden Wochenenden reine Jungsabende anstanden. Wir trafen uns vorwiegend bei Andy. Häufig mit von der Partie war auch Lukas, ein Kumpel von Andy. Die beiden gingen zuvor gemeinsam in eine Klasse. Lukas war ein absoluter Autofreak und kam ursprünglich aus der Pfalz. Er machte zu dieser Zeit eine kaufmännische Verwaltungsausbildung bei irgendeiner Behörde in Hamburg.

Unsere Jungsabende hatten drei wesentliche Ausprägungen, je nachdem wonach uns war. Es gab den Muckeabend, auf hochdeutsch der Musikabend, dann gab es den Videoabend und zu guter Letzt den Pistenabend. Was alle Veranstaltungen miteinander gemein hatten, es waren keine uns bekannten Mädchen zugelassen. Diese Form der Abendgestaltung entwickelte sich zu einem richtigen Kult, den wir während unserer Schulzeit regelmäßig pflegten und der sich auch darüberhinaus noch lange in unterschiedlichen Besetzungen fortführte.

Die Muckeabende fielen überwiegend auf einen Freitag. Wir trafen uns meist zu dritt, Mettel, Andy und ich. Wir tauschten Platten und Kassetten aus, hörten den ganzen Abend Musik und zelebrierten jedes Stück. Wir versanken richtig in die Musik. Besonders, wenn wir ein bisschen Alkohol getrunken oder etwas geraucht hatten. Ein Außenstehender musste uns für völlig bekloppt gehalten haben, wenn er uns da in Aktion gesehen hätte. Nach ein bis zwei Abenden dieser Art waren wir eine gut eingespielte Luftinstrumenten-Band, einfach der Wahnsinn! Je länger die Stücke waren, desto enthusiastischer steigerten wir uns in jeden Ton hinein. Nummern, wie „Child in Time“ von Deep Purple oder „Telegraph Road“ von Dire Straits haben wir geliebt. Es waren Titel, die länger als zehn Minuten gingen und auf Konzerten von den Bands live eingespielt wurden.

Es ging sogar soweit, dass Mettel und ich, die bekanntermaßen in der Schule zusammensaßen, mitten im Unterricht anfingen, den Song „Smoke on the Water“ von Deep Purple mit im Mund erzeugten Instrumentengeräuschen und den passenden Bewegungen zu performen. Wir tauchten so dermaßen in unsere eigene Welt ein, dass wir gar nicht mitbekamen, wie es in der Klasse komplett still wurde und unsere Lehrerin Frau Förster kopfschüttelnd etwa zwei Minuten hinter uns stand. Sie hatte mehrfach versucht, uns anzusprechen, aber wir reagierten in unserem Wahn einfach nicht auf sie. Ihr blieb nichts anderes übrig, als körperliche Gewalt anzuwenden und uns beiden mit der flachen Hand einen Schlag an den Hinterkopf zu verpassen.

„Hey Jungs, hallo? Hier spielt die Musik. Eure Vorführung ist zwar ganz nett, aber würdet ihr euch jetzt mal wieder auf Wirtschaftslehre konzentrieren!“

Die ganze Klasse johlte und spendete Applaus. Wir standen artig auf und verbeugten uns. In diesem Augenblick konnte sich selbst Frau Förster ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Lustig ging es auch immer auf unseren Videoabenden zu. Hier war zumeist Lukas mit dabei. Allein die Filmauswahl war ein Spektakel. Wir liehen uns immer vier Filme aus. Vier Filme bedeuteten auch vier unterschiedliche Genres. Zum Warmwerden gab es immer einen Actionfilm und danach etwas Lustiges. Der dritte Streifen war ein Porno und zum Abschluss gab es stets einen schönen Horrorschocker. In die Kategorie „Action“ fielen natürlich Kinohits von Arnold Schwarzenegger, Sylvester Stallone und Chuck Norris. In der Abteilung „Komik“ standen wir alle auf Monty Python, Der rosarote Panther mit Peter Sellers oder Filme mit Louis de Funès. Bei den Schmuddelvideos aus dem Horizontalgewerbe hatten wir keine Vorlieben. Hier nahmen wir das, was der schier unerschöpfliche Markt hergab. Im Horrorsegment waren zu dieser Zeit schon Nightmare mit Freddy Krueger und später auch Chucky angesagt.

Es war wieder genau so ein Freitagabend und wir standen zu viert in der Videothek, um das Programm für ein paar unterhaltsame Stunden zusammenzustellen.

„Leute, die haben hier den neusten Streifen von Chuck Norris, der heißt Delta Force. Wäre das nicht etwas für uns?“, fragte Andy nach unserer Meinung.

„Worum geht es denn da?“, ging Lukas interessiert auf Andys Frage ein.

„Chuck Norris spielt ‘nen Major in einer speziellen amerikanischen Anti-Terroreinheit, die irgendwelche Geiseln aus den Händen von Iranern befreien soll. Ich nehme mal an, dass die Amis ihre Helden wieder unsäglich glorifizieren. Sollte aber reichlich Geballer, einige geile Stunts und vielleicht ein paar coole Sprüche dabei sein.“

„Das hört sich doch schön anspruchslos an, was meinste Mettel?“, fragte ich.

„Um ein Kilo Pizza zu verdauen, ist das gerade die richtige Ouvertüre für einen genialen Filmabend. Meinetwegen lasst uns den ruhig mitnehmen.“

„Dann sind wir uns also einig. Bestens!“, stellte Lukas klar und griff sich die Ausleihkarte des Blockbusters.

Die anderen Streifen waren schnell gefunden, wir wollten uns hier auch nicht zu lange aufhalten. Als Komödie hatten wir den sechsten Teil von Eis am Stiel mit dem verheißungsvollen Untertitel „Ferienliebe“ ausgesucht. Der Porno hieß irgendwie „Geile Lehrerinnen treiben’s wild“ oder so ähnlich, was natürlich im Vorfeld schon ordentlich für Belustigung sorgte. Den Horrorstreifen Halloween aus den Endsiebzigern hatte Mettel vorgeschlagen, dessen älterer Bruder sehr davon schwärmte.

Es erwartete uns folglich eine ziemlich bunte und niveauarme Videoauswahl, als wir nach unserem Ausflug zurück bei Andy waren. Passend zum Heimkinoabend bestellten wir telefonisch Pizza vom Lieferservice. Wir vertrieben uns die Wartezeit mit dem Aufbau der Technik im Partykeller von Andys Eltern. Also schleppten wir Fernseher und Videorekorder herunter und schlossen die Komponenten an den bereits unten stehenden Verstärker an. Der Sound sollte ja auch stimmen. Nebenbei exten wir jeder ein Bier als Aperitif. Auf den Weg in die Videothek hatten wir uns bereits zwei Paletten Dosenpils und einige Tüten Chips besorgt. Es waren die angemessenen kulinarischen Leckereien für unser cineastisches Vergnügen.

Es klingelte plötzlich an der Tür.

„Das muss die Pizza sein, mach mal auf!“, meinte Andy.

Lukas öffnete die Tür und schaute ganz erschrocken. Es war leider nicht der Pizzabote, der vor der Tür stand, sondern Andys Bekannter vom Schachclub. Er hieß Robert und wir mussten ihn ab und an ertragen. Robert hatte das unsägliche Talent, immer mal überraschend bei Andy unangekündigt aufzutauchen. Durch sein sonderbares Auftreten erfreute er sich nicht unbedingt größter Beliebtheit. Er wusste unabhängig vom Themengebiet regelmäßig alles besser, auch wenn er mit seiner Meinung völlig alleine dar stand. Eine Masche, mit der er besonders bei Lukas und mir in der Antipathietabelle ordentlich punktete.

„Ist Andreas auch da?“, fragte er Lukas.

„Einen Moment bitte!“, sagte Lukas und ließ ihn vor der Tür stehen. Es hätte nur noch gefehlt, dass er die Haustür einfach zugeworfen hätte.

Lukas ging zu Andy in die Küche, der gerade damit beschäftigt war, Bestecke und Teller für die Pizza aus dem Schrank zu holen.

„Ey Andy, der bekloppte Robert steht vor der Tür. Hast du den etwa eingeladen oder will der sich hier wieder nur durchschnorren?“

„Nö, eingeladen habe ich ihn nicht. Keine Ahnung was er will.“

„Dann wimmle ihn ab, bevor die Pizza kommt und wir ihn nicht mehr loswerden.“

Mettel und ich bekamen von der Szene gar nichts mit, weil wir unten die letzten Einstellungen am Fernseher vornahmen und auf die Schnelle noch ein bis zwei Bier zu uns nahmen.

Andy bewegte sich gemächlich zur Haustür. „Na Robert, was kann ich für dich tun?“

„Ich wollte fragen, was du heute so machst.“

„Du es gibt so eine Erfindung, die nennt sich Telefon. Du hättest doch anrufen können.“ Diesen Einwand überhörte Robert einfach.

„Was habt ihr beiden heute noch vor?“

„Wir sind auf dem Sprung. Lukas' Schwester ist zu Besuch aus der Pfalz bei seinen Eltern und er wollte mich gerade abholen.“

„Ach so, naja, dann wünsche ich euch noch einen schönen Abend!“, ließ sich Robert, ganz zu Lukas' Freude, ohne großen Aufwand abspeisen.

„Okay! Danke gleichfalls!“

„Andy wir müssen jetzt auch los, sonst steigen mir meine Eltern aufs Dach.“

Lukas stand schon in Jacke da und drückte Andy die seinige in die Hand.

„Los jetzt!“

Andy packte den Haustürschlüssel ein und zog die Tür zu.

Er und Lukas gingen zum Auto, stiegen ein und fuhren los. Sie ließen Robert einfach wortlos stehen.

„Alter, was für ‘ne Aktion. Was ist mit Mettel und Rene? Die sitzen jetzt nichts ahnend bei mir im Keller und freuen sich auf die Pizza“, sagte Andy besorgt.

„Ich weiß, aber anders wären wir den Schmarotzer nicht losgeworden.“

„Na, dann lass mal schnell zurück, bevor die anderen uns suchen gehen.“ Lukas parkte um die Ecke und die beiden betraten das Grundstück durch die hintere Gartenpforte. Sie schauten sich nochmals um, ob die Luft rein war und sahen gerade den Pizzaboten um die Ecke biegen.

„Das passt doch!“, äußerte sich Andy lachend.

Er nahm die Pizza entgegen, als Mettel und ich die Kellertreppe heraufstolperten. Wir hatten natürlich gar nichts von der kleinen Ausfahrt mitbekommen.

„Was lachst du so?“, fragte ich Andy.

„Erzähl ich euch gleich beim Essen.“

Lukas und Andy schilderten kurz die Geschehnisse um Roberts Kurzbesuch. Mettel und ich schmissen uns vor lachen.

„Dann seid ihr tatsächlich gegangen und habt ‘ne Runde mit dem Wagen um den Block gemacht, genial!“, meinte Mettel.

„Das Gesicht von Fusselkopp hätte ich gerne gesehen! Der Typ hat sie doch nicht mehr alle. Er führt sich immer auf, als wäre er etwas Besseres und dieses pseudointellektuelle Gelaber geht mir gehörig auf den Sack. Dabei ist er eigentlich ‘ne ganz arme Sau und versucht abzustauben, was nur geht!“, amüsierte ich mich.

„Ich kann den Typen auch nicht haben!“, sagte Lukas kopfschüttelnd.

„Fusselkopp? Wie kommst du denn darauf? Geiler Spitzname!“, lachte Andy.

„Guck dir den Vollpfosten doch mal an! Der sieht als Teenager auf dem Kopf wie ein Achtzigjähriger aus!“, kicherte ich abfällig.

Robert besuchte auch das Gymnasium, allerdings war er ein Jahr weiter als wir und zu unserer Freude auf einer anderen Schule. Andy kannte aber auch Leute, echt zum Abgewöhnen.

Zu etwas fortgeschrittener Stunde lief gerade der Porno und wir alle waren ganz schön betrunken.

„Dieses übertriebene Gestöhne geht mir echt auf den Sack!“, meinte Mettel plötzlich.

„Stimmt! Keine Frau, die was auf sich hält, sagt ständig, gib’s mir du Hengst oder lass mich von deinem leckeren Saft kosten“, unterstützte ich Mettels These.

„Mich interessiert eh nur das Rein und Raus und die geilen Möpse. Wenn ich anspruchsvolle Dialoge hören will, gehe ich ins Theater“, kommentierte Andy das Ganze.

„Ich find es auch geiler, wenn die Weiber beim Ficken das Kommando übernehmen“, ließ Lukas uns wissen.

„Naja, die Pornoindustrie stellt sich halt auf die Bedürfnisse der armen Würstchen und kranken Idioten ein, die außer ihrer Hand noch nie eine Freundin hatten und sich täglich diese Scheiße reinziehen“, nahm ich an.

Mitten in der Unterhaltung stand Andy plötzlich auf und ging wortlos aus dem Raum. Mittlerweile kam der Sexstreifen in die heiße Phase und die Hauptdarstellerin erinnerte mich irgendwie an meine dreißigjährige Mathelehrerin, die ich auf der Realschule hatte. Es verging eine gute Viertelstunde und Andy war immer noch nicht zurück, da meinte Lukas: „Ist der kacken oder was dauert da solange?“

„Keine Ahnung, wahrscheinlich ist er so geil, dass er schön fünf gegen Willi spielt!“, meinte ich trocken.

„Meinst du wirklich, dass der da oben sitzt und sich jetzt genüsslich einen schrubbt, die Sau!“, lachte Mettel und fügte hinzu: „Die haben doch zwei Klos hier, ich habe auch ‘nen riesen Pfosten in der Hose.“

„Wir sollten uns das mit den Pornos echt überlegen. Ist doch scheiße, sich die Fickerei anzugucken und dann nicht wichsen zu können, weil wir hier zu viert sitzen!“, argwöhnte ich.

„Wir können ja ein Gruppenevent daraus machen“, scherzte Lukas.

„Wo ist denn der Strauch?“ So hieß Andy mit Nachnamen.

„Langsam habe ich echt das Gefühl, er holt sich da oben schön einen runter!“

„Ey Andy, rufst du gerade den Hausservice vom Eskortdienst an, oder was?“, grölte Lukas.

„Ich hätte gerne die 75!“, sagte Mettel in Anspielung auf den Lieferservice vom Chinesen.

„Jo, aber extra scharf!“, prustete ich heraus.

Plötzlich hörten wir Andy loslachen. Er stand die ganze Zeit im dunklen Kellerflur und hat unser Gelaber auf Video mit der Kamera seines Vaters aufgenommen.

Als wir ihn mit dem Camcorder entdeckten, ging die Lästerei gleich los.

„Du alter Spanner!“

„Also Leute, kriegt euch wieder ein. Das erotische Spektakel auf der Mattscheibe ist kurz vor dem Höhepunkt. Ich möchte nicht das Finale verpassen!“, grummelte Lukas.

„Oh, jaaa!“ Wir bekamen uns alle nicht mehr ein vor Lachen. Der Porno war trotz Lukas’ Einwand zweitrangig geworden, vielmehr interessierte uns, was Andy da nun aufgenommen hatte.

„Stöpsel die Kamera mal an den Fernseher. Das möchte ich gerne sehen“, meinte Mettel neugierig.

Gesagt, getan! Andy schloss die Kamera an den Fernseher an und spielte uns das Band vor. Die ersten Minuten sah man uns drei gebannt auf den Fernseher starren, ohne ein Wort zu äußern. Andy zoomte uns alle hintereinander für eine Großaufnahme heran, zuerst unsere Gesichter. Wir hatten alle den gleichen geilen Ausdruck in unseren Augen. Es war echt witzig, uns selbst beim Pornogucken zu beobachten.

„Alter, alle spitz wie Nachbars Lumpi!“, amüsierte sich Andy. „Und jetzt kommt das Beste!“ Nachdem Andy unsere Gesichter einmal in der Totale hatte, filmte er jeweils unseren Schritt. Jeder von uns hatte eine schöne Beule in der Hose. Eine ganz normale Reaktion für einen Teenager, der sich vorstellt, angeregt durch die gebotene Szenerie, seine attraktive Lehrerin zu vögeln. Frau Förster fiel allerdings nicht in diese Kategorie. Mit ihren fünfzig Jahren war sie für uns ein Dinosaurier. Danach fing auf Andys Aufnahme unser Gequassel an, was wir uns nicht mehr anschauen wollten und Andy schaltete das Band aus.

„Schöner Kurzfilm!“, meinte ich.

„Meine Kehle meldet stechenden Durst!“, hakte Mettel ein. Wir exten gemeinsam jeder eine Dose Bier und ließen den Abend gemütlich mit dem verbliebenen Horrorfilm ausklingen.

Bei allem Spaß mit den Jungs in den letzten Wochen dachte ich ziemlich häufig über den Streit mit Friederike nach. Wir redeten zwar wieder miteinander, aber auch nur das Notwendigste. Immer wieder spielten sich die gleichen Szenen in meinem Kopf ab, wenn ich sie in der Schule sah. Ich machte mir so meine Gedanken, warum ich mich in der Situation im Madhouse so leicht provozieren ließ. Ich sah mich aber nach wie vor nicht als den Hauptauslöser für die damalige Konfrontation. Ich hätte einfach cooler reagieren müssen und Jochens Verbalattacke vielleicht nicht so aggressiv kontern sollen. Andererseits mussten wir uns das hohle Gesülze und die Beleidigungen gefallen lassen? Oder sind die Pferde mit mir durchgegangen, weil ich Friederike unbedingt imponieren wollte? Was mich in diesem Zusammenhang allerdings wesentlich mehr beschäftigte, war die Frage, ob sie tatsächlich was für mich empfand oder ich nur ein netter Zeitvertreib für sie war. Friederike hatte sich bisher nicht offiziell von Wolfgang getrennt und war insofern nach meinem Moralempfinden unerreichbar. Trotz unserer kurzen verbalen Auseinandersetzung und ihre für mich nicht ganz nachvollziehbaren Reaktion auf die Ereignisse im Madhouse faszinierte sie mich weiterhin. Bisher hatte sich zwischen uns ja eigentlich nicht viel ereignet, einige flüchtige Berührungen und ein wenig Geflirte waren auch schon alles. Sollte ich sie mir aus dem Kopf schlagen? Ich tat das Naheliegende und blieb weiter auf Distanz. Wenn sie tatsächlich mehr von mir wollte, als Freundschaft, würde sie schon die richtigen Signale aussenden. Glücklicherweise standen die Weihnachtsferien bevor und ich freute mich schon auf eine entspannte Zeit mit meiner Familie.

Nach den Ferien Anfang Januar 1987 hatte sich die Situation mit Friederike weitestgehend entspannt. Immerhin waren bereits über zwei Monate seit dem gemeinsamen Discobesuch vergangen. Sie kam gleich an unserem ersten Schultag in der großen Pause auf mich zu und sprach mich an.

„Können wir kurz reden?“

„Ja klar!“ meinte ich erstaunt.

„Ich habe nachgedacht und glaube, ich habe damals im Madhouse etwas überreagiert. Ich war total mit der Situation überfordert, dass da nun unbedingt ein Bekannter von Wolfgang auftauchen musste, war mir echt unangenehm. Und, dass er Andy und dich dann auch noch so blöd angemacht hatte, ärgerte mich wirklich. Wolfgang und ich haben momentan eine schwierige Phase und ich bin total verunsichert, ob das Ganze überhaupt eine Zukunft hat!“

„Ich glaube, da bin ich der falsche Ansprechpartner, um das beurteilen zu können. Aber ich finde es toll, dass du diese Lappalie zwischen uns endlich aus der Welt schaffen willst. Im Übrigen wünsche ich dir natürlich ein schönes neues Jahr.“

„Das wünsch ich dir auch!“ Sie umarmte mich und ging danach wieder in die Klasse. Ich war erleichtert, dass diese Ungereimtheit nun endlich geklärt war und freute mich auf ein verheißungsvolles 1987.

Wir hatten mal wieder einen reinen Jungsabend anberaumt und Mettel, Andy und ich wollten den Kiez unsicher machen. Wenn man in Hamburg vom Kiez spricht, weiß eigentlich jeder Einheimische, dass es um den Stadtteil Sankt Pauli und seine Amüsiermeilen links und rechts von der Reeperbahn geht. Wir trafen uns in den frühen Abendstunden am Samstag bei Mettel in Nettelnburg zum obligatorischen Vorglühen.

„Wo wollen wir heute unsere Clubtour starten?“, fragte ich in die Runde.

„Lass uns mal mit dem Rock Café in der großen Freiheit anfangen“, schlug Mettel vor.

„Und danach in den Kaiserkeller?“

„Was haben die heute im Programm?“, fragte Andy.

„Heute ist Rocknight!“, antwortete ich.

„Das hört sich doch nach einer ernsthaften Option an!“, war Mettel der Ansicht.

„Und wenn es uns da nicht gefällt, rutschen wir halt rüber ins Grünspan!“, hatte Andy schon Plan B parat.

„Wunderbar, das ist das Schöne mit euch. Es gibt zügige Entscheidungen und „Mann“ kann sich dann aufs Wesentliche konzentrieren. Prost Männer!“

„Was soll der Geiz und runter damit. Schließlich müssen wir ja unser Halbjahreszeugnis feiern. Ich habe noch nie, mit so wenig Aufwand so einen geilen Notenschnitt erreicht!“, lachte ich selbstzufrieden. Tatsächlich hatte ich überwiegend Zweien und einige wenige Dreien. Damit war ich im Durchschnitt annähernd eine Note besser als auf der Realschule.

Wir nahmen irgendwann die S-Bahn zur Reeperbahn und steuerten, wie geplant, direkt das Rock Café an. Hier hingen meistens in Leder und Kutten gekleidete Biker und langhaarige Befürworter etwas härterer Musik ab. Sie frönten hier ihrer Leidenschaft, Live-Gigs von vielversprechenden Nachwuchsbands zu sehen. Wir fielen mit unseren Milchbubi-Gesichtern schon ein wenig aus dem Rahmen. An diesem Abend spielte dort die Status Quo Coverband „Break Even“ und heizte dem Publikum ordentlich ein.

„Geiler Sound!“, schwärmte Andy.

„Da schmeckt das Bier gleich viel besser!“

„Apropos, machst du noch ‘ne Runde klar, Rene?“

„Ist schon unterwegs!“

Ordentlich durchgeschwitzt und gut gelaunt, watschelten wir nach dem Live-Auftritt von Break Even hundert Meter weiter zum Kaiserkeller.

Andy freute sich besonders, da er bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht so viele Konzerte besucht hatte. „Das war doch ein Auftakt nach Maß!“

„Ich würde mich nicht beschweren, wenn es so weiter geht!“

„Ganz schön schattig hier draußen, lass mal schnell wieder ins Warme!“, zitterte Mettel und schloss dabei seine für diese Außentemperaturen viel zu dünne Lederjacke.

„Ich muss mal pissen!“, nörgelte ich total gekünstelt. „Außerdem will ich mal sehen, was meine Frisur macht!“

Wenn wir auf die Piste gingen, stylte ich meine Haare zu jener Zeit mit viel Haarspray abstehend nach oben, um so auszusehen, wie Billy Idol. Durch das Schwitzen fiel mein strubbeliger blonder Schopf häufig in sich zusammen.

„Du bist aber auch ‘ne eitle Schwuchtel! Trag die Haare doch wie ich, die sitzen immer“, zog mich Mettel auf.

„Und dann lass ich mir noch so ‘n Fusselbärtchen oberhalb der Lippe stehen. Wer ist hier wohl die Schwuchtel, du Ledertussi!“

„Meine Herren, immer mit der Ruhe ja. Ihr gefährdet gerade den Gruppenfrieden mit euren abschätzigen Äußerungen!“, warf Andy ein.

„Halts Maul! Du bist doch unsere Oberschwulette mit deinen feinen Lederslippern“, posaunten Mettel und ich gleichzeitig heraus und lachten uns schlapp.

„Na, dann gehe ich meinen Begleitdamen als Friedensangebot gleich mal ein Schlückchen Erdbeer-Bowle kaufen“, warf uns Andy in übertrieben affektierter Art entgegen.

„Das sind doch tolle Aussichten. Lass uns jetzt aber mal rein, sonst piescher ich mir noch in meinen rosa Schlüpfer“, beendete Mettel unseren verbalen Ausflug ins Groteske.

Nachdem wir alle eine Stange Wasser in die Ecke stellten und ich den Zustand meiner Frisur überprüft hatte, enterten wir den Tresen und schauten uns um. Sie spielten hier im Kaiserkeller zwar Musik nach unserem Geschmack, aber der geringe Anteil von attraktiven Mädchen, machte uns doch unsicher, ob wir länger als auf ein Kaltgetränk bleiben sollten. Nach kurzer Beratung waren wir uns einig, ins Grünspan weiterzuziehen.

Nach einem einminütigen Fußmarsch hatten wir unser Ziel erreicht. Wir hörten von den legendären und progressiven Rockpartys, die hier regelmäßig stattfanden. Unsere Erwartungen sollten nicht enttäuscht werden. Das Gebäude stammte bereits aus dem Ende des 19. Jahrhunderts und wurde zu dieser Zeit schon als Tanzsalon genutzt. Als wir das Grünspan betraten, huschten wir sofort die Treppe zur Empore hoch, da wir hier den besten Überblick auf das rege Treiben hatten. An die Wände wurden psychodelische Lichteffekte projiziert, die auf den Sound der Musik abgestimmt waren. Die dadurch erzeugte Stimmung machte die Wahrnehmung der einzelnen Titel zu einem noch intensiveren Erlebnis. Mettel und mich hielt es nicht lange an unseren Plätzen. Nachdem wir unser Bier geleert hatten, stürmten wir auf die Tanzfläche und feierten richtig ab.

Etwa nach einer halben Stunde setzte die Nebelmaschine ein und ich sah die Hand vor Augen nicht. Plötzlich spürte ich eine Hand an meinen Hintern und die andere strich mir über die Brust hinweg zu meiner Schulter und streichelte mir den Nacken. Aufgrund des Nebels hatte ich keine Ahnung wer oder was das war. Nun bewegte sich auch die zweite Hand von meinem Gesäß über meinen Rücken zum Nacken aufwärts, so dass ich eng umschlungen kurz inne hielt und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Dann spürte ich einen Kopf, der sich sanft an meine Brust schmiegte und die zarten Rundungen einer Frau. „Puh!“ dachte ich, „zum Glück kein liebestoller Homo!“ Nun ging ich auch in die Offensive und legte meine Hände auf ihren in einer Lederhose verpackten Knackarsch. Der Nebel ließ immer noch nicht nach, aber unsere Tanzbewegungen wurden immer eindeutiger. Wir bewegten uns rhythmisch zur Musik - einer coolen Nummer von The Doors mit dem Titel „Soul Kitchen“ - und ich genoss diese magische Begegnung in vollen Zügen. Mittlerweile löste sich der Dunst etwas auf und ich konnte langsam Umrisse einer zierlichen jungen Blondine erkennen. Wir tanzten weiter sehr eng aneinander geschmiegt. Sie neigte ihren Kopf sanft nach hinten und ihre lockigen blonden Haare offenbarten erstmals ihr Gesicht. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Sie war richtig hübsch und durch den Smokey-Eye-Effekt wirkten ihre Augen richtig mystisch. Ich schätzte sie so auf Anfang Zwanzig, so dass mir die ganze Situation noch surrealer erschien. Wir tanzten eine zweite Nummer in gleicher Weise. Als der Titel endete, nahm sie mein Gesicht in beide Hände, küsste mich auf den Mund, drehte sich um und verschwand wortlos von der Tanzfläche. Ich spürte gleich, dass es keinen Sinn machte, hinterher zu stürzen, um ihren Namen zu erfahren. Ich blieb einfach auf der Tanzfläche und lächelte in mich hinein.

„Was war das denn für ‘ne Nummer eben?“, löcherte mich Andy

„Ehrlich gesagt, kann ich dir das nicht beantworten!“

„Was für eine Monsterbraut! Die hatte ja alles, was ich zum Glücklichsein brauche“, schwärmte Mettel.

„Ich wusste auch nicht, wie mir geschah! Sie hing mir plötzlich am Hals und das fühlte sich einfach großartig an!“, gab ich völlig geflasht zurück.

Dieser Moment war für mich ganz klar der Höhepunkt des Abends. Wir blieben noch einige Zeit und rockten, was das Zeug hielt.

Ich sah die unbekannte Traumfrau nur noch einen kurzen Moment, als sie den Laden verließ und an den Jungs und mir vorbei musste. Sie schenkte mir ein letztes Lächeln und verschwand. Wir waren noch viele weitere Male im Grünspan, aber ich hatte die fremde Schöne dort nie wiedergesehen.

Für uns war die Nacht noch lange nicht vorbei. Wir wollten irgendwo noch einen Absacker zu uns nehmen und machten uns auf den Weg zum Hamburger Berg. Wir gingen die Simon-von-Utrecht-Straße hinunter und entdeckten dort eine kleine Pinte, aus der satte Gitarrensounds dröhnten. Bei einem Blick ins Fenster sahen wir eine leere Couch, über die ein in die Tage gekommenes Motorrad an die Wand montiert war. Auf einer Tafel vor der Eingangstür standen die Worte „Heute, Korn für eine Mark“.

„Das ist doch eine klare Ansage!“, sagte Mettel begeistert.

„Na, dann lass uns mal rein und zum Abschluss stilsicher einen ehrlichen norddeutschen Schnaps verhaften!“, freute sich Andy, wie ein fußkranker Rentner, der nach längerer Zeit des Stehens, Tanzens und Laufens mal wieder gemütlich sitzen wollte.

Wir nahmen also auf dem besagten Sofa unter dem Motorrad Platz und bestellten drei Maurergedecke, also ein Bier und einen Korn für jeden. In dem Laden saßen ausschließlich Motorradfreaks, die jenseits der dreißig waren. Hinter dem Raum, wo wir drei nun saßen, war der eigentliche Gastraum mit Tresen und allem was es brauchte. Den hatten wir von draußen gar nicht gesehen. Überall waren Fernseher an den Wänden montiert, auf denen Musikvideos von Hardrock- und Metal-Größen liefen. Wir wurden vom restlichen Publikum zwar etwas komisch beäugt, weil wir - wie schon im Rock Café - nicht zwingend dem Durchschnittsgast des Etablissements entsprachen, aber alle waren nett und wir fühlten uns wohl.

„Wie heißt der Laden hier eigentlich?“, fragte Andy.

„Ich meine draußen stand Steppenwolf dran. Das passt zumindest zur Einrichtung.“

„So, dann wollen wir uns mal den Korn zu Gemüte führen!“ Wir freuten uns schon auf den wärmenden Effekt des doppelt gebrannten Getreidewassers.

„Na, dann Cheers.“

„Nicht lang schnacken, Kopf in Nacken!“, forderte Mettel uns zum Trinken auf.

Wir klopften kurz die Korngläser auf den Tisch und kippten dann den hochprozentigen Alkohol mit einem Zug hinunter.

„Man, schmeckt das scheiße. Da könnte ich glatt noch einen von vertragen!“, rief ich den beiden zu und musste mich kurz schütteln.

Wir saßen gemütlich auf dem Sofa im Steppenwolf, tranken ein paar weitere Absacker und ließen die Geschehnisse der Nacht Revue passieren. Alle Drei kamen wir zu dem Entschluss, dieser Abend würde uns noch lange in Erinnerung bleiben, besonders mir.

Achtung, MÄNNERABEND!

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