Читать книгу Achtung, MÄNNERABEND! - Mick Rainer - Страница 7
Verkehrte Welt
Оглавление„In der Jugend meinen wir, das Geringste, das die Menschen uns gewähren können, sei Gerechtigkeit. Im Alter erfahren wir, dass es das Höchste ist.“
Marie von Ebner-Eschenbach
Das erste Schuljahr neigte sich fast dem Ende zu. Friederike hatte bald Geburtstag und lud uns zu ihrer Party ein. Unser Verhältnis war in den letzten Monaten wieder so vertraut, dass wir häufiger etwas miteinander unternahmen. Vor allen Dingen hatte sie nach dem vielen Hin und Her endlich mit Wolfgang Schluss gemacht. Bei mir hatte sich in der Zwischenzeit in Sachen Mädchen nicht viel getan, so nährte sich bei mir die Hoffnung, Friederike doch noch für mich gewinnen zu können.
Eine Woche vor Friederikes Geburtstagsparty wollte eine andere Mitschülerin mit uns feiern. Sie hieß Rosa und hatte ein süßes und freundliches Wesen. Sie kam aus Billstedt und leider auch aus schwierigen familiären Verhältnissen. Ihr Erzeuger hatte sich sehr früh aus den Staub gemacht und ihre Mutter mit den Kindern und allen dazu gehörigen Sorgen alleine gelassen. Mama Schütz war sehr bemüht, es ihren Töchtern an nichts fehlen zu lassen, konnte aber auch nicht die Vaterfigur ersetzen. Rosa litt unter der Situation, ohne Papa aufzuwachsen und war dadurch bedingt sehr zurückgenommen und schüchtern im Umgang mit anderen. Sie brauchte ihre Zeit, um zu Menschen in ihrer Umgebung tatsächlich Vertrauen zu fassen. Zudem hatte Rosa etwas Übergewicht, was ihr Selbstwertgefühl auch nicht gerade stärkte. Trotz ihrer Schwierigkeiten war sie eine gute Schülerin und fühlte sich in unserer Klassengemeinschaft gut aufgehoben und voll akzeptiert.
Wir verabredeten uns am Bergedorfer Bahnhof, um gemeinsam zu Rosas Fete zu fahren. Andy, Friederike und ich waren die Ersten am Treffpunkt, nun fehlten nur noch Marion und Mettel. Wir begrüßten uns artig und unterhielten uns ein wenig.
„Na, alle in Party-Laune?“, fragte Andy obligatorisch.
„Geht so!“, meinte Friederike etwas launisch und fügte für uns völlig unerwartet hinzu: „Mir geht Marion mit ihrer anstrengenden Art momentan echt auf den Keks.“
„Was meinst du mit anstrengender Art?“, hakte ich nach.
„Naja, sie ist immer übertrieben gut drauf und so laut. Sie will ständig etwas unternehmen und wie sie neuerdings immer herumläuft, naja.“
„Na und, früher hat dich das doch auch nicht gestört. Marion ist halt ein fröhlicher Mensch und steckt gerne alle um sich herum mit ihrer positiven Energie an“, entgegnete Andy ihr in bester Partystimmung.
„Das finde ich aber auf Dauer echt stressig.“
„Wenn dich das stört, dann musst du ihr es halt sagen. Dafür seid ihr nun mal Freundinnen! Andy, Mettel und ich haben auch jeder unsere Macken und wenn uns was an dem anderen nicht passt, dann kommt das zur Sprache und gut ist“, erwiderte ich voller Überzeugung und Andy nickte zustimmend. „Na, dann fang ich mal an Rene, also...“, zog er mich auf und feixte sich einen.
„Das muss Marion doch merken, dass sie andere mit ihrem Getue nervt.“
„Also mich nervt sie nicht! Im Gegenteil, ich finde es prima, wenn jemand immer gute Laune verbreitet“, grinste ich.
„Wie ungeil! Das war ja klar, dass du dich wieder auf ihre Seite schlägst“, meinte Friederike etwas abfällig.
In dem Moment kam Marion die Treppe zum Bahnsteig hinauf geschlendert und Friederike trat ihr freudestrahlend entgegen. Sie umarmte Marion innig, als hätten sich die beiden über Monate nicht gesehen und sagte ihr: „Ich habe uns beiden Hübschen ‘nen schönen Piccolo für die Fahrt mitgebracht.“
„Sehr schön!“, freute sich Marion und begrüßte uns anderen ebenso herzlich. Die beiden Mädchen gluckten sofort zusammen und ich verstand die Welt nicht mehr. In einem Moment wird gelästert, was das Zeug hält und eine halbe Minute später wird auf Beste-Freundinnen-Modus umgeschaltet.
Ich guckte Andy nur an und äußerte mich verwundert zu Friederikes Auftritt: „Reife schauspielerische Leistung!“
„Weiber halt! Deswegen wickeln sie uns Männer auch immer um den Finger, wenn sie etwas von uns wollen.“
„Andy, aber mal ehrlich, bist du dir sicher, dass sie diese Nummer nicht mit jedem von uns abzieht?“
„Was meinst du?“
„Naja, hinter dem Rücken des anderen zu lästern und sobald der- oder diejenige erscheint, ist alles chico?“, gab ich Andy mit fragendem Blick zu bedenken.
„Das kann schon sein, aber ganz ehrlich, deswegen lass ich mir nicht die Laune verderben. Sollen die Damen das unter sich klären. Für mich ist der Fall erledigt“, meinte er in seiner üblichen pragmatischen Art.
Eigentlich hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen und ich wollte mir vor der Party über etwaige weibliche Befindlichkeiten auch nicht unnötig den Kopf zerbrechen. „Oh sieh mal, Mettel kommt auch schon und er hat Bier dabei.“
Für den Moment hatten wir das Thema abgehakt und wir Jungs fuhren jeder mit einer Dose Holsten bewaffnet nach Billstedt. Ich fragte Mettel, ob er von Ernie etwas zum Rauchen besorgt hatte und er nickte zufrieden. Nach Bahn- und Busfahrt kamen wir endlich bei Rosa an. Auf der Feier war schon ordentlich der Bär los. Wir waren die letzten Gäste, die in der kleinen Dreizimmerwohnung Platz fanden. Beim Hineinkommen fiel mir ein quirliges Mädchen mit kurzen dunklen Haaren und strahlenden blauen Augen auf, die sich angeregt in der Küche unterhielt. Irgendwie kam sie mir bekannt vor. Ich fragte Rosa gleich, wer das sei. Sie antwortete mit einem frechen Grinsen: „Meine Schwester!“ Jetzt wusste ich auch, weshalb ich vorher meinte, sie bereits zu kennen.
„Wie heißt deine Schwester eigentlich?“, fragte ich Rosa ziemlich plump.
„Jasmin!“
„Und wie alt ist Jasmin?“
„Sie ist vor einem Monat süße sechzehn geworden.“
„Und was macht sie so?“
„Jasmin ist im Sommer mit der Realschule fertig und danach fängt sie eine Ausbildung als Krankenschwester an. Bist du jetzt fertig mit deiner Fragestunde oder muss ich gleich noch ein Formular ausfüllen?“, meinte Rosa lachend.
„Nein, nein, das reicht schon an Informationen. Eine Sache muss ich doch noch wissen. Hat Jasmin einen Freund und was trinkt sie gerne?“
„Das sind aber zwei Fragen. Du machst heute wohl keine Gefangenen“, erwiderte sie auf humorvolle Weise und ergänzte: „Nein, Jasmin hat derzeit keinen Freund. Sie hat sich gerade vor einigen Wochen von ihrem Ex getrennt und auf Partys trinkt sie am liebsten Sekt! Sei aber ja lieb zu ihr, sonst bekommst du es mit mir zu tun.“
„Selbstverständlich! Danke Rosa, du bist ein Schatz! Ich werde dich nicht enttäuschen.“
Da mir das Getue und die Lästerei von Friederike am Bahnhof nicht sonderlich gefallen hatte und ich keine Lust auf erneuten Zoff verspürte, dachte ich mir, wäre es sinnvoll, an diesem Abend meinen Fokus auf ein anderes Mädchen zu richten. Ich legte meine übliche Schüchternheit ab und schnappte mir zwei Gläser Sekt. Mit den von Rosa genannten Rahmendaten ging ich schnurstracks in die Küche auf Jasmin zu.
„Hallo Jasmin, darf ich mich kurz vorstellen?“, sprach ich sie an und bot ihr zeitgleich das mitgebrachte Glas Schaumwein an. Ich dachte, ich hätte das Überraschungsmoment auf meiner Seite, weil ich sie direkt mit Namen ansprach. Ihre Reaktion war für mich allerdings viel verblüffender.
„Hallo Rene, schön dich hier zu sehen!“, antwortete sie mir prompt mit einem zauberhaften Lächeln.
Im ersten Moment war ich völlig irritiert und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hätte zu gerne mein eigenes Gesicht in diesem Augenblick gesehen. Jasmin lachte, weil sie merkte, dass sie mich mit ihrer Antwort kurzfristig aus der Fassung brachte und sie übernahm sofort das Kommando.
„Wie ich sehe, hast du nicht unbedingt damit gerechnet, dass ich deinen Namen kenne?“
„Ähm, wenn ich ehrlich sein soll, eigentlich nicht.“ Ich war immer noch verdattert, denn weder Rosa noch einer von den anderen hatten vorher mit ihr gesprochen.
„Ich will dich ja nicht doof sterben lassen!“, sagte sie belustigt über meinen gescheiterten Anmachversuch.
„Das wäre wirklich zauberhaft von dir.“
„Rosa hatte mir vor geraumer Zeit ein Klassenfoto gezeigt. Ich fragte sie, wer denn der süße Kerl wäre, der da in der ersten Reihe hockt und so nett lächelt. Daraufhin verriet sie mir deinen Namen. Außerdem wusste ich von ihr, dass du heute auf ihre Fete kommst.“
„Okay, da warst du mir gegenüber klar im Vorteil. Ich wusste bis eben nicht einmal, dass Rosa eine so reizende Schwester hat.“ Ich erhob mein Glas. „Na dann mal Prost, auf eine wunderbare und überraschende Begegnung, zumindest für mich“, sagte ich begeistert, nachdem ich meinen Namen wieder stotterfrei buchstabieren konnte. Wir spürten sofort eine gemeinsame Wellenlänge und wir unterhielten uns stundenlang angeregt über Gott und die Welt. Jasmin war im Gegensatz zu ihrer Schwester sehr offen und selbstbewusst. Dieser Unterschied im Wesen mochte daran liegen, dass Jasmin die jüngere der beiden Geschwister war und das Verschwinden ihres Vater nicht bewusst miterlebt hatte. Ich konnte natürlich nur spekulieren, bei meinem amateurhaften Versuch ein kurzes Soziogramm zu Rosa und Jasmin zu erstellen. Bei längerer Überlegung mochten meine Gedanken auch völliger Schwachsinn sein, zumal mein eigener kleiner Bruder auch der größere Sprücheklopfer von uns beiden war und wir in ganz anderen Verhältnissen aufwuchsen. Allerdings ergab sich daraus schon die interessante Frage, worauf sich die charakterliche Entwicklung eines Menschen begründete, auf sein Erbgut oder den Umständen seines Aufwachsens. Vielleicht war es eine Mischung aus beiden Aspekten?
Ich verzichtete an diesem Abend sogar auf meinen Anteil von Mettels mitgebrachtem Gras, weil die Begegnung mit Jasmin für mich Droge genug war. Auf der Rückfahrt nach der Party steckte mir Andy, dass Friederike überhaupt nicht von meinem Flirt mit Jasmin begeistert war. Ich hingegen hatte mir überhaupt nichts vorzuwerfen. Wäre Friederike meine feste Freundin gewesen, dann hätte ich ihr Unbehagen mit der Situation nachvollziehen können. Sie fühlte sich offensichtlich von mir vernachlässigt, was ich aber beim jetzigen Status quo unserer Beziehung überhaupt nicht so sah. Außerdem hatte ich ihr Gemecker über Marion noch im Ohr und ich war froh, dass ich mir nicht weitere Ausführungen zu dem Thema anhören musste. Ich nahm leichtfertig an, dass Friederike die „rote Tante“ zu Besuch und hormonell bedingt nicht ihren besten Tag erwischt hatte. Deshalb schenkte ich dem Ganzen auch keine weitere Beachtung, was sich schon bald als Fehler herausstellen sollte.
Am Montagmorgen in der Schule brach dann das Unheil über mich herein. Friederike bat mich in der ersten Unterrichtspause um ein Gespräch und ich wusste schon, was jetzt kommen sollte. Andy hatte mich schon vorgewarnt. Friederike hatte ihn auf dem Weg zur Schule, um es mit seinen Worten zu sagen, die ganze Zeit vollgetextet und ihn, um eine Stellungnahme gebeten. Andy verweigerte ihr aber bewusst eine Antwort und meinte nur, dass sie die Angelegenheit mit mir direkt klären sollte. Was sie dann auch tat.
„Rene, wir müssen reden!“
„Wieso?“, fragte ich völlig unbeteiligt.
„Wegen deinem komischen Verhalten auf Rosas Party!“
„Ich habe mich nicht komisch benommen, sondern prächtig amüsiert.“
„Du hast uns einfach den ganzen Abend links liegen lassen und gar nicht weiter beachtet. Das macht man unter Freunden nicht!“ Wie ich diesen vorwurfsvollen Unterton hasste. Ich bekam sofort schlechte Laune.
„Von den anderen hat sich keiner bei mir beschwert. Mal ehrlich, wir waren zu fünft auf der Party, da kannst du doch nicht ernsthaft behaupten, ich hätte euch vernachlässigt. Du hattest jederzeit die Gelegenheit, dich dazuzustellen und dich mit mir zu unterhalten. Du hast es aber vorgezogen, dich mit den anderen zu vergnügen.“ Friederike ignorierte meine Gegenrede völlig und spulte weiter ihren Text herunter: „Rosa war auch nicht gerade begeistert, dass du ihre Schwester angebaggert hast.“
„Ich habe ihre Schwester gar nicht angebaggert und Rosa hatte mir gegenüber nichts Derartiges geäußert.“ Ich versuchte, entspannt zu bleiben und hörte mir weiter geduldig an, was Friederike mir zu sagen hatte: „Das würde Rosa auch nicht tun, um dich nicht als Kumpel zu verlieren.“
„Ich kann sie gleich mal fragen. Außerdem musst du hier nicht den Moralapostel spielen.“
Friederike schaute mich etwas erstaunt an. „Wieso, Moralapostel?“
„Naja, Samstag vor der Party am Bahnhof hast du ganz schön über Marion abgelästert. Als sie dann auf den Bahnsteig kam, machtest du gleich auf beste Freundin. Ich empfand diese Situation als ziemlich merkwürdig.“
„Ich hab doch nur gesagt, dass Marions Art mich manchmal nervt, aber trotzdem habe ich sie echt gerne.“
„Das hörte sich am Wochenende aber ganz anders an. Und warum sagst du ihr das nicht selbst?“
„Ich wollte nur hören, ob Marion bei euch genauso ist. Außerdem hat das gar nichts mit deiner Baggerei zu tun. Ich habe auf der Fete ja auch keine Typen angegraben. Außerdem ist Rosa echt sauer auf dich.“ So langsam trieb Friederike mich mit ihren unhaltbaren Vorwürfen echt auf die Palme.
„Sag mal, hast du deine Tage oder warum nöhlst du mich hier voll?“
„Das geht dich mal gar nichts an!“ Die Stimmung von uns beiden wurde mit jedem weiteren Satz gereizter.
„Mal ehrlich, nur weil du nicht den Arsch in der Hose hast, Marion die Meinung direkt ins Gesicht zu sagen. Unterstelle bitte nicht jedem anderen hier, er wäre genauso feige! Rosa würde mir schon sagen, wenn ich ihre Schwester in Ruhe lassen soll“, ereiferte ich mich.
„Idiot, du kannst mich mal! Ich sage es dir noch einmal zum Mitschreiben. Ich habe nicht über Marion gelästert. Ich habe lediglich gesagt, dass sie ab und an mal nervt.“
„Und, dass ihre Art so laut ist und sie ‘nen komischen Klamottenstil hat. Das nennst du nicht lästern? Ich bitte dich!“ So langsam wurde ich wütend.
„Mir reicht’s, ich lass mich von dir doch nicht beleidigen! Und auf meiner Party will ich dich auch nicht sehen.“
„Da kann ich auch gut drauf verzichten, ich wäre eh nicht gekommen!“
„Arschloch!“
„Leck mich doch, du dumme Kuh!“
„Verdammter Wichser!“
Friederike drehte sich mit hochrotem Kopf um und lief weinend in die Klasse zurück. Andy kam auf mich zu und fragte: „Was war denn los, sag mal. Die ist ja völlig aufgelöst.“
„Ich habe ihr nur mal die Meinung gegeigt. Das war schon lange mal fällig. Die Alte tickt doch nicht richtig!“
Nun stürmte auch Marion auf mich zu.
„Sag mal, spinnst du! Was ist in dich gefahren, Friederike so niederzumachen?“
„Ich sage da nichts mehr zu, findet es bitte selbst heraus!“, beendete ich das leidige Thema für mich.
Ich wusste nicht, was Friederike den anderen erzählt hatte, aber ich wurde weitestgehend geschnitten. Nur Ernie, Mettel und Andy unterhielten sich noch normal mit mir. Selbst Rosa verhielt sich mir gegenüber eigenartig, als ich sie nach Jasmin fragte. Dabei wollte ich nur wissen, ob sie nächstes Wochenende Zeit für mich hätte. Durch die Ausladung hatte ich bis auf mein Fußballspiel am Sonntag nichts weiter vor. Rosa meinte nur kurz angebunden, dass Jasmin nicht in Hamburg wäre.
Ich fragte Mettel und Andy, ob sie immer noch vorhatten, auf Friederikes Party zu gehen. Beide waren der Meinung, dass es zwar schade war, dass ich nicht mit dabei wäre, aber sie wollten sich verständlicherweise nicht in diesen Streit mit hineinziehen lassen. Leidvoll musste ich feststellen, dass ich nun als Verlierer aus der ganzen Auseinandersetzung hervorging. Ich fühlte mich, wie im falschen Film, da sprach mich Ernie an.
„Ey Alter, mach dir nichts draus. Es kommen auch wieder bessere Tage. Hast du Lust, am Samstag mit mir ins Logo zu gehen? Da spielen ein paar echt abgefahrene Nachwuchsbands. Danach habe ich auch noch ‘ne Party auf dem Kiez am Start. Na, wie sieht’s aus?“
„Ich weiß nicht Ernie.“
„Na komm schon, lass dir doch wegen der Alten nicht die Laune verhageln.“
„Klar, du hast Recht. Die Tussi kann mich echt mal. Holen wir uns die Karten an der Abendkasse oder lieber im Vorverkauf?“
„So will ich dich hören. Wir können gleich nach der Schule bei der Konzertkasse vorbeischauen.“
„Geil! Ich freu mich drauf!“ Ernies Aufmunterungsversuch war gelungen und die Aussicht auf ein spannendes Wochenende beseitigte sofort den Anflug von schlechter Laune bei mir.
Den anderen erzählte ich gar nichts von meiner geänderten Wochenendgestaltung. Die sollten mal ruhig auf diesen langweiligen Kindergeburtstag gehen und denken, dass ich mich alleine völlig fertig zu Hause eingrabe. Aber da hatten sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Den Rest der Schulwoche war ich, zur Verwunderung aller, unverschämt gut gelaunt und freute mich tatsächlich auf einen verheißungsvollen Samstagabend mit Ernie. Wir mussten am Donnerstag leider noch eine Chemie-Arbeit schreiben. Ein Fach, was uns allen echt zuwider war, insbesondere Mettel hasste es. Wir waren alle froh, dass wir Chemie in der 12. Klasse abwählen konnten. Nach der Klassenarbeit fragte ich Mettel: „Na, wie lief’s bei dir?“
„Och, ganz gut, ich hatte echt Spaß. Unsere letzte Chemiearbeit, yeah!“
„Wie kannst du denn bei einer Chemiearbeit so etwas wie Freude empfinden?“ Ich war ehrlich gesagt, ziemlich überrascht von Mettels Reaktion, trotz seiner durchaus nachvollziehbaren Begründung.
„Es war halt die Letzte! Außerdem fand ich gut, dass wir uns am Ende selbst eine Frage stellen durften“, sagte er mir.
Andy kombinierte messerscharf: „Ich glaube, das hat der Pauker nur gemacht, damit der Notendurchschnitt in der Klasse wohl nicht ganz so mies ausfällt.“
„Jo, Herr Brettschneider muss echt verzweifelt sein. Aber es ist auch schwierig, auf ‘ner Wirtschaftsschule Chemie zu unterrichten!“, war mein Fazit in dieser Angelegenheit.
„Jaja, die Naturwissenschaften. Da wäre Bio viel geiler gewesen, aber das haben sie ja leider mangels Fachlehrer nicht angeboten“, meinte Andy systemkritisch.
„Stimmt, Bio wäre sehr viel geiler gewesen! Da hätten wir wenigsten lernen können, wie man gewisse Pflanzenkulturen unfallfrei groß zieht!“, rieb ich mir die Hände.
„Jo, so ‘ne richtige Hanfplantage wäre schon super!“, strahlte Mettel.
„Aber für die Weiterverarbeitung braucht man doch wieder Chemie, um richtig geiles Dope daraus zu machen!“, fachsimpelte ich, während Andy kurz zum Klo verschwand.
„Ja Scheiße! Da hast du auch wieder Recht. Naja, dann greifen wir doch lieber zum Fertigprodukt!“
„Hast du dich schon für Friederikes Feier eingedeckt?“
„Nö, bin pleite. Muss dieses Wochenende mal ohne gehen!“
„Frag doch Andy!“
„Hab ich schon, der wollte jetzt auch mal pausieren, zumal Friederikes Eltern wohl zu Hause sind, wenn die Party steigt.“
„Oh Gott, wie ätzend ist das denn!“, heuchelte ich meine Entrüstung vor und freute mich heimlich.
„Jo, nicht gerade optimale Bedingungen, um die Puppen tanzen zu lassen, aber was soll’s! Ist schon hammerhart, dass sie dich wieder ausgeladen hat.“
„Ach weißt du, das ist schon okay! Das Einzige, was mich an der Sache richtig stört, ist, dass Friederike fast allen irgendetwas erzählt hat, um sie auf ihre Seite zu ziehen.“
„Zu mir hat sie nichts gesagt, außer dass du nicht auf die Fete kommst.“
„Ist ja klar, weil Friederike weiß, dass wir uns viel zu gut verstehen und du sofort zu mir kommen würdest, wenn sie irgendeine Scheiße erzählt.“
„Klar, ist einleuchtend!“ Mettel und ich waren uns einig, dass ich für den Moment der Gelackmeierte war. Ich wandte mich mit einer Bitte an ihn.
„Du kannst mir aber mal einen Gefallen tun. Rosa ist doch sicher auch auf der Party?“
„Ich glaube, ja!“
„Kannst du für mich mal herausfinden, warum sie so kurz angebunden zu mir ist? Ich glaube, Friederike hat ihr irgendeinen Mist über mich erzählt.“
„Meinst du?“
„Da bin ich fest von überzeugt. Letztes Wochenende hing ich doch den ganzen Abend mit Rosas Schwester Jasmin ab.“
„Ja stimmt, eine süße Maus!“
„Das kannst du wohl laut sagen. Naja, ich hatte von Andy gehört, dass Friederike ganz schön genervt war, dass sie diesmal nicht im Mittelpunkt meines Interesses stand.“
„Stimmt, das habe ich auch mitbekommen.“
„Naja, nachdem Friederike mich nicht mehr auf ihrer Party sehen wollte, sprach ich Rosa an, ob ihre Schwester jetzt am Wochenende Zeit hätte. Daraufhin bügelte sie mich mit einem Satz ab, dass Jasmin nicht in Hamburg sei. Was ja durchaus stimmen kann. Was mich nur irritiert hat, war ihr grantiger Unterton, verstehst du?“
„Klar, ist für Rosa echt ungewöhnlich. Die ist ja sonst nicht so.“
Die Schulklingel ertönte in diesem Moment und bedeutete uns, wieder ins Klassenzimmer zurückzugehen. Es stand Spanisch auf dem Stundenplan.
„Also Mettel, machst du das für mich. Mir verrät Rosa sicher nicht die wahren Gründe ihres abweisenden Verhaltens, wenn ich sie direkt drauf anspreche.“
„Kein Problem, ich versuche, aus Rosa was herauszubekommen“, versicherte mir Mettel auf den Rückweg in die Klasse.
Am Freitag wünschte ich Andy und Mettel ein schönes Wochenende und viel Spaß bei Friederikes Party. Ich traf mich samstags am späten Nachmittag mit Ernie und wir glühten schon mal vor. Wir rauchten einen netten Johnny und kippten ein paar Bier oben drauf. Johnny war bei uns eine andere Bezeichnung für Joint. Cannabis und ähnliche Substanzen waren auch damals schon illegal. Wir wussten ja nie, wer zufällig neben uns stand, wenn wir uns auf der Straße oder in der Bahn über den Konsum von Haschisch unterhielten. So gab es in der Szene einige Geheimcodes, die völlig unverfänglich waren, wie beispielsweise der Ausspruch: „Ich habe heute echt Lust auf Bob Marley!“ Damit provozierten wir zumindest nicht leichtfertig unnötigen Ärger mit den zivilen Gesetzeshütern oder unerwartete Kontrollen auf Drogenbesitz, die sich trotzdem nicht immer verhindern ließen.
Ernie wohnte mit seinen Eltern in einem kleinen Reihenhaus in Lohbrügge. Sein Zimmer war relativ ordentlich, was ich gar nicht so vermutet hätte. Es hingen einige Konzertplakate von „The Who“ und „The Yardbirds“ an der Wand, die er sich von seinem letzten London-Trip mitgebracht hatte. Ernie konnte sehr gut zeichnen und zahlreiche selbstgestaltete Bilder mit kunstvollen Schriftzügen und abstrakten Motiven klebten über seinen Schreibtisch. Ich war echt begeistert von seinem Talent.
„Sind echt klasse deine Zeichnungen, Ernie.“
„Gefallen sie dir? Ist ja nicht jedermanns Sache, aber ich versuche Elemente von Pop Art mit aktuellem Werbeplakatdesign und Cartoons zu verknüpfen und dadurch etwas Neues zu schaffen.“
„Also, ich find’s geil und bewundere deine Kreativität. Willst du später auch beruflich diesen Weg einschlagen?“
„Ehrlich gesagt, habe ich mir da überhaupt noch keine Gedanken drüber gemacht. Ich lebe eher für den Moment und lass mich einfach überraschen, wo mich mein Weg so hinführt“, philosophierte Ernie.
„Keine doofe Einstellung, gerade für uns jungen Leute wäre es cool, einfach die Zeit zu haben, seine Talente auszuprobieren und beruflich das machen zu können, was wirklich Spaß bringt. Das große Problem in unserer Gesellschaft ist nur, dass ein Leben, wie wir es uns vorstellen, ohne Geld nicht funktioniert.“
„Es wäre schon super, wenn man mit dem, was einem echt Spaß macht, auch seinen Lebensunterhalt verdienen kann.“
„Oh ja! Ficken für den Weltfrieden oder als Produkttester den ganzen Tag für den optimalen Biergeschmack saufen.“ Ernie schaute mich amüsiert an.
„Dieser Luxus ist halt nur einigen Wenigen vorbehalten, wie Profisportlern, Drogendealern oder Rockstars!“, sagte er und ergänzte: „Apropos, Rockstars, wie wäre es mit ein bisschen Mucke?“
„Auf jeden Fall!“
„Hast du irgendeinen speziellen Wunsch?“
„Nö, mach mal ruhig. Ich lass mich überraschen“, antwortete ich.
Ernie legte zur Einstimmung auf das Konzert den Soundtrack von Quadrophenia auf. The Who hatten wesentliche Teile der Musik des 1979 erschienenen Kultfilms geschrieben. Er erzählte die Geschichte zweier rivalisierender Jugendgangs – den Mods und den Rockern – in den frühen Sechzigern in England. Es ging um Liebe, Freundschaft, Freiheit, Jugendkult und der Suche nach dem richtigen Platz im Leben. Also alles Themen, die uns damals als Heranwachsende mehr als alles andere interessierten. Die Filmmusik war wirklich fabelhaft und inspirierend.
Leicht zugedröhnt und in bester Feierlaune machten wir uns irgendwann auf den Weg ins Uni-Viertel. Wir waren pünktlich zum ersten Gig einer jungen Hamburger Band im Logo. Ihr Sound war eine gute Mischung aus „The Small Faces“ und „The Sonics“. Die Stimmung brodelte und das Publikum ging richtig mit. Jede Combo hatte etwa eine halbe Stunde Zeit für ihren Auftritt. Es waren rund zehn verschiedene Musikformationen angekündigt. Ich las die Bandnamen und ich kannte keine von ihnen. Sie nannten sich „The Pussys“, „Lover Boys“ oder „Drunk Pirates“. Ernie meinte, dass viele Bands schon nach ihrem ersten Auftritt ihren Bandnamen wieder änderten, daher kannte er auch nur ganze zwei Bands, die er zuvor schon einmal hier gesehen hatte. Die Musikrichtungen, die von den einzelnen Gruppen gespielt wurden, waren so vielfältig, wie das Publikum. Wir hörten an dem Abend Beat, Punk, Ska, Rock & Roll, Blues und Heavy Metal.
In den Achtziger Jahren gab es viele unterschiedliche Jugendgruppierungen, die sich zum Teil untereinander nicht besonders mochten. Alleine an diesem Abend im Logo waren neben einigen Normalos wie mir, Teds, Mods, Punks, Rastas, Metal Heads und Skins im Zuschauerraum. Alles war friedlich und feierte. Das war aber nicht immer so. Gerade bei den sogenannten Skinheads gab es einige Unterschiede. Durch die Presse geisterten vermehrt Berichte über Glatzen, die der rechten Szene angehörten. So entstand ein Bild in der breiten Öffentlichkeit, dass jeder Skinhead ein Neonazi sei, dabei waren die Ursprünge dieser Gruppierung komplett unpolitisch und entwickelte sich aus der Arbeiterbewegung der Sechziger Jahre in England. Hier gab es schon damals viele Einwanderer aus der Karibik und die Ska-Musik der Skins entwickelte sich aus einem Gemisch jamaikanischen Reggaes und britischen Punks. Es war absolute Gute-Laune-Musik. Irgendwann entdeckten dann auch deutsche Neonazis diesen reduzierten und martialisch anmutenden Look der Skinheads für sich. In den Achtzigern verbreiteten sich diese neofaschistischen Skins wie eine Epidemie im ganzen Land. Leider waren auch viele dieser Nazi-Arschlöcher plötzlich auf der Tribüne meines geliebten HSV zu sehen und beschädigten damit nachhaltig das Image der normalen Fans des Vereins. Es wurden plötzlich alle HSVer als Neonazis tituliert. Diese Entwicklung verschärfte sich auch dadurch, dass politisch linksgerichtete Gruppierungen vermehrt die Stehplatzränge des FC Sankt Pauli besiedelten und damit ein bis heute gültiges Feindbild dieser rivalisierenden Hamburger Fußballclubs etablierten. Die meisten Fußballfans verfolgten keine der beiden extremen politischen Ideologien, wurden aber, je nachdem welchen Verein sie unterstützten, dem entsprechenden Lager zugeordnet.
Warum gerade die rechtsradikalen Skins so einen Zulauf zu der Zeit verzeichneten, konnte ich mir nicht erklären. Das Phänomen war auch nicht auf die sogenannten bildungsfernen Schichten reduziert. Selbst bei uns auf dem Gymnasium gab es immer mehr Leute, die plötzlich so herumliefen und nationalsozialistische Parolen in die Gegend posaunten. Einer von ihnen war mein Mitschüler Ludger, der zuvor als Popper herumstolzierte und im Laufe des Schuljahrs immer mehr sein Äußeres und den Klamottenstil veränderte. Das alleine war in unserem Alter eigentlich nichts Besonderes. Ich selbst hatte meinen Stil mehrfach modifiziert und kombinierte Kleidung der Punks, Popper und Mods miteinander. Ich übernahm aus jeder Jugendkultur die Elemente, die mir gefielen. Was mich an Ludgers Verwandlung am meisten störte, war sein Gesinnungswandel und dass er plötzlich mit Neonazi-Propaganda der NPD ankam. Ansonsten kamen wir eigentlich gut miteinander klar. Auch er hatte sofort einen Kosenamen bei uns. Seinen nicht so gängigen Vornamen kürzten wir gerne ab und nannten ihn Lude, was ihn ziemlich verärgerte. Seine ablehnende Reaktion auf seinen Spitznamen war nachvollziehbar, weil im Hamburger-Kiezslang das Wort Lude auch Zuhälter bedeutete. Wir fanden dieses Wortspiel witzig und schließlich ergab er sich irgendwann seinem Schicksal.
An diesem Abend waren im Logo weder erkennbare Neonazis noch Zuhälter anwesend, die unsere gute Stimmung hätten beeinträchtigen können. In einer kurzen Umbaupause auf der Bühne gingen wir zum Tresen und bestellten uns Gin Tonic. Ernie zauberte ein paar Pillen aus der Tasche und schaute mich grinsend an.
„Na, auch eine?“
„Was ist das denn für ein Zeug?“, wollte ich von ihm wissen.
„Ephedrin! Das putscht richtig auf!“
„Nö, lass mal. Ich muss morgen noch Fußball spielen und ich weiß nicht, wie der Kram bei mir wirkt. Ich bleibe beim Alk!“
„Kein Problem, war ja nur ein Angebot.“
„Danke Ernie, vielleicht ein anderes Mal.“
Ernie schmiss sich zwei Pillen ein und nahm danach einen kräftigen Schluck von seinem Longdrink. Nach ungefähr einer Viertelstunde wirkte das Zeug bei ihm und er kam richtig in Fahrt. Im Laufe des Abends warf er noch ein paar von seinen Zauberdrops ein. Wir hatten ganz schön getankt. Kurz nach Mitternacht beendete die letzte Band mit einer genialen Ska-Version des Dead Kennedys-Klassikers „Too drunk to fuck“ das Konzert. Eine Feststellung, die auch für Ernie und mich galt, als wir beide ziemlich besoffen aus dem Logo taumelten.
Ernie war schon, während des Konzerts, kurz nach draußen verschwunden und musste sich mehrfach übergeben, weil ihn der Mix aus Alkohol und Medikamenten doch leicht überforderte. Er merkte dabei nicht, dass er einen etwa zwei Meter großen Punk, der ebenfalls kotzen war, direkt auf die Stiefel spuckte. Der Punk war zu Ernies Glück so breit, dass er die Verschmutzung seiner Schuhe nicht mal wahrnahm.
Wir torkelten zur U-Bahn und kamen, nachdem wir zunächst in die falsche Richtung gefahren waren, nach geraumer Zeit doch auf der Reeperbahn an. Ich trottete Ernie einfach hinterher. Wir gingen die Davidstraße in Richtung Hafen herunter. Anschließend bogen wir rechts in die Bernhard-Nocht-Straße und rannten diese fast bis zum Ende durch. Wir stoppten direkt vor ziemlich bunt gestalteten Abbruchhäusern. In Richtung Wasser gingen wir eine Treppe halb hinab und betraten durch einen Seiteneingang eines der Häuser. Damals ahnte ich nicht, dass Ernie mit mir in den berüchtigten Hafenstraßen-Häusern feiern wollte. Das begriff ich erst, als wir tatsächlich davor standen. Besonders 1987 brachen immer wieder Krawalle aus, bei denen die Hausbesetzer und die von der Stadt entsendeten Ordnungshüter heftige Schlachten miteinander austrugen. So entwickelte sich die Hafenstraße damals zu einem Symbol des Widerstands und zog natürlich Punks, Linke und politisch Andersdenkende magisch an. Die Partys dort waren, trotz der politischen Ambitionen, deutschlandweit legendär und hatten Kultstatus.
Ernie und ich kifften, soffen und ließen es richtig krachen. Irgendwann waren wir jenseits von Raum und Zeit. Völlig fertig pennte ich irgendwo auf einem ranzigen Sessel ein. Viele Stunden später erwachte ich mit einem echt gammligen Geschmack im Mund, enormen Kopfschmerzen und komplett desorientiert.
„Verdammte Scheiße, wo bin ich hier eigentlich“, dachte ich. „Und wie spät ist das?“ Als ich meine Gedanken ein wenig sortiert hatte, konnte ich mich dunkel an die gestrige Nacht erinnern. Plötzlich fiel mir ein, dass ich heute noch ein Fußballspiel hatte. Ich war in irgendeiner Abbruchbude am Hamburger Hafen und hatte immer noch keine Ahnung, wie spät es war. Ich guckte mich um, ob ich Ernie hier irgendwo entdeckte, aber der war nicht aufzufinden. Überall lagen Schnapsleichen herum, die selig ihren Rausch auspennten.
„Kacke, wie finde ich hier nur heraus?“, fragte ich mich. Nach kurzer Erkundung der Lage fand ich relativ zügig das Treppenhaus und den Ausgang. Als ich im Freien stand, bemerkte ich schmerzlich den herrlich blauen und wolkenfreien Junihimmel über Hamburg. Mich blendete die Sonne so extrem, dass ich automatisch die Augen zukniff. Die frische Luft tat mir hingegen sichtlich gut und ich war bemüht, auszumachen, in welche Richtung ich jetzt musste. Vorher kontrollierte ich meine Taschen, ob ich noch alle meine Habseligkeiten beisammen hatte. Ich fand meinen Haustürschlüssel, einen Zehn-Mark-Schein und ein paar Münzen Kleingeld. Mehr hatte ich vorher auch nicht bei mir. Ich war dankbar, dass ich genügend Geld für einen Fahrschein und zum Telefonieren hatte. Ich watschelte zur nächsten Bahnstation, immer noch ohne zu wissen, wie spät es eigentlich war. Normalerweise wäre es mir in meinem Zustand auch egal gewesen, allerdings hatte ich gerade heute ein wichtiges Fußballspiel, bei dem es um die Meisterschaft in unserer Jugendliga ging.
An den Landungsbrücken angekommen, sah ich, dass es schon nach halb eins war. „Ach du Scheiße, das wird knapp! Um zwei treffen wir uns am Geesthachter Sportpark.“ Wieder hatte ich Glück, dass ich Berliner Tor sofort Anschluss hatte und fuhr mit der S21 weiter Richtung Bergedorf. Dort angekommen, rief ich meine Eltern an, die der Meinung waren, ich hätte bei Andy übernachtet. Ich schilderte ihnen kurz, dass wir voll verpennt haben, weil wir bis drei Uhr morgens ein neues Computerspiel ausprobierten und darüber hinaus die Zeit vergaßen. Es war mittlerweile zwanzig nach eins und ich bekam gerade noch den Bus. Ich war gestern, bevor ich zu Ernie fuhr, so umsichtig, dass ich meine Fußballtasche schon fertig gepackt in meinem Zimmer bereitstellte. In Geesthacht angekommen, besuchte ich kurz meinen Kumpel Strauchi, mit dem ich zusammen beim VfL spielte, um meinen temporär erbärmlichen Anblick zu korrigieren, bevor ich mein Elternhaus betrat. Er hieß mit vollem Namen Martin Strauch und war weder verwandt noch verschwägert mit Andys Familie, die ja auch Strauch mit Nachnamen hieß. Er wollte gerade aus der Tür, als ich ihn abpasste.
„Ach du Scheiße, wie siehst du den aus?“
„Ich komm gerade direkt aus Hamburg, aber das erzähle ich dir nachher. Ich muss mich mal kurz bei dir waschen, weil so kann ich nicht bei meinen Eltern auflaufen.“
„Das würde ich auch sagen. Aber, kein Problem!“ Strauchi lachte kurz.
„Danke! Du hast was gut bei mir!“
„Ich wollte gerade zum Sportplatz, aber komm schnell rein.“
„Willst du nicht gleich nach meiner kleinen Ganzkörperrenovierung mit zu mir? Mein Vater wollte mich ohnehin zum Sportplatz fahren“, schlug ich vor.
„Okay, hier hast du schon mal eine frische Unterhose, Socken und ein T-Shirt. Beeil dich! Ich ruf in der Zwischenzeit deine Eltern an, dass du mich abgeholt hast und wir in einigen Minuten bei ihnen sind.“
„Prima!“
Strauchi wohnte in der gleichen Siedlung nur zwei Minuten von mir entfernt. Wir kannten uns schon aus dem Sandkasten und waren sehr gut miteinander befreundet.
Alles lief wie am Schnürchen. Meine Eltern sahen zwar, dass ich ziemlich müde war, aber schöpften keinen Verdacht. Ich war richtig froh, dass alles so glimpflich ablief, sonst hätte ich wahrscheinlich ordentlich Ärger bekommen. Besonders meine Mutter konnte sehr streng sein, auch wenn sie eine kleine zierliche Person war. Sie hatte Power für zwei und mit ihr war nicht gut Kirschenessen, wenn man etwas ausgefressen hatte. Mein Vater, der uns beiden gerade zum Sportplatz fuhr, war eher der ruhigere Part in meiner Familie und das krasse Gegenteil meiner Mutter. Mein Interesse für Fußball verdanke ich ebenfalls ihm. Er hatte früher in seinen jungen Jahren sogar zeitweise in der Regionalliga gespielt. Leider habe ich nur einen Bruchteil seines Talents mitbekommen, aber diesen Mangel versuchte ich durch Einsatzwillen und einer guten Übersicht auf dem Platz zu kompensieren.
Als mein Vater uns am Geesthachter Sportpark absetzte, wartete unser Trainer schon etwas ungeduldig auf uns. Er hatte Strauchi und mich ohnehin schon auf dem Kiecker, weil wir des Öfteren gegen seine Art Fußball spielen zu lassen, aufbegehrten.
„Oh, die Herren Fußball-Intellektuellen lassen sich auch noch blicken“, empfing er uns herzlich. Wir gingen in die Umkleidekabine und begrüßten die anderen. Wir waren heute mit insgesamt 15 Spielern sehr eng besetzt. Einige fehlten krank oder waren verletzt. Daher konnten wir den Unmut unseres Trainers, über die durch mich verursachte Verspätung, durchaus nachvollziehen. Wir zogen uns um und der Trainer gab die Aufstellung bekannt. Strauchi spielte im linken Mittelfeld und ich durfte zunächst auf der Bank Platz nehmen. Was mir aufgrund der durchzechten Nacht überhaupt nichts ausmachte.
Meine Lieblingsposition war im rechten oder zentralen Mittelfeld, allerdings wurde ich in dieser Saison überwiegend als Innenverteidiger eingesetzt, weil wir in unserer Mannschaft auf der Position nicht so viele geeignete Spielertypen hatten. Meine Stärke bestand darin, als Vorstopper den gegnerischen Stürmern den Ball abzunehmen und schnell mit zielgenauen Pässen eigene Angriffe direkt aus der Abwehr zu starten, um den in der Offensivbewegung befindlichen Gegner zu überrumpeln. Meine Formkurve ging in den letzten Spielen aufgrund der vielen Feierei ziemlich in den Keller. Ich hatte teilweise zu risikoreich agiert und verursachte dadurch einige vermeidbare Gegentreffer. Ursächlich hierfür war sicherlich auch meine schlechter werdende Kondition durch den vermehrten Alkoholgenuss an den Wochenenden. Hier musste ich dringend wieder die Kurve bekommen.
Vor Spielbeginn machten wir uns alle mit kurzen Intervall-Läufen warm. Ich merkte richtig, wie ich dabei nach und nach den Alkohol und andere Giftstoffe ausschwitzte. Die Bewegung tat richtig gut und die Müdigkeit ließ merklich nach. Gespannt verfolgte ich das Geschehen auf dem Platz in der ersten Halbzeit von der Ersatzbank aus. Das Spiel war sehr ausgeglichen und es gab Chancen auf beiden Seiten. Wir brauchten unbedingt einen Sieg, um die Meisterschaft für uns zu entscheiden. Wir waren momentan Zweiter und hatten einen Punkt weniger als der Tabellenerste, der heute bei uns zu Gast war. Mein Stellvertreter in der Innenverteidigung machte seine Sache wirklich gut. Er verteidigte sehr solide und machte keine Fehler. Allerdings setzte er weniger Impulse nach vorne, als ich es üblicherweise tat. Beide Mannschaften gingen mit einem 0:0 in die Halbzeit. In der Kabine bemängelte Strauchi, dass zu wenig verwertbare Bälle aus der Abwehr kamen, um das Spiel für den Gegner überraschend schnell zu machen. Dieser Einwand passte unserem Trainer natürlich überhaupt nicht. Für ihn war zunächst wichtig, dass die Null stand. Strauchi wollte mit seiner Kritik meine Einwechselung provozieren, was ihn aber nicht gelang.
So nahm ich auch in der zweiten Halbzeit meinen Platz außerhalb des Spielfeldes ein. Zwanzig Minuten vor Schluss der Partie ging die gegnerische Mannschaft durch ein herrliches Freistoßtor aus etwa zwanzig Metern in Führung. Nun reagierte unser Trainer und schickte mich und einen weiteren Offensivspieler zum Warmmachen. Weitere fünf Minuten vergingen, bevor wir eingewechselt wurden und endlich ins Spiel eingreifen konnten. Überraschend wurde ich nicht in der Innenverteidigung eingesetzt, sondern im zentralen Mittelfeld. Wir hatten jetzt noch knapp eine Viertelstunde Zeit, um zwei Tore zu erzielen. Der Gegner zog sich immer weiter zurück, um seine Führung mit Mann und Maus zu verteidigen. Sie machten geschickt die Räume eng, so dass wir kaum freie Anspielpositionen hatten. Etwa fünf Minuten vor Schluss gelang es mir, einen langen Diagonalball nach links genau in den Lauf von Strauchi zu spielen. Er nahm den Ball geschickt mit und rannte bis zur Grundlinie. Von dort flankte er die Kugel butterweich auf den Elfmeterpunkt, wo unser Mittelstürmer Olly unbedrängt zum Kopfball kam und den Ball in das untere linke Eck des Tores versenkte. Ausgleich!
Nun begann ein wütender Sturmlauf und wir drängten auf das Führungstor. Ich bekam im Mittelfeld den Ball und sah, dass Olly zentral im Sechzehner in Position lief. Ich schlenzte den Ball direkt vor seine Füße. Er wollte gerade auf das Tor schießen, da grätschte ihn sein Gegenspieler von der Seite um. Wir dachten alle, dass es hier nur eine Entscheidung geben konnte und die musste Elfmeter lauten. Leider bewertete der Schiedsrichter die Situation völlig anders und ließ einfach weiterspielen. Der Verteidiger schlug den Ball weit in unsere Hälfte. Der gegnerische Stürmer nahm das Leder gedankenschnell an und legte das Spielgerät geschickt an unserem Libero vorbei. Unser Torhüter eilte aus seinem Kasten und versuchte den Einschusswinkel geschickt zu verstellen. Leider hatte der Gegenspieler ausreichend Abstand, um den Ball mit einem sehenswerten Lupfer im Tor zu versenken. Der Schiedsrichter gab das Tor und wir hatten das Spiel verloren. Wir rannten alle auf den Unparteiischen zu und fragten ihn verärgert, ob er das vorangegangene Foul im Sechzehnmeterraum nicht gesehen hätte. Er behauptete der Abwehrspieler hätte zuerst den Ball gespielt. Leider lag Olly immer noch verletzt, mit schmerzverzerrtem Gesicht, im gegnerischen Strafraum. Sein Knöchel war ziemlich angeschwollen, stellten wir nach Abpfiff in der Kabine fest. Wir fühlten uns alle um den verdienten Sieg und die Meisterschaft betrogen. Wir waren trotzdem faire Verlierer und gratulierten dem anderen Team zum Gewinn des Titels.