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Eine gute Frage

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Die Kunst zu fragen ist nicht so leicht als man denkt; es ist weit mehr die Kunst des Meisters als die des Schülers. Man muss viel gelernt haben, um über das, was man nicht weiß, fragen zu können.“

Jean-Jacques Rousseau

Nach dem verlorenen Fußballspiel und der durchzechten Nacht war ich am Sonntagabend so müde und kaputt, dass ich mich schon gegen sieben in mein Zimmer zurückzog und einfach nur schlafen wollte. Glücklicherweise war der Montag schulfrei, da wir Pfingsten hatten und ich den zusätzlichen freien Tag nutzten konnte, um zu faulenzen und wieder frische Energie zu tanken. In etwas über einer Woche waren schon Sommerferien, die wir alle sehnlichst herbeiwünschten.

Am Dienstag kam ich einigermaßen ausgeruht in die Schule und war gespannt, was Ernie erzählen würde, wann er am Sonntagmorgen die besetzten Häuser verlassen hatte. Außerdem war ich neugierig, von Andy und Mettel zu hören, was sich auf Friederikes Party ereignet hatte. In der ersten großen Pause hockten wir uns in gepflegter Herrenrunde zusammen und tauschten uns aus.

„Na Rene, wie bist du denn Sonntag nach Hause gekommen?“, fragte Ernie mich kichernd.

„Ich bin irgendwann morgens völlig strunzig aufgewacht und wusste überhaupt nicht, wo ich war“, antwortete ich.

„Das ging mir ähnlich. Ich hatte dich gesucht, aber du warst nicht auffindbar.“

„Ich war irgendwie in einer Bude im zweiten Stock“, versuchte ich die Geschehnisse zu rekonstruieren.

„Ach, siehste, ich war in der vierten Etage!“

„An die letzten Stunden kann ich mich auch nicht mehr wirklich erinnern. Ich hatte ‘nen totalen Filmriss!“

„Dat war aber auch ‘ne geile Nacht, Hut ab!“, grinste Ernie.

„Was habt ihr denn gemacht?“, fragte Mettel neugierig.

„Och, wir waren erst bei mir zum Vorglühen und danach ging es ins Logo!“, klärte Ernie die anderen auf.

„Jo, da waren echt super Bands, richtig geile Mucke! Anschließend waren wir in der Hafenstraße und haben dort Party gefeiert“, prahlte ich stolz.

„Ging halt ein bisschen länger als gedacht! Hast du es eigentlich noch rechtzeitig zu deinem Fußballspiel geschafft?“, wandte sich Ernie grinsend an mich.

„Ja, allerdings mit Hängen und Würgen! Wir haben das Spiel dann auch noch durch eine Fehlentscheidung des Schiris verloren und sind nur Vizemeister geworden“, ärgerte ich mich noch immer.

„Und, wie war’s bei euch?“, bezog Ernie unsere Kumpels mit in das Gespräch ein.

„Wenn ich eure Geschichten so höre, waren Andy und ich echt auf ‘nem Kindergeburtstag!“, gab Mettel zu.

„Eigentlich war es ganz okay! Von Exzessen waren wir natürlich weit entfernt, die Drinks waren mittelprächtig und die Mucke weitestgehend grausam. Aber von diesen Kleinigkeiten abgesehen, war es ‘ne ordentliche Party“, meinte Andy etwas selbstironisch.

„Die Weiber waren super! Zumindest die, die wir vorher nicht kannten“, verriet uns Mettel ganz im Vertrauen und lachte schäbig.

„Ach Rene, was dich vielleicht interessieren sollte, rate mal wer noch da war?“, machte es Andy plötzlich spannend.

„Ich habe so eine Vermutung, aber sag mal, wer?“

„Wolfgang und der bekloppte Jochen.“

„Ach du Scheiße, mit Wolfgang hatte ich ja gerechnet, aber dass sie den Asi Jochen eingeladen hat, oh man! Gab es denn Ärger?“

„Nö, der Typ war so bräsig, der hat mich nicht mal erkannt. Ich bin jetzt übrigens sein bester Freund. Der hat mich vielleicht zugetextet. Das ist echt ein super Schwachmat!“, amüsierte sich Andy.

„Na gut, dass ich nicht da war, meine Anwesenheit hätte nur den nächsten Konflikt heraufbeschworen.“

„Ich hätte das lustig gefunden!“, meinte Mettel.

„Das glaube ich dir gerne. Du warst ja damals im Madhouse nicht dabei.“

„Aber auch den Abend hätte ich zu gerne miterlebt, Rene.“

„Und? Wurde ich außer von euch, von jemanden anders auch vermisst?“

„Nö! Naja doch, Marion und die anderen Mädels waren schon etwas traurig. Die verstehen halt nicht, was in dich gefahren ist“, sagte Andy.

„Was Friederike denen wohl erzählt hat?“

„Das kann ich dir auch nicht sagen“, meinte Andy.

„Ich weiß da ein bisschen mehr“, sagte Mettel vielsagend und fuhr fort: „Du hattest mich ja gebeten, mal mit Rosa zu sprechen und es war echt interessant, was ich da zu hören bekam.“

„Na, mach es mal nicht so spannend, Alter!“

„Also, Friederike hat Rosa wohl erzählt, dass du jede anbaggerst, die irgendwie einen Rock trägt und die Mädchen nur ins Bett bekommen möchtest. Die Masche sollst du angeblich bei Friederike auch schon mehrfach versucht haben und sie hat dich jedes Mal abblitzen lassen.“

„Das ist doch absoluter Blödsinn. Klar fand ich Friederike anfangs echt gut und habe auch mit ihr geflirtet, aber ich habe nie versucht, sie für einen One-Night-Stand in die Kiste zu bekommen. Was für ein Luder!“, schüttelte ich empört den Kopf.

„Jetzt kann ich auch verstehen, warum Rosa so reserviert reagiert hat. Sie wollte einfach ihre Schwester vor dem angeblichen Weiberheld Rene Walther schützen“, meinte ich entsetzt.

„Ich habe Rosa natürlich sofort gesagt, dass du nicht so einer bist und ich mich nicht daran erinnern könnte, dass du Friederike oder ein anderes Mädchen jemals so angebaggert hast. Sie hatte zwischenzeitlich auch noch mal mit Jasmin gesprochen und die meinte nur, dass du dich ihr gegenüber äußerst nett und zurückhaltend verhalten hättest“, sagte Mettel.

„Siehst du! Endlich bestätigt jemand mal meine Version der Ereignisse.“ Mittlerweile begann ich schon, an mir selbst zu zweifeln.

„Warte, geht ja noch weiter! Rosa sprach daraufhin Friederike unter der Woche noch einmal auf ihre Behauptung an, weil sie durch die Aussagen ihrer Schwester ziemlich skeptisch war, was den Wahrheitsgehalt von Friederikes Äußerungen anging. Sie behauptete daraufhin, dass das genau deine Masche sei, den Verständnisvollen heraushängen zu lassen, um dann irgendwann dein wahres Gesicht zu offenbaren.“

„Ich werde wahnsinnig, dieses Märchen kann die Alte doch nicht ernsthaft erzählt haben?“

„Naja, auf jeden Fall konnte sich Rosa so ein Verhalten bei dir nicht vorstellen und fragte Friederike daraufhin, ob sie auf dich stehen würde und deshalb einen Keil zwischen dir, ihrer Schwester und alle anderen treiben wolle?“, erzählte Mettel.

„Oh, wow! Und wie hat Friederike reagiert?“

„Echt abgewichst! Sie hat behauptet, dass sie tatsächlich für dich Gefühle hegt und extra für dich mit Wolfgang Schluss gemacht hat. Du aber daraufhin sehr kühl reagiert haben sollst und angeblich nicht an einer festen Beziehung interessiert warst, für gelegentlichen Sex aber durchaus empfänglich“, führte Mettel weiter aus.

„Ganz schön harter Tobak. Was führt die im Schilde? Ist ihr Getue nur gekränkte Eitelkeit?“, fragte ich mich für alle hörbar.

„Allerdings, so ‘ne Nummer hätte ich Friederike auch nicht zugetraut“, sagte Andy sichtlich betroffen.

„Und was willst du jetzt machen?“, fragte mich Mettel.

„Das kann ich dir sagen! Ich glaube, ich werde mal mit ihr reden!“

„Au weia! Heute noch?“

„Mal sehen“, gab ich mich cool.

Nach dem neuesten Input von Mettel überlegte ich den Rest des Tages, was jetzt das Beste wäre, diese untragbare Situation aufzulösen und Friederike den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ich war schon sehr gekränkt, wie sie mich bei Rosa und den anderen dargestellt hatte. Wenn es wenigstens der Wahrheit entsprochen hätte. Wie sollte ich darauf nur reagieren? Ich ließ mir bis zum Ende der Woche Zeit, das Gespräch mit ihr zu suchen.

Am Donnerstag bekamen wir dann unsere Chemiearbeit zurück. Ich hatte mal wieder eine drei und war ganz zufrieden. Mettel hatte eine glatte sechs und anschließend einen Termin beim Schuldirektor, weil Herr Brettschneider sich von ihm völlig verarscht vorkam.

„Manche Schüler meinen wohl, wir wären hier bei der Lach- und Schießgesellschaft oder die Schule wäre ein Kasperletheater? Aber so ein Verhalten wird ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen!“, ereiferte sich Herr Brettschneider und klatschte Mettel seine Arbeit auf den Tisch.

„Ich lasse mir diese Unverschämtheit nicht länger gefallen. Ich weiß, Chemie wird nie euer Lieblingsfach, aber das ist echt die Höhe. Hältst du mich für einen Idioten?“, brüllte der Brettschneider mit hochrotem Kopf und stand immer noch vor Mettels und meinen Tisch. Nach seinem kurzen Ausbruch sammelte er sich wieder und verteilte die restlichen Klassenarbeiten ohne einen weiteren Satz zu sagen.

„Ey Mettel, was hast du denn gemacht, dass der Brettschneider so ausrastet?“, fragte ich und er schob mir seine Arbeit wortlos mit einem merklichen Schmunzeln zu.

Ich schaute mir seine gesammelten Werke an und brach sofort in Gelächter aus. Auf die Frage, wie der chemische Aufbau eines Fettmoleküls aussehe, hatte Mettel eine Margarinenverpackung aufgemalt und sie mit „Rama, die Gute!“ beschriftet. Über die Margarinenschachtel war eine Lupe zu sehen, die einen Punkt in der Schachtel vergrößerte. Diesen Punkt hatte Mettel dann als Fettmolekül ausgewiesen. Die Idee war sensationell, nicht vorhandenes Wissen so genial zu verpacken. Es hatte den Anschein, er hätte sich ernsthaft mit der Materie auseinandergesetzt, auch wenn Herr Brettschneider anderer Meinung war. Bei der Frage, die wir uns selbst stellen durften, hatte Mettel sich selbst nach der Molekularstruktur von menschlichen Exkrementen gefragt und sie mit den Worten beantwortet: „Eine echt interessante Frage, aber woher soll ich den Scheiß wissen!“ Alles gipfelte darin, dass er an den Rand des Arbeitsblattes eine kauernde und kotzende Person gezeichnet hatte und diese mit der Sprechblase versah: „Oh Gott, zu viel Chemie bekommt mir einfach nie!“ Die anderen Fragen hatte er mit gängigen Werbeslogans beantwortet, die er entsprechend auf seine Abneigung für das Fach Chemie umgetextet hatte. Aus „Willst du viel, spül mit Pril“ wurde kurzerhand „Kotzt du nie, versuch’s mit Chemie“. Den lustigsten Text hatte Mettel aus „Schönes Haar ist dir gegeben, lass es leben mit Gard“ kreiert. Er machte hieraus einfach „Ein hoher IQ ist dir gegeben, lass ihn leiden mit Chemie“. Ich war total begeistert und hätte als Lehrer mindestens eine vier gegeben, weil diese Form der Kreativität schon beachtlich war. Mettels Arbeit kreiste natürlich durch die Klasse und er war der Star des Tages, selbst Ernie musste anerkennend grinsen.

Ich hielt den Freitag für einen idealen Tag, um mit Friederike ein klärendes Gespräch zu führen. In der zweiten großen Pause ging ich zu ihr und bat sie um ein paar Minuten ihrer kostbaren Zeit. Sie willigte ein und ich ließ die Bombe platzen. Im Augenwinkel bekam ich mit, dass die meisten unserer Clique mit Spannung darauf warteten, was jetzt passierte und uns genau beobachteten. Sie waren sehr erstaunt, als sie sahen, wie Friederike mich nach etwa fünfminütiger Unterredung umarmte, wie wir uns herzlich drückten und wie wir beide strahlend und demonstrativ Hand in Hand den neugierigen Blicken entgegenschritten. Unsere mitfühlenden Klassenkameraden waren einerseits sehr erfreut, dass wir uns wieder vertrugen, aber auch sehr wissbegierig darauf, zu erfahren, was da nun genau passiert war. Ich dachte mir nur: „Wow, meine Strategie ging voll auf.“ Die kurze aber richtungsweisende Unterhaltung zwischen uns beiden verlief ungefähr so:

„Danke, dass du dir einen kurzen Moment Zeit für mich nimmst. Wir sind letzte Woche ja ziemlich aneinander gerasselt“, fing ich an.

„Allerdings!“, schaute Friederike betrübt.

„Ich wollte mich bei dir in aller Form für meinen Ausbruch entschuldigen und dich ebenfalls für meine sehr unflätige Ausdrucksweise um Entschuldigung bitten. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen. Du weißt ja, es ist immer leichter die Fehler bei den anderen zu suchen, als das eigene Fehlverhalten anzuerkennen. Ich hatte nicht das Recht, dich so zu kritisieren“, tat ich reumütig.

„Ich habe auch überreagiert. Das tut mir leid.“

„Es war für mich, mit ein paar Tagen Abstand, vollkommen nachvollziehbar, dass ich nicht zu deiner Fete kommen durfte, was ich natürlich sehr schade fand. Wie war’s denn eigentlich?“, heuchelte ich mein Interesse vor.

„Klar war ich durch den Streit nicht gut drauf und konnte nicht so unbeschwert feiern, wie ich es eigentlich vorhatte. Ich war so wütend, dass ich sogar den Schwachkopf Jochen und meinen Ex Wolfgang nachträglich eingeladen hatte. Die Party war aber ganz okay! Du hast mir schon irgendwie gefehlt, ein guter Tänzer weniger!“ Ich nickte und freute mich über den bisherigen Verlauf unserer Unterhaltung.

„Ach so, bevor ich es vergesse, alles Liebe nachträglich zum Geburtstag.“ Während ich das sagte, zog ich ein kleines Geschenk aus meiner Jackentasche und überreichte es ihr. Damit machte ich endgültig den Deckel drauf.

„Och, das ist aber lieb, vielen Dank!“

Friederike öffnete das Geschenkpapier und es kam eine Kassette mit dem Logo vom Madhouse zum Vorschein.

„Ich hab dir auf diesem Band alle Lieder zusammengestellt, zu denen wir bei unseren zahlreichen Besuchen im Madhouse getanzt hatten“, raspelte ich weiter Süßholz.

„Wow, bis auf unseren ersten Besuch hatten wir ja immer viel Spaß dort!“, lächelte mich Friederike vielsagend an.

„Erinnere mich nicht daran! War halt Pech, dass damals Jochen dort auftauchte. Ich glaube wir sollten einfach diese kleinen Unstimmigkeiten beiseite schieben. Eigentlich ist ja nichts Gravierendes passiert. Was meinst du?“, fragte ich mit leicht betroffener Miene.

„Das finde ich auch und vielen Dank für das tolle Geschenk. Lass dich mal drücken!“

In der Woche vor dieser Unterhaltung hatte ich mir genau überlegt, was das Beste für mich sein würde, um die verquere Situation zu meinen Gunsten zu bereinigen. Ich hatte mich dazu entschlossen, über meinen Schatten zu springen, da es sich nicht lohnte, die Gemeinschaft unserer Clique durch Beibehaltung meines Standpunktes zu belasten. Ich fand die Nummer, die Friederike mit Rosa abgezogen hatte, wirklich nicht sonderlich originell, allerdings war das Motiv ihres Handelns wiederum sehr schmeichelhaft für mich. Durch diesen für einen Jugendlichen unheimlichen Erkenntnisgewinn, entschied ich mich richtigerweise für den Weg der Versöhnung. Alle fanden es toll, dass die Ungereimtheiten zwischen uns nun endlich geklärt waren und hoben anerkennend den Daumen. Sieger nach Punkten: Rene Walther!

So ging ich am darauf folgenden Mittwoch und nach einem komplett ereignislosen Wochenende mit einem guten Gefühl in die wohlverdienten Sommerferien. Meinen Notendurchschnitt aus dem Halbjahreszeugnis hatte ich exakt gehalten. Ich freute mich tierisch auf den nächsten Samstag. Es war der 20. Juni 1987 und mein HSV stand in Berlin im Pokalfinale gegen den Zweitligisten Stuttgarter Kickers. Auf dem Weg ins Finale hatten wir unter anderem Sankt Pauli mit 6:0 vom Platz gefegt und damit gleichzeitig die inoffizielle Stadtmeisterschaft gewonnen. Der FC Bayern München, unser größter Konkurrent zu dieser Zeit, war schon recht früh durch ein 0:3 gegen Fortuna Düsseldorf aus dem Wettbewerb ausgeschieden. Sie hatten allerdings die Deutsche Meisterschaft gewonnen und damit den HSV auf Platz 2 verwiesen. Daher war es für uns Fans unheimlich wichtig, dass wir weiterhin die Aussicht auf einen Titel hatten.

Der Samstagmorgen begann wie gewöhnlich die Wochenenden bei den Walthers. Zwischen zehn und halb elf trafen wir uns am Frühstückstisch. Es gab frische Brötchen, herzhaften Aufschnitt, leckeren Käse, selbstgemachte Marmelade meiner Oma Magda und Imkerhonig aus der Region. Meine Eltern tranken Kaffee, ich machte mir einen Kakao und mein Bruder Philipp löste sich extrem süßes Zitronenteegranulat in Mineralwasser auf, ein ekelhaftes Zeug. Die Mahlzeiten bei uns waren oft die einzige Zeit, die wir komplett zu viert in einem Raum versammelt waren. Wir nutzten besonders am Wochenende die Gelegenheit des gemütlichen Zusammenseins, um Neuigkeiten auszutauschen und ausgiebig zu plaudern.

Philipp und ich waren schon heiß wie Frittenfett und konnten den Anpfiff des DFB-Pokal-Endspiels kaum erwarten. Die Chancen standen außergewöhnlich gut, dass der Titel nach Hamburg gehen würde. Unser Gegner aus der zweiten Bundesliga hatte nominell das schlechtere Spielermaterial zur Verfügung, wie es im Fußballerjargon so schön heißt. Leider kamen wir beim Kartenvorverkauf für das Spiel viel zu spät und durften damit, dieses Ereignis nicht direkt im Berliner Olympia-Stadion erleben. Es war aber auch verrückt, innerhalb von einer Stunde waren sämtliche Tickets aus dem Hamburger Kontingent vergriffen. Die meisten von den Glücklichen, die nun nach Berlin reisten, hatten tatsächlich vor den Kartenverkaufsstellen übernachtet. Wir mussten uns nun das Finale vom heimischen Sofa im Fernsehen anschauen. Dieser Umstand konnte unsere Begeisterung aber auch nicht schmälern. Philipp spielte genau wie ich in der Jugend vom VFL Geesthacht und hatte wesentlich mehr fußballerisches Talent von unserem Vater mitbekommen. Er war etwas über drei Jahre jünger als ich und hatte bereits für die Hamburger Auswahl seines Jahrgangs vorspielen dürfen. Leider wurde er bei dem entscheidenden Testspiel als Verteidiger eingesetzt und kam mit der für ihn ungewohnten Position nicht zurecht. So fiel er durch und war natürlich riesig enttäuscht über sein Abschneiden. Mein Vater und ich machten ihm Mut, dass es vielleicht im nächsten Jahr besser laufen würde.

Es war kurz vor 18:00 Uhr, die Mannschaften liefen auf und nahmen links und rechts vom Schiedsrichtergespann Aufstellung. Die Nationalhymne ertönte und die Vorfreude auf das Spiel stieg bei uns ins Unermessliche. Es waren mehr als zwanzigtausend Anhänger des HSV im Stadion, die schon vor dem Spiel für reichlich Stimmung sorgten. Philipp und ich hatten unsere HSV-Trikots an und trugen einen blau-weiß-schwarzen Fan-Schal um den Hals. Die Partie wurde vom Unparteiischen angepfiffen. Die Stuttgarter spielten überraschend offensiv und der HSV wusste zunächst, nichts damit anzufangen. In der zwölften Minute tankte sich Baffoe auf der rechten Angriffsseite durch und konnte ungehindert in den Strafraum flanken. Dort wartete schon der Stuttgarter Kurtenbach, um den Ball wuchtig und unhaltbar an Uli Stein vorbei ins linke Eck zu köpfen. Wir waren über den bisherigen Spielverlauf erstaunt und der frühe Rückstand entsetzte uns geradezu. Selbst mein Vater schüttelte fassungslos den Kopf.

„Ich hoffe, dass jetzt alle Spieler wach sind, Mann, Mann, Mann, der Treffer war zu einfach“, stellte ich enttäuscht fest.

„Die müssen jetzt echt ‘ne Schippe drauflegen“, meinte mein Paps.

Es folgte der Anstoß des HSV. Nach einigen kurzen Ballstafetten kam das Leder auf rechts zu Kastell, der allerdings von einem Stuttgarter gefoult zu Boden ging. Den fälligen Freistoß schlug Kaltz in die Mitte, die Stuttgarter konnten zunächst klären, aber Okonski sicherte sich den Ball auf der linken Seite und sein Flankenversuch wurde ins Seitenaus geblockt. Nach dem Einwurf brachte der HSV die Kugel wieder gefährlich in den Strafraum und der Hamburger Jusufi kam bei dem Versuch, den Ball zu verarbeiten, zu Fall. Der Schiedsrichter ließ weiterspielen und die Stuttgarter versuchten ihrerseits, wieder vor das Hamburger Tor zu gelangen. Eine harmlose Flanke fing Stein ab und leitete den nächsten Angriff des HSV ein. Der Ball gelangte über einige Stationen zu Manni Kaltz, der aus dem rechten Halbfeld einen genialen Pass auf den von hinten gestarteten Beiersdorfer in den Stuttgarter Sechzehner spielte. Beiersdorfer zog im Fallen direkt ab und versenkte die Kugel rechts unten im Tor. Wir jubelten! Drei Minuten nach dem Rückstand war der Ausgleichstreffer für den HSV die richtige Antwort auf die verpennte Anfangsphase. Es ging mit dem Spielstand von 1:1 in die Halbzeit.

„Ich hätte nicht gedacht, dass das Spiel so eng wird“, sagte Philipp etwas ernüchtert.

„Komm, in der zweiten Halbzeit wird’s besser. Da werden den Stuttgartern die Kräfte schwinden und der HSV zu mehr Chancen kommen“, meinte ich aufmunternd.

„Wenn sie das Spiel heute nicht gewinnen, möchte ich nicht wissen, was in der Stadt los ist?“, äußerte sich unser Vater skeptisch.

„Ach, du schon wieder, die werden nicht verlieren und wenn doch, bist du schuld, weil du es jetzt herbeigeredet hast“, sagte ich.

„Papa, du gehst besser raus. Du bringst ohnehin immer Pech, wenn du bei einer Live-Übertragung oder im Stadion dabei bist!“, wandte sich Philipp mit ernstem Gesichtsausdruck an meinen Vater.

Der lachte nur und meinte: „Das ist doch nicht dein Ernst. Die spielen wie die letzten Würste und ich soll schuld sein, wenn die verlieren?“

„Jaaaaa!!!“, riefen wir beide und versuchten ihn aus unserem Wohnzimmer zu schmeißen. Leider mit wenig Erfolg.

„Geh mal auf die Terrasse, eine rauchen oder such Mama! Der zweite Durchgang wird gleich angepfiffen“, sagte ich kiebig.

Unsere Mutter hatte sich schon lange vor Spielbeginn zu einer Nachbarin verzogen, weil sie Fußball so gar nicht interessierte.

„Ich lass mich doch von euch Flitzpiepen, nicht aus meinem eigenen Wohnzimmer vertreiben“, lachte er und deutete auf den Fernseher: „So, es geht weiter, Ruhe jetzt!“

Die zweite Halbzeit war bis zur 88. Minute zwar spannend, aber das Niveau ließ weiterhin eine Steigerung erhoffen. Plötzlich wurde Okonski kurz vor dem Strafraum gefoult. Kaltz legte sich den Ball etwa 23 Meter vom Tor entfernt zum Freistoß bereit.

„So alle anschnallen! Manni knallt ihn jetzt rein“, rief ich voller Überzeugung.

„Soll ich jetzt rausgehen?“, fragte mein Vater scherzhaft.

„Das wäre echt besser!“, antwortete Philipp ganz trocken.

„Okay, dann tue ich euch den Gefallen, um zu beweisen, dass ihr mit eurer komischen Theorie voll daneben liegt. Das wird ja eh nichts. Die müssen sicher in die Verlängerung.“

„Raus!“, rief Philipp.

Unser Paps verließ den Raum und stellte sich in den Flur, von dem er immer noch einen guten Blick auf den Bildschirm hatte.

Kaltz lief an und schlenzte den Ball rechts an der Mauer vorbei ins Tor. Wir sprangen auf und jubelten: „Tooor, Tooor!“

Es stand nun 2:1 für den HSV und es war nur noch eine Minute offiziell zu spielen.

„So, du bleibst jetzt draußen, bis der Schiri abpfeift“, ärgerte Philipp weiter jubelnd unseren Vater. Der stand immer noch im Flur und begriff gerade, was diese Aktion künftig für ihn bedeutete. Bis in die Gegenwart hinein ist es bei uns in der Familie ein Running Gag, meinen Vater aus dem Raum zu schicken, wenn es beim gemeinsamen Fußballschauen für den HSV nicht so gut läuft. Leider kommt das in letzter Zeit öfter vor.

Freitag, 21:42 Uhr: Mehr als 25 Jahre später bei unserem Männerabend springen Andy und ich johlend vom Sofa auf und klatschen ab. Der HSV erzielt den Ausgleich in der 62. Minute.

„Das wurde jetzt aber auch Zeit, verdammt noch mal. Ich dachte, die treffen heute gar nicht mehr, bei den Chancen, die sie bisher liegen gelassen haben“, freut sich Andy.

„Der Ausgleich war jetzt aber auch verdient!“, nicke ich zustimmend.

„Jetzt müssen sie genauso weitermachen und ich brauch ein frisches Getränk. Die Spannung bei diesem Kick macht mich echt durstig!“

Andy nutzte die Jubelpause, um frisches Eis aus der Küche zu holen. Wir waren bereits, wie angekündigt, von Bier auf Cuba Libre umgestiegen. Der Blue Mauritius schmeckte auch im Longdrink mit Cola und Limette äußerst lecker.

„So, weiter geht’s! Jetzt muss der Führungstreffer her“, sage ich erwartungsfroh gestimmt.

Zurück im Jahr 1987 freuten wir uns im elterlichen Wohnzimmer immer noch über den Führungstreffer. Die Stuttgarter stießen an und versuchten alles nach vorne zu schmeißen. Der HSV sicherte sich den Ball und ein langer Pass erreichte Frank Schmöller. Er setzte sich geschickt und mit Tempo auf der rechten Seite durch, dabei umkurvte er einen Gegenspieler und schoss den Ball scharf in Richtung gegnerisches Tor. Der Stuttgarter Schlotterbeck schob die Kugel bei seinem Rettungsversuch unglücklich ins eigene Netz. Das Spiel war entschieden. Der HSV sicherte sich den Pokal mit einem letztlich verdienten 3:1 Sieg. Nach Ende der Fernsehübertragung klingelte sofort das Telefon bei uns. Es war Andy.

„Hey Alter, hast du das Spiel eben gesehen?“, meldete sich Andy, nachdem er wusste, dass ich auch am Hörer war.

„Klar doch!“

„Sensationell, wie geil ist das bitte schön, nach vier langen Jahren endlich wieder einen Titel zu gewinnen.“

„Wir haben uns auch riesig gefreut!“, lachte ich.

„Morgen wird die Mannschaft auf dem Rathausmarkt empfangen, wollen wir da hin?“

„Wäre schon groß, die Jungs und den Titel dort zu bejubeln. Ich frag mal meinen Dad, ob er einverstanden ist, weil wir eigentlich zum Kaffeetrinken bei meiner Oma eingeladen sind und wir ja am Mittwoch nach Italien aufbrechen“, sagte ich und legte den Hörer kurz beiseite.

„Hey Papa, ist es in Ordnung, wenn ich morgen mit Andy zum Empfang der HSV-Mannschaft nach Hamburg fahre?“

„Ich will aber auch mit!“, grölte Philipp dazwischen.

„Du bist noch zu klein, außerdem musst du morgen zu Oma!“, sagte ich genervt, weil ich keine Lust hatte, Philipp mitzunehmen.

„Hey, bin ich gar nicht. Ich hau dir gleich eine rein, dann zeige ich dir, wie klein ich bin“, empörte sich mein Bruder.

„So, Ruhe jetzt! Du kannst gerne fahren, aber deinen Bruder nimmst du gefälligst mit.“

„Och, muss das sein?“, versuchte ich das Unausweichliche noch abzuwenden.

„Das ist mein letztes Wort und ihr seid dann spätestens um acht wieder zu Hause!“, sagte mein Vater keinen Widerspruch duldend.

Philipp jubelte und streckte mir demonstrativ die Zunge heraus.

„Andy, da bin ich wieder. Geht klar, allerdings haben wir meinen nervigen kleinen Bruder an der Backe.“

„Kein Problem, ich wollte eh nicht so lange bleiben. Am Montag fliege ich mit meiner Mutter für zwei Wochen nach Ibiza.“

„Kommt, dein Vater nicht mit?“

„Nö, der muss leider arbeiten. Irgendein wichtiger Geschäftsabschluss steht bevor.“

„Okay, ich verstehe! Wollen wir uns gegen zwei am Bergedorfer Bahnhof treffen?“, fragte ich wieder auf unser Ursprungsthema zurückkommend.

„Prima, lass uns das machen.“

„Ich frage meinen Kumpel Strauchi, ob er auch Lust hat.“

„Mach das, dann lerne ich meinen Namensvetter endlich mal kennen“, freute sich Andy. Wir verabschiedeten uns und ich rief gleich danach Strauchi an. Der war von der Idee restlos begeistert, obwohl wir Philipp mitnehmen mussten.

Am nächsten Tag fuhren Strauchi, Philipp und ich gemeinsam mit dem Bus zum Bergedorfer Bahnhof. Andy war schon da und begrüßte uns freudig. Er hatte drei Bier und eine Cola als Wegzehrung für die Fahrt mitgebracht.

„Und wer von euch trinkt die Cola?“, fragte mein vorlauter Bruder.

„Derjenige, der noch keine Haare am Sack hat“, konterte Strauchi lässig.

„Für meine Haare da unten brauch ich sogar ‘nen Lockenstab“, meinte Philipp aufmüpfig.

„So halt die Klappe jetzt, du kleiner Bettnässer, sonst setze ich dich in den nächsten Bus nach Hause“, gab ich Philipp unmissverständlich zu verstehen und drückte ihm, schon leicht genervt, die Cola in die Hand.

Die anderen beiden amüsierten sich köstlich über den Auftritt des kurzen Walthers. Es war schon eine witzige Begebenheit, dass nun zwei Strauchs und zwei Walthers zusammen unterwegs waren. Andy und Strauchi verstanden sich auf Anhieb und wir freuten uns gemeinsam darauf, die Mannschaft zu bejubeln und den Pokalsieg zu feiern. Wir waren nicht die einzigen aus dem Bergedorfer Raum, die zum Rathausmarkt wollten. Die S-Bahn war voll mit HSV-Fans, die munter ihre Gesänge anstimmten. Es entstand für Außenstehende tatsächlich der Eindruck, als wäre an diesem Tag ein Spiel gewesen.

Wir stiegen, wie alle anderen, am Hauptbahnhof aus und folgten einfach der Masse. Es bildete sich plötzlich ein riesiger Fantross von mehreren hundert Leuten, der gemeinsam und lautstark über die Mönckebergstraße in Richtung Rathausmarkt zog. Dort angekommen, sahen wir, dass es hier für einen Sonntagnachmittag recht voll war. Wir kämpften uns durch die umstehenden Leute, damit wir uns beim Auftritt der Mannschaft einen freien Blick auf den Balkon des Rathauses sicherten. In der Zwischenzeit besorgte ich am nächsten Kiosk eine weitere Runde Getränke. Wir warteten etwa eine Stunde, bis das Team sich der Öffentlichkeit präsentierte. Es brandete Jubel auf und Fangesänge wurden angestimmt, als Kapitän von Heesen den Pokal in die Höhe reckte.

„Ey, wie geil ist das!“, begeisterte sich Strauchi.

„Endlich wieder ein Pokal in die Hansestadt geholt“, ergänzte Andy.

„Hey, Manni Kaltz nimmt jetzt den Pokal!“, rief ich.

„Manni, Manni, Manni!“, skandierten wir.

„Maaan-freeed Kaltz, Maaan-freeed Kaltz, du bist der beste Mann!“, stimmten wir gleich im Anschluss an, weil er das entscheidende Tor erzielte.

Nun bekam der aus Mittenwald stammende Kultmasseur des HSV, Hermann Rieger, den Pokal überreicht und der Geräuschpegel stieg noch einmal merklich an. Bei keinem anderen Verein war der Masseur genauso ein gefeierter Star wie die Akteure auf dem Platz. Das waren die Besonderheiten, die für mich den HSV ausmachten. Große Tradition gepaart mit einem Stück Verrücktheit, wenn man beispielsweise an die rosafarbenen Trikots aus den Endsiebzigern dachte. Der HSV ging immer mal andere Wege als der Rest der Liga und passte eigentlich nicht in dieses schmucklose Stadion im Volkspark. Dieser Betonklotz war genauso öde wie viele der Fans zu dieser Zeit. Leider verbreitete sich in der Westkurve immer mehr rechtes Gedankengut und es gab zu viele Mitläufer, die diese Parolen einfach mitbrüllten, ohne über die Bedeutung näher nachzudenken. Sie machten pauschal die ausländischen Zuwanderer dafür verantwortlich, dass es so viele Arbeitslose in diesen Jahren in Deutschland gab. Eine etwas einfache Annahme. Diese Entwicklungen auf den Rängen, die schon in den frühen Achtzigern begannen, machten es einem andersdenkenden Jugendlichen teilweise schwer, sich als HSV-Fan zu outen. Die Anhänger des FC Sankt Pauli waren mir mit ihrer Einstellung sehr viel näher. Es ging mir aber um Fußball und nicht um ein gesellschaftspolitisches Statement. Die Liebe zu meinem Verein konnte ich ja nicht einfach so aufgeben, nur weil die Anhängerschaft pauschal für rechtsradikale Idioten gehalten wurde. Schon damals vertrat ich die Meinung, dass politische Gesinnung nichts im Fußballstadion zu suchen hatte. Deswegen kritisierte ich viele, die aus dem Grund einfach das Fanlager wechselten und fortan regelmäßig zu Spielen von Sankt Pauli gingen. Auch die damals angesagte Hamburger Punkband „Slime“ gehörte zu diesen Wendehälsen, weil den Bandmitgliedern angeblich die politische Einstellung von Teilen der HSV-Fans nicht gefallen hatte. Dabei hätten gerade sie, durch ihren Status, die Kultur auf den Rängen verändern können. Trotz dieser allgemeinen Unzufriedenheit über das Image des gewöhnlichen HSV-Anhangs ließen wir uns nicht davon abhalten, den sportlichen Erfolg des Teams gebührend zu feiern.

„Na, werden wir nächstes Jahr wieder Meister?“, fragte Philipp.

„Gute Frage, wenn der HSV noch zwei bis drei richtig gute Neuzugänge verpflichtet und einige junge Spieler gut einschlagen, ist alles möglich“, antwortete ich.

„Vor allen Dingen brauchen wir wieder einen Stürmer wie Seeler oder Hrubesch!“, sagte Strauchi.

„Und der neue Trainer sollte eine klare Spielphilosophie haben. Happel hört ja auf“, ergänzte Andy

„Lassen wir’s heute mal richtig krachen, was interessiert uns jetzt die nächste Saison? Wir sind amtierender Pokalsieger und Vizemeister!“, grölte ich voller Stolz und Freude über den Titelgewinn.

Keiner von uns wusste zu diesem Zeitpunkt, dass es der letzte Titel war, den wir HSVer bis heute feiern durften.

Achtung, MÄNNERABEND!

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