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1.VON RATIONALISIERUNGEN, EVOLUTIONEN UND REVOLUTIONEN

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Die Entwicklung der gesellschaftlichen Kommunikation und der dazu genutzten Medien wird in der Literatur auf unterschiedliche Art in Phasen eingeteilt. Helmut Schanze z. B. unterteilt seine Darstellung einer »integrale[n] Mediengeschichte« in »Antike«, das »Zeitalter der Typographie (1500-1800)«, das »Zeitalter der neuen Graphien. Vom Telegraphen zum Kinematographen (1800-1900)«, das »Zeitalter der Audiovisionen (1900/1925-1985)« und das »Zeitalter der Digitalmedien« (2001: 207ff.). Darin zeigt sich eine starke Orientierung an technischen Entwicklungen, obwohl der Autor betont, dass Mediengeschichte sich nicht allein »am Fortschritt der Medientechnologie« orientieren könne (ebd.: 208).6 Insofern erscheint eine solche Einteilung wenig befriedigend.

Jürgen Wilke konstatiert darüber hinaus, dass auch eine Orientierung an allgemein »zeitgeschichtliche[n] Periodisierungen« problematisch sein kann (1999: 19).7 Dies kann anhand der »globale[n] Phasen« der »gesellschaftlichen Evolution« des bekannten Soziologen Niklas Luhmann veranschaulicht werden. Mit diesen Phasen möchte er u. a. zeigen, »wie gesellschaftliche Evolution mit Veränderungen in den Kommunikationsweisen« zusammenhängt (1975: 13). Eine erste Phase stellen demnach »[a]rchaische Gesellschaftssysteme« (ebd.) dar, gekennzeichnet durch Interaktion unter Anwesenden. Letztere entspricht grundsätzlich der Versammlungskommunikation, die im vorliegenden Buch ebenfalls als Ausgangspunkt der Entwicklung und entsprechend als grundlegende Kommunikationsweise einer ersten Phase der Kommunikationsgeschichte betrachtet wird. Luhmanns zweite Phase »gesellschaftliche[r] Evolution« bilden »städtisch zentrierte Hochkulturen« (ebd.), die von Schrift gekennzeichnet sind. Letztere war, mit Blick auf die Kommunikationsgeschichte, tatsächlich eine wichtige Innovation, führte jedoch allein noch nicht zu einem entscheidenden Wandel der zentralen gesellschaftlichen Kommunikationsweise (siehe Kap. 3.1). Die Versammlungskommunikation blieb auch in diesen Hochkulturen noch lange grundlegend. Diesbezüglich erscheint es sinnvoller, eine neue kommunikationsgeschichtliche Phase später anzusetzen: dann, als sich – aufgrund weiterer neuer Voraussetzungen bzw. Innovationen – die »dominierenden Kommunikationsweisen« (ebd.: 16) tatsächlich veränderten. Zumal Luhmann selbst darauf hinweist, dass die »Phasenfolge […] nicht einfach als Prozeß der Verdrängung und der Substitution« einer Kommunikationsweise durch eine andere verstanden werden dürfe, sondern dass es vor allem um das Dazukommen von »voraussetzungsvolleren Formationen« gehe, »die dann die Bedingungen des Möglichen neu definieren« (ebd.: 18). Eine dritte Phase gesellschaftlicher Entwicklung stellt nach Luhmann die »Weltgesellschaft« mit den Massenmedien seit dem 18./19. Jahrhundert dar, mit »zunehmend weltweiten Kommunikationsmöglichkeiten« (ebd.: 13-15). Diese Massenmedien führten zu einem entscheidenden Umbruch mit Blick auf die dominierende Kommunikations weise – dieser setzte allerdings schon früher ein, nämlich gegen Ende des 16. bzw. Anfang des 17. Jahrhunderts, wie noch gezeigt werden wird.8

Aufgrund solcher Schwierigkeiten bei der klaren (zeitlichen) Ab- oder Eingrenzung von Phasen – zumal diese typischerweise fließende Übergänge aufweisen – wird im vorliegenden Buch darauf verzichtet. Als theoretischer Hintergrund und Orientierungsrahmen der folgenden Darstellung dienen die umfassenden Überlegungen zu Entwicklungsschritten und Rationalisierungsprozessen gesellschaftlicher Kommunikation von Hans Wagner (vgl. 2014b: 217ff.; 2014a; 2009; 1995),9 die auf Beiträgen verschiedener Autoren aufbauen. Sie stehen im Zusammenhang mit dem Vermittlungstheoretischen Ansatz (VTA) (vgl. FÜRST/SCHÖNHAGEN 2020; FÜRST/SCHÖNHAGEN/BOSSHART 2015; SCHÖNHAGEN 2004; WAGNER 1978; 1995),10 der ebenfalls als Hintergrund dient.

Wie kurz erwähnt, war demnach zunächst, über den bisher längsten Zeitraum der Menscheitsgeschichte hinweg, Versammlungskommunikation die wichtigste Form gesamtgesellschaftlicher Kommunikation. Sie beruhte auf der Anwesenheit der Kommunikationsteilnehmer*innen und der (zumindest annähernden) Gleichzeitigkeit des Austauschs (vgl. WAGNER 2009: 109-112; 2014b: 233). Dabei versammelten sich Gesellschaftsmitglieder (zufällig oder absichtlich), um sich mündlich und von Angesicht zu Angesicht (face-to-face) über diverse aktuelle Fragen und Probleme auszutauschen. In diesem Zusammenhang ist auch von »Präsenzöffentlichkeit« die Rede (GERHARDS/NEIDHARDT 1990: 24). Die Versammlungskommunikation war außerdem durch eine (zumindest weitgehende, wenn man von gehörlosen Menschen absieht) allgemeine »Medienverfügbarkeit« gekennzeichnet (WAGNER 2009: 111; 2014b: 233), d. h., alle potenziellen Kommunikationsteilnehmer*innen verfügten über die zur Kommunikation benötigten Medien (Sprache, Gesten, Mimik).

In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass Gesellschaften und Gemeinschaften11 notwendigerweise der Kommunikation bedürfen, sowohl um sich überhaupt zu konstituieren als auch für ihre weitere Aufrechterhaltung (vgl. BERGER/LUCKMANN 1966/1980). Dabei bringen typischerweise – schon in der frühen Versammlungskommunikation – Sprecher*innen von Gruppen Bedürfnisse, Forderungen etc. ein, worauf andere reagieren (können). Auf deren Reaktionen kann es erneut Reaktionen geben etc. Man kann auch sagen, dass Gesellschaft nur durch Kommunikation existiert, was Wagner (2014a: 245; Hervorh. d. Verf.) als das »kommunikative Prinzip« bezeichnet. Dieses findet sich bereits in der antiken Philosophie (vgl. auch BEIERWALTES 1999: 25-28). In diesem Sinne sprach Thomas Luckmann in einigen späten Arbeiten nicht mehr nur von der »social«, sondern auch von der »communicative construction of reality« (zit. nach SCHNETTLER 2006: 128; Hervorh. d. Verf.).

Vor diesem Hintergrund erscheint Versammlungskommunikation als die »›Urform sozialer Kommunikation‹« (SCHÖNHAGEN 2008a: 2). Sie stieß jedoch mit dem Anwachsen und der zunehmenden Ausdifferenzierung von Gesellschaften an Grenzen: Eine Versammlung aller bzw. aller mitspracheberechtigten Mitglieder an einem Ort zur gleichen Zeit war nicht mehr realisierbar. Dieses Problem der »Dislokation der Kommunikationspartner« (WAGNER 1995: 19) konnte nur gelöst werden, indem die Versammlungskommunikation durch einen anderen Kommunikationsmodus abgelöst wurde: die »Kommunikation über Distanz« (WAGNER 1995: 21; Hervorh. d. Verf.), d. h. zwischen nicht-anwesenden Kommunikationspartnern (auch als Fernkommmunikation bezeichnet). Historisch kann zunächst eine Zunahme von derartigen Kommunikationsformen, ergänzend zur Versammlungskommunikation, beobachtet werden. Dabei bedurfte die Kommunikation für ihr Zustandekommen der technischen und/oder menschlichen Vermittlung. Insbesondere dieses Einschalten von Vermittlern veränderte den gesellschaftlichen Nachrichtenaustausch grundlegend. Wolfgang Riepl spricht in seiner erstmals 1913 veröffentlichten Studie über das Nachrichtenwesen des Altertums (2014: 93) davon, dass an die Stelle der Versammlung zunehmend das »Prinzip der Auseinandertragung oder Versendung« von Mitteilungen trete. Das heißt, dass zum einen der kommunikative Austausch nicht mehr annähernd gleichzeitig zwischen Anwesenden stattfand, wie in der Versammlungskommunikation, sondern immer häufiger zeitversetzt (sukzessiv) zwischen räumlich voneinander entfernten Personen, also Abwesenden. Zum anderen war bei der Versammlungskommunikation jede*r, die oder der etwas mitteilen wollte, auch selbst Übermittler*in dieser Nachricht. Wagner (1978: 96) bezeichnet dies als »Eigen«- oder »Selbst-Vermittlung«. Fernkommunikation dagegen beruht auf der Trennung zwischen dem Vorgang der Mitteilung selbst und ihrer Übermittlung an die Angesprochenen. Erst diese Trennung ermöglichte es dann auch, eine Vielzahl von Mitteilungen unterschiedlicher Urheber*innen mittels einer Person bzw. in einem Medium zusammenfassend weiterzugeben. Dies war der Kern der Lösung, um unter den Bedingungen komplexer und räumlich ausgedehnter Gesellschaften eine für alle überschaubare und zugängliche Kommunikation zu realisieren. Allerdings ist es in diesem Fall keineswegs mehr so selbstverständlich wie bei den natürlichen Medien, dass jeder potenzielle Kommunikationspartner über solche Medien verfügen kann (vgl. WAGNER 2009: 106f.). Im Gegenteil fand eine zunehmende Konzentration der Vermittlung in Form professioneller Vermittler bzw. von Medienorganisationen statt (vgl. WAGNER 1995: 15ff.). Diese entwickelten zudem eine wachsende Autonomie von den an der Kommunikation Beteiligten (Individuen und insbesondere Gruppen). Mit diesen Rationalisierungs- und Konzentrationsprozessen erhöhte sich schrittweise die Effizienz der Kommunikationsvermittlung (siehe im Detail Kap. 3), aber auch die Abhängigkeit der potenziellen Kommunikationspartner von den professionellen Vermittlern. Letzteres führte sodann zu Maßnahmen der »Gegenrationalisierung« (WAGNER 1995: 56), u. a. in Form von Öffentlichkeitsarbeit gesellschaftlicher Akteurskollektive bzw. von Organisationen (siehe Kap. 4.1).

Die wachsende gesellschaftliche Differenzierung und die Weiterentwicklung der Kommunikation über Distanz bedingten und verstärkten sich wechselseitig: Kommunikation über Distanz ermöglichte stärkere gesellschaftliche Differenzierungen, die ihrerseits verstärkte Kommunikation(svermittlung) notwendig machten (vgl. KNIES 1857/1996: 58; HALBACH 1998: 277; WAGNER 2009: 92f.).12 Hartmut Winkler (1997: 204) weist ebenfalls darauf hin, dass »eine direkte Beziehung zwischen dem Maß der gesellschaftlichen Differenzierung und dem gesellschaftlichen Kommunikationsbedarf« bestehe. Bezug nehmend auf die Theorie der reflexiven Modernisierung des Soziologen Ulrich Beck sowie auf andere Autoren erläutert Lothar Mikos (1994: 9) diesen Zusammenhang am Beispiel des Fernsehens:

»Der gesamte Prozeß der reflexiven Modernisierung, der durch die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und durch die Pluralisierung von Lebensformen gekennzeichnet ist, wurde ›in entscheidendem Maße durch die Kommunikationsmedien gestützt und oft erst auf den Weg gebracht‹ […]. Nur die Medien sind noch in der Lage, die Integration der sich ausdifferenzierenden Gesellschaften zu sichern. […] Zugleich verstärken die Medien jedoch die weitere Segmentierung und Pluralisierung der Gesellschaft«.

Das vorläufige Ergebnis der dargelegten (Rationalisierungs-)Prozesse war die Entstehung von Zeitungen sowie des Journalismus. Zunächst wurden Zeitungen handschriftlich vervielfältigt; erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde der Buchdruck, der in Europa Mitte des 15. Jahrhunderts entwickelt wurde, zur Rationalisierung der Zeitungsproduktion genutzt. Die damit ermöglichte massenhafte Vervielfältigung führte dazu, dass die Kommunikation über Distanz, genauer die journalistisch vermittelte Kommunikation die Versammlungskommunikation als zentrale Form des gesellschaftlichen Austauschs ablösen konnte. Dadurch wurden auch mediale Öffentlichkeiten anstelle von Präsenzöffentlichkeiten bestimmend (vgl. FÜRST/SCHÖNHAGEN/BOSSHART 2015: 334f.; BEIERWALTES 2000: 28-31). Dies bedeutete einen tiefgreifenden Umbruch in der gesellschaftlichen Kommunikation, der zu Recht als »Kommunikationsrevolution« (WAGNER 2009: 106; Hervorh. d. Verf.) bezeichnet werden kann. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Versammlungskommunikation nicht obsolet wurde, sondern ergänzend in vielen gesellschaftlichen Bereichen bis heute bestehen geblieben ist, wie z. B. in Parlamenten, bei Bürger- oder Vereinsversammlungen etc.13

In der Literatur wird meist die von Gutenberg entwickelte Typografie als eine erste (oder nach der Schrift zweite) Medien-Revolution betrachtet (vgl. u. a. WELKE 2008: 9f.). Tatsächlich aber war der Übergang von handgeschriebenen zu gedruckten Medien aktueller gesellschaftlicher Kommunikation fließend (siehe Kap. 3.2). Und auch die Form der frühen Wochenzeitungen änderte sich zunächst durch den Druck kaum (vgl. BÜCHER 1893/2017: 223). Wolfgang Behringer (2003) argumentiert in einer umfassenden Studie zur Geschichte der Post überzeugend, dass die entscheidende Kommunikationsrevolution im Europa der Frühen Neuzeit nicht der Buchdruck war, sondern die Entwicklung der Infrastruktur der Kommunikation, d. h. der Post- bzw. Verkehrsnetze. Wie oben angesprochen, war es letztlich wohl die Kombination mehrerer Innovationen – handgeschriebene periodische Zeitungen, wesentlich basierend auf dem öffentlichen Postwesen, und Typografie – die den in diesem Buch als revolutionär betrachteten Umbruch von der Versammlungs- zur journalistisch vermittelten Kommunikation ermöglicht haben. Dazu kamen soziale und politische Veränderungen, die ihrerseits wiederum durch den Buchdruck gefördert wurden (vgl. WILKE 2008: 37f.) und zu einem gesteigerten Nachrichtenbedürfnis führten. Die starke Verbreitung der Zeitung beförderte wiederum die Veränderungen in der politischen Öffentlichkeit. Solche Wechselwirkungen zwischen technischen Innovationen und gesellschaftlichem Wandel sind typisch für soziale Evolutionsprozesse (siehe weiter unten).

Interessant ist, dass sich Teilschritte der dargelegten Entwicklung auch in der römischen Antike und im ersten nachchristlichen Jahrtausend in China feststellen lassen (vgl. BÜCHER 1893/2017: 203f.; RIEPL 2014: 163; WAGNER 2014b: 214, 226, 237). Zudem sind offenbar im chinesischen Hangzhou im 12. und 13. Jahrhundert alle Entwicklungsschritte zu beobachten, also bis hin zu Wochen- und Tageszeitungen mit autonomer, journalistischer Vermittlung – aber diese blieben dort nur ein illegales Phänomen von begrenzter Dauer (vgl. HE 2015 und Kap. 3.3). Insofern hat sich erstmals im Europa der Frühen Neuzeit die journalistische Kommunikationsvermittlung dauerhaft durchgesetzt und recht schnell auch über zahlreiche weitere Weltgegenden verbreitet. Dies kann damit in Verbindung gebracht werden, dass zwar die materiellen oder technischen Voraussetzungen dieser Entwicklung – wie das Botenwesen, die Schrift und das Papier, die Typografie sowie v. a. die Einrichtung von Verkehrsnetzen und eines (allgemein zugänglichen) Postwesens (siehe Kap. 3.1) – auch andernorts zumindest größtenteils gegeben waren, nicht aber zugleich derselbe spezifische Komplex weltanschaulicher oder ideeller Faktoren wie in Europa (vgl. MITTERAUER 2004: 257ff., 274ff.). Kurt Imhof (2006: 53) spricht von einer spezifischen »Spannung zwischen Kognition und Glauben«, die für die »okzidentale Entwicklung« (anders als etwa die chinesische) prägend war. Auf diesen Faktorenkomplex wird in Kapitel 3.3 zurückzukommen sein. Diese (gut dokumentierte) europäische Entwicklung steht im Fokus des vorliegenden Buches.

Auf den tiefgreifenden Umbruch durch die (gedruckten) Wochenzeitungen und den Journalismus folgten weitere, evolutionäre Entwicklungen, die durch eine Diversifizierung der Massenmedien gekennzeichnet sind. Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts entwickelten sich nicht nur die Zeitungen weiter, sondern es entstanden mit den Zeitschriften weitere Printmedien mit anderen Funktionen. Mit der Einführung und Nutzung der Elektrizität im 19. Jahrhundert kamen sodann mit Radio, (Kino-)Film und Fernsehen weitere Massenmedien dazu, die im späten 20. Jahrhundert, auf der Basis des Internets sowie des Mobilfunks, durch digitale Medien ergänzt wurden (siehe Kap. 4.3 u. 5).

Mit dem Einsatz der elektronischen Medien verbindet sich nach Wagner (vgl. 2009: 109) erneut ein tiefgreifender Wandel gesellschaftlicher Kommunikation (dazu auch BÖSCH 2019: 141). Allerdings kam es nicht erneut zu einem vollständigen Umbruch hinsichtlich der zentralen Form gesellschaftlicher Kommunikation: Die journalistisch vermittelte Kommunikation und damit die medialen Öffentlichkeiten blieben weiterhin grundlegend. Insofern werden die mit den elektronischen Medien verbundenen Veränderungen hier eher als evolutionäre Entwicklungen verstanden, auch wenn sie starke Veränderungen mit sich brachten.14 Denn mit den elektronischen Medien wurde grundsätzlich wieder ein gleichzeitiger Austausch möglich, was zuvor, auf der Basis der Printmedien, nicht mehr gegeben war (vgl. WAGNER 2009: 109f.). Dies hat mit der Etablierung spezieller Informations- bzw. Kommunikationsnetze zu tun, die an die Stelle der vorher für die Kommunikationsvermittlung genutzten – langsameren – Verkehrsnetze traten. Internet und Smartphone haben außerdem wieder eine (nahezu) allgemeine Medienverfügbarkeit etabliert,15 ähnlich wie in der Versammlungskommunikation mit den natürlichen Medien. In diesem Kontext wird noch zu diskutieren sein, ob sich damit eine neuerliche Kommunikationsrevolution verbindet oder zumindest ankündigt (siehe Kap. 5).

Der Evolutionsbegriff stammt ursprünglich aus den Naturwissenschaften, ist aber auch »im Zusammenhang der Theorien des sozialen Wandels […] längst unentbehrlich geworden« (LÜBBE 2012: 278), nicht zuletzt in systemtheoretischen (Luhmann) und konstruktivistischen Zusammenhängen (vgl. SCHMIDT 1994: 261).16 Franz Adam Löffler verwendete ihn bereits im 19. Jahrhundert für seine kommunikationsgeschichtliche Darstellung des »Gebärungsprozess[es] der Presse« (WAGNER 2009: 92). Im vorliegenden Buch werden unter sozialer Evolution irreversible Prozesse (langsamer) struktureller Veränderungen verstanden, die gerichtet stattfinden. Ihre Gerichtetheit ergibt sich daraus, dass sich soziale Systeme ständig an Veränderungen ihrer Umwelt anpassen müssen, indem sie ihrerseits mit Änderungen reagieren, die im Prinzip rational, also zielgerichtet erfolgen – unter den veränderten Rahmenbedingungen. Die evolutionären Prozesse selbst sind aber insofern als »ziellos« zu bezeichnen, als eben diese veränderten Bedingungen nicht vom sozialen System selbst intendiert, sondern zufällig sind. Die Folgen und das Ende solcher Prozesse können jeweils nur im Nachhinein erschlossen werden (vgl. LÜBBE 2012: 281; ähnlich auch STUDER 2018: 36). Dabei können evolutionäre Entwicklungen letztlich auch zu einem revolutionären Umbruch führen, wie Terence P. Moran (2010: 9) erläutert: »Revolution is either rapid significant change or the moment when evolutionary change reaches a critical mass that results in significant change in a system«. Dies kann deutlich mit Blick auf den Umbruch von der Versammlungs- zur journalistisch vermittelten Kommunikation beobachtet werden, dem eine Reihe von Entwicklungsschritten vorausging (siehe Kap. 3). Zunächst wird nun aber der Ausgangspunkt aller dieser Entwicklungen näher in den Blick genommen: die Versammlungskommunikation.

6Eine ähnlich technikzentrierte Phaseneinteilung findet sich bei Moran (2010: 8).

7Zu weiteren Vorschlägen solcher Phasen oder »Perioden der Mediengeschichte« vgl. etwa auch Schmolke (2007: 236-238), North (1995: iXf.) und Faulstich (2006: 11-15). Den wohl »frühesten bekannten Periodisierungsversuch des gesellschaftlichen Nachrichtenverkehrs« (WAGNER 2014a: 243) legte Franz Adam Löffler schon 1837 vor.

8Es sei angemerkt, dass diese Ausführungen Luhmanns zu gesellschaftlichen Entwicklungen und ihrem engen Zusammenhang mit Veränderungen in der Kommunikation einige erstaunliche Ähnlichkeiten mit Überlegungen zweier Autoren des 19. Jahrhunderts (Albert Eberhard Friedrich Schäffle und Franz Adam Löffler) aufweisen (vgl. BAUER 2016: 74ff.; WAGNER 2009: 92ff.).

9Vgl. dazu auch Schönhagen (2008a), wo diese Überlegungen – damals in Teilen einem unveröffentlichten Manuskript Wagners (2005) folgend – bereits aufgegriffen wurden.

10Es handelt sich hierbei um einen theoretischen Ansatz zur gesellschaftlichen Kommunikation und Massenkommunikation, der seit den späten 1920er-Jahren von Wissenschaftlern am Münchner Institut für Kommunikationswissenschaft entwickelt wurde.

11Die Begriffe ›Gesellschaft‹ und ›Gemeinschaft‹ werden in der Literatur häufig, basierend auf einer Unterscheidung von Tönnies (1979 [1887]), voneinander abgegrenzt. Nach Tönnies ist Gemeinschaft u. a. gekennzeichnet durch interpersonale Bezugsgruppen sowie ›direkte Kommunikation‹ und wurde, historisch betrachtet, v. a. durch Religion bzw. Glaubensinhalte zusammengehalten. Gesellschaft dagegen ist geprägt durch partikulare Interessen, funktionale Differenzierung und (medien-)vermittelte Kommunikation (vgl. AVERBECK-LIETZ 2015: 64f.). Teilweise wird stattdessen das Begriffspaar ›Vergemeinschaftung‹ und ›Vergesellschaftung‹ verwendet, um unterschiedliche Phänomene sozialer Beziehungen (in heutigen, modernen Gesellschaften) zu charakterisieren (vgl. SCHWIETRING 2011: 24-28; SCHERR 2006: 56-61).

12Zu einer sehr ähnlichen wie der hier dargelegten Sichtweise auf die Entwicklung von der Versammlungs- zur Massenkommunikation und zum Journalismus, wenn auch nur sehr knapp dargelegt, vgl. Domingo et al. (2008: 327-329) sowie Beierwaltes (1999: 28-32).

13Auch daran wird der grundlegende Umbruch deutlich: Lange Zeit ergänzten einfache Formen der Kommunikation über Distanz die zentrale Versammlungskommunikation, während seit der Frühen Neuzeit die Versammlungskommunikation nur noch eine ergänzende Rolle spielt und die journalistisch vermittelte Kommunikation die gesellschaftsweite Öffentlichkeit herstellt.

14Im Kontext der Kommunikations- und Mediengeschichte ist auf recht unterschiedliche Weise von Revolutionen und Evolution(en) die Rede. In der Regel werden mit dem Revolutionsbegriff »tiefgreifende [strukturelle] Veränderungen« (BEHRINGER 2003: 9f.; vgl. auch WAGNER 2009: 107) verbunden. Behringer (2003: 9ff.) unterscheidet dabei nochmals zwischen Medien- und Kommunikationsrevolutionen. Für Wagner (2009: 106) ist die »Umstellung von der Versammlungskommunikation zu einer wirklich effektiven Kommunikation über Distanz« aufgrund des »Wechsel[s] der Prinzipien der Nachrichtenverbreitung« klar »eine Kommunikationsrevolution«. Dem folgen auch die Autor*innen des vorliegenden Buchs. Bisweilen wird jedoch schon die Einführung neuer Techniken oder gar einzelner Geräte oder Angebote als revolutionär bezeichnet. So wird z. B. die Erfindung von beweglichen Lettern durch Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, in Mainz als Revolution bezeichnet (vgl. u. a. WELKE 2008: 9f.; EISENSTEIN 1979; kritisch dazu BEHRINGER 2003: isff.; BRIGGS/BURKE 2009: 19; WÜRGLER 2013: 81-83). Tatsächlich wurde das Prinzip jedoch schon früher in Asien entwickelt, wenn auch nicht mit dem Gutenberg’schen Bleiguss-Verfahren (vgl. SCHÖNHAGEN 2008a: 54). Zudem veränderte diese Erfindung nicht sofort grundlegend die soziale Kommunikation, weil weitere wichtige Voraussetzungen fehlten. Insofern stellte die Versammlungskommunikation zunächst weiter die dominierende Form gesellschaftlicher Kommunikation dar. Mosco (2005) zeigt am Beispiel mehrerer Medien(technologien) im Detail, dass deren Einführung jeweils, im wissenschaftlichen wie populären Diskurs, sehr ähnliche Erwartungen radikaler Umbrüche (vgl. u. a. ebd.: 115) hervorgerufen hat – im Sinne von »enthusiasm and awe« (ebd.: 121). Typischerweise ist es dann jedoch zu derartigen Umbrüchen nicht gekommen (vgl. u. a. ebd.: 8, 118f.).

15Nach Schätzungen der International Telecommunication Union (ITU) der Vereinten Nationen ist jedoch zu beachten, dass zwar mehr als 90 Prozent der Weltbevölkerung technisch die Möglichkeit haben, das Internet zu nutzen, aber nur etwas mehr als die Hälfte der Menschen dies auch tatsächlich tut (vgl. INTERNATIONAL TELECOMMUNICATION UNION (ITU) (2019): Measuring digital development. Facts and figures 2019. Genf: ITU Publications, S. 8. Online unter: https://www.itu.int/en/ITU-D/Statistics/Documents/facts/FactsFigures2019.pdf [13.10.2020]).

16Vgl. dazu auch den von Kinnebrock, Schwarzenegger und Birkner (2015) herausgegebenen Tagungsband mit diversen Beiträgen von Wilke, Stöber, Ziemann und Latzer. Dennoch wird immer wieder darauf hingewiesen, dass sich evolutionstheoretische Ansätze nicht breit durchgesetzt hätten (vgl. STUDER 2018: 41). Grundsätzlich kritisch zur Verwendung des Evolutionsbegriffs in Verbindung mit Kommunikations- und Mediengeschichte äußert sich Prokop (2001: 8).

Kommunikations- und Mediengeschichte

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