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2.VERSAMMLUNGSKOMMUNIKATION

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Wie eingangs erwähnt, erfordert jedes menschliche Zusammenleben kommunikativen Austausch über »das, was alle angeht«, wie es Peter Schneider in seinem Rechtsgutachten im Rahmen der Spiegel-Affäre formulierte (zit. nach MARCIC 1965: 165). So müssen Probleme diskutiert und Lösungen gefunden, Aufgaben auf die Mitglieder einer Gemeinschaft aufgeteilt sowie Entscheidungen getroffen werden. Auch werden die für alle gültigen Regeln und Normen kommunikativ etabliert und durchgesetzt. Ohne umfassende Kommunikation kann keine Gemeinschaft oder Gesellschaft entstehen und (fort)bestehen – die Mitglieder konstruieren mithilfe von Kommunikation ihre gemeinsame Wirklichkeit (siehe Kap. 1). Frühe Gesellschaften basierten weitgehend auf mündlicher Kommunikation (sog. orale Gesellschaften) (vgl. WILKE 2008: 4f.). Der Staatsphilosoph René Marcic (1965: 64; Hervorh. d. Verf.) spricht daher auch von der »Redegesellschaft« als dem »Urschema der Gesellschaft«. Mündliche Kommunikation vollzog sich im alltäglichen Austausch zwischen einzelnen Mitgliedern oder kleineren Gruppen, etwa bei den Mahlzeiten oder der Jagd, sowie mittels eher zufällig oder nebenbei stattfindender Kommunikation wie etwa bei Festen und Märkten, sog. »okkasionellen« Öffentlichkeiten (THUM 1990: 47; BELLINGRADT 2011: 22). Daneben findet man schon früh auch formalisierte Kommunikation im Rahmen von speziellen Versammlungen. Meist wurden dafür besondere Orte genutzt, wie z. B. Versammlungshäuser oder der Fest- bzw. Marktplatz, im antiken Athen die Agora bzw. das Forum (vgl. MARCIC 1965: 166; WELWEI 1996: 25).

Der Ethnologe Nigel Barley (2013: 191) beobachtete solche »Palaver« z. B. in den 1980er-Jahren beim Volk der Dowayo in Kamerun, wo man sich »unter einem Baum auf dem öffentlichen Rund vor dem Dorf« versammelte. Detailliertere Beispiele finden sich in Franz-Josef Eilers’ publizistikwissenschaftlicher Studie über die schriftlosen Kulturen Nordost-Neuguineas. Derartige ›Redeveranstaltungen‹ oder ›Dispute‹ wurden zu den unterschiedlichsten Themen abgehalten und konnten stundenlang dauern. Die Verhandlung von sechs Stämmen über ein gemeinsames Fest lief z. B. wie folgt ab:

»In einem Rechteck angeordnet lagerten sich die Männer der verschiedenen Stämme, insgesamt wenigstens 180 männliche Personen, auf einer Wiese neben der Straße. Immer wieder standen die Redner der einzelnen Gruppen auf, beredeten oder bedrohten sich gegenseitig oder versuchten, den Vorredner zum Schweigen zu bringen. Jede Rede wurde vom Kommentar der zugehörigen bzw. auch angesprochenen Männer begleitet. […] Die räumliche Anordnung der einzelnen Clans auf dem Versammlungsplatz […] entsprach in etwa der Himmelsrichtung, in der ihre Wohngebiete lagen« (EILERS 1967: 69).

Hier ist, bei einer schon relativ großen Gruppe von Beteiligten, sehr deutlich zu beobachten, dass nicht jeder Einzelne während dieses Disputs selbst das Wort ergriff, sondern dass bestimmte Redner für größere Gruppen sprachen. Zudem verdeutlichte ihre räumliche Ausrichtung für die Zuhörer, für wen sie sprachen. Bei Eilers finden sich eine Reihe weiterer deutlicher Hinweise auf dieses Phänomen der Kommunikationsrepräsentanz, das weiter unten noch näher erläutert wird.

Während langer Zeiträume der Menschheitsgeschichte – in Europa bis weit ins Mittelalter, in Stammesgesellschaften noch bis ins 20. Jahrhundert hinein – erfolgte umfassender öffentlicher Austausch in ähnlicher Art und Weise. Meist waren an dieser Form der Kommunikation allerdings nicht sämtliche Mitglieder einer Gemeinschaft oder Gesellschaft beteiligt. Im antiken Athen z. B. verfügten nur die freien, männlichen Bürger über ein Rederecht bei der Volksversammlung, der sog. Ekklesia. Um 322 v. Chr. waren dies etwa 30.000 Männer, wobei durchschnittlich nur 5.000 bis 6.000 an den Versammlungen teilnahmen (vgl. WELWEI 1996: 31, 37). Ein solcher Austausch nahm erhebliche Zeit in Anspruch, sodass andere Teile der Gesellschaft gleichzeitig für den Erhalt der Lebensgrundlagen sorgen mussten – meist waren dies v. a. Frauen und Sklaven (vgl. SCHÖNHAGEN 2004: 137). Dies gilt auch für das antike Athen. Aber nicht nur in der Frühzeit der Menschheit und der Antike, sondern auch noch im Mittelalter wurde ein großer Teil des kommunikativen Austauschs mündlich abgewickelt, z. B. bei Dorf- oder Volks- und Gerichtsversammlungen, den sog. Ding- oder Thing-Versammlungen (vgl. RÖSENER 2000: 47). Hintergrund ist dabei auch die im mittelalterlichen Sozialleben »elementare dominante Erwartung […]: daß die betroffene Gemeinschaft an der Herstellung und Beurteilung dieser [politischen und rechtlichen; die Verf.] Ordnungen teilhaben konnte« (THUM 1980: 18). Somit besaß die »Dingversammlung […] eine starke Integrationskraft« (RÖSENER 2000: 51).

ABBILDUNG 1

Landsgemeinde in Glarus (2014)

In der Schweiz waren solche öffentlichen Versammlungen, die »Landsgemeinden« (siehe Abb. 1) oder auch Zendenversammlungen (Bezirksversammlungen im Wallis), noch im 17. und 18. Jahrhundert eine »funktionsfähige Form der Öffentlichkeit des Politischen« (WÜRGLER 1996: 33, Hervorh. d. Verf.; vgl. auch CARLEN 1973: 24; MÖCKLI 1987: 26-30).17 In einem Kanton, Glarus, sowie einem Halbkanton, Appenzell Innerrhoden, hat sich diese Tradition – selbstverständlich mit starken Veränderungen – bis heute erhalten: Einmal im Jahr18 versammeln sich alle Stimmfähigen, um »unter freiem Himmel über alle wichtigen politischen Geschäfte« zu beraten und zu entscheiden (BLUM/KÖHLER 2006: 285).19 Entschieden wird dabei etwa über Verfassungsänderungen, Gesetze, Kreditbeschlüsse sowie Verträge, in Glarus auch über den Steuersatz, wobei auch Vorlagen abgeändert werden können. »Die Versammlung als höchstes Organ existiert überdies in einigen schwyzerischen Bezirken, in der Mehrzahl der bündnerischen Kreise und in rund 2000 Gemeinden« der Schweiz (ebd.). Insbesondere in kleineren Gemeinden stellt die Gemeindeversammlung, bestehend aus allen stimmberechtigten Einwohner*innen, noch recht häufig das Legislativorgan dar, größere haben heute meist ein Gemeindeparlament (vgl. ebd.). Bei den beiden noch bestehenden Landsgemeinden finden allerdings »lebhafte verbale Kontroversen« zwischen den Bürger*innen, wie sie früher häufig der Fall waren (WÜRGLER 1996: 34), nur noch selten statt, werden doch die anstehenden Fragen vorher bereits ausführlich in den Massenmedien diskutiert (vgl. BLUM/KÖHLER 2006: 296f., 302). Dagegen enthielten die frühen Zeitungen, im 17. und auch noch 18. Jahrhundert, meist keine oder kaum lokale Berichte, sodass für die anstehenden Entscheidungen bei den Landsgemeinden noch großer Diskussionsbedarf bestand, »ja etliche strittige Probleme sind überhaupt erst durch Anträge aus dem Kreis der gemeinen Landleute thematisiert worden« (WÜRGLER 1996: 34). Außer in den erwähnten Landsgemeinden und Gemeindeversammlungen findet Versammlungskommunikation selbstverständlich, nicht nur in der Schweiz, auch heutzutage immer noch vielerorts statt, insbesondere im Rahmen kleinerer Teilöffentlichkeiten, so etwa in Parlamenten, Vereinsversammlungen etc. Sie dient aber meist nicht mehr dem gesamtgesellschaftlichen Austausch, der heute vorwiegend über die Massenmedien zustande kommt.

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