Читать книгу Unbestreitbare Wahrheit - Mike Tyson - Страница 8
ОглавлениеNie werde ich meinen ersten Amateurkampf vergessen. Es war in einer kleinen Halle in der Bronx. Sie gehörte Nelson Cuevas, einem ehemaligen Boxer von Cus. Die Halle war ein Dreckloch. Sie befand sich im zweiten Stock eines Gebäudes direkt neben der Hochbahn. Die Gleise waren so nah, dass man die Hand aus dem Fenster strecken und beinahe die Bahn berühren konnte. Solche Kämpfe nannte man auch „Smoker“, da der Zigarettenrauch so dicht war, dass man kaum den Gegner erkennen konnte, der vor einem stand.
Smokers waren ungenehmigte Wettkämpfe, was im Grunde genommen bedeutete, dass sie illegal waren. Draußen standen keine Sanitäter und Krankenwagen. Wenn die Zuschauer den Kampf nicht mochten, äußerten sie dies nicht durch Buhrufe, sondern verprügelten sich gegenseitig, um dem Boxer zu zeigen, wie man es richtig machte.
Alle waren piekfein gekleidet, ob Gangster oder Drogendealer. Und jeder schloss eine Wette auf die Boxer ab. Ich erinnere mich, wie ich mal einen Typen fragte: „Kaufst du mir ein Würstchen in Blätterteig, wenn ich gewinne?“ Wer gewettet hatte und gewann, kaufte einem gewöhnlich etwas zu essen.
Kurz vor meinem Kampf bekam ich so große Angst, dass ich mich fast aus dem Staub gemacht hätte. Ich dachte an all die Vorbereitungen bei Cus. Selbst nach all dem Training hatte ich immer noch riesigen Bammel, gegen jemanden im Ring anzutreten. Was war, wenn ich versagte und verlor? Auf den Straßen in Brooklyn hatte ich unzählige Male gekämpft, aber dies hier war eine ganz andere Geschichte. Man kennt seinen Gegner nicht und hat nichts gegen ihn. Ich war dort mit Teddy Atlas, meinem Trainer, und ich erklärte ihm, ich würde kurz in den Laden runtergehen. Also ging ich hinunter und setzte mich auf die Treppe, die zur U-Bahn hoch führte. Eine Sekunde lang erwog ich, einfach in die verdammte Bahn einzusteigen und nach Brownsville zu fahren. Aber dann erinnerte ich mich ruckartig an alles, was Cus mir eingebläut hatte, und ich fing an, mich zu entspannen, und mein Ego und mein Stolz gewannen die Oberhand. Also ging ich wieder hinauf, zurück in die Halle.
Ich kämpfte gegen einen hochgewachsenen Puerto Ricaner mit Afro-Look. Er war 18, vier Jahre älter als ich. Zwei Runden lang traktierten wir uns gegenseitig mit harten Schlägen, aber in der dritten traf ich ihn voll, und er fiel gegen das untere Seil. Ich ließ noch einen Schlag folgen, der ihm buchstäblich das Mundstück herausriss, das in die Zuschauermenge geschleudert wurde. Ich hatte ihn k.o. geschlagen und war außer mir vor Begeisterung. Der Ring – das war mein Leben. Ich wusste nicht, wie ich den Sieg feiern sollte. Also trat ich auf ihn, stellte mich auf den flach am Boden liegenden Scheißkerl und riss die Arme hoch.
„Geh sofort von ihm runter, was fällt dir ein, dich auf den Mann zu stellen“, schnauzte mich der Ringrichter an. Cus war in Catskill und erwartete meinen Anruf, damit ich ihm vom Ausgang berichtete. Teddy rief ihn an und berichtete ihm, was geschehen war. Cus war so begeistert, dass er sich am nächsten Morgen von seinem Freund Don, der uns zur Halle gefahren hatte, ein weiteres Mal alles berichten ließ.
Jede Woche kehrte ich dorthin zurück. Man ging in die Umkleidekabine, wo sich einige Kids versammelt hatten, und man erklärte ihnen, wie schwer man war und wie viele Boxkämpfe man bereits ausgetragen hatte. Gewöhnlich flunkerte ich, machte mich älter als 14. Es gab nicht gerade viele 14-jährige Boxer, also kämpfte ich immer gegen ältere Jungs.
Diese Smokers bedeuteten mir sehr viel, viel mehr als den anderen Kids. Ich war nämlich in der Hölle geboren und jedes Mal, wenn ich einen Kampf gewann, bedeutete dies einen Schritt weg von dieser Hölle. Die anderen Boxer waren nicht so hinterhältig wie ich, und hätte ich nicht diese Smokers gehabt, wäre ich vermutlich in der Gosse zugrunde gegangen.
Sogar Teddy trat bei diesen Kämpfen in Aktion. Eines Abends waren wir in Nelsons Halle und irgendein Kerl schubste Teddy. Teddy verpasste ihm einen Fausthieb ins Gesicht, und Nelson mischte sich ein. Er nahm eine der Trophäen, die seine Halle schmückten, echter Marmor mit einem Boxer aus Zinn auf dem Sockel, und fing an, dem Kerl auf den Schädel zu schlagen. Wären die Bullen aufgekreuzt, hätten sie ihm einen Mordversuch unterstellt. Wo auch immer Teddy auftauchte, lag Streit in der Luft. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass er mich verteidigte oder andere Kerle neidisch waren, weil er den besten Boxer hatte, aber er war nie so klug, auch nur einmal nachzugeben.
Eines Tages fuhren wir nach Ohio, aber Teddy geriet auch dort sogleich wieder in Streit mit anderen Trainern.
Wir fingen an, bei Smokers im gesamten Nordosten anzutreten. Bevor wir losfuhren, nahm mich Cus beiseite.
„Ein paar Freunde von mir werden sich den Kampf ansehen. Ich werde am Telefon sitzen und warten. Ich rechne damit, dass sie wie ein Rohrspatz über deinen Kampf schimpfen werden, wenn sie anrufen“, sagte er. Das vergaß ich nie. „Wie ein Rohrspatz schimpfen.“ Das spornte mich so an, dass ich während der sechsstündigen Fahrt wie aufgezogen war. Ich konnte keine Sekunde stillsitzen. Ich konnte es nicht abwarten, in den Ring zu steigen und die Scheißkerle zu vermöbeln. Einer meiner Gegner kam mit seiner Frau und seinem Baby zum Kampf, und ich zwang ihn eiskalt zu Boden.
Cus kam zu meinem fünften Kampf in einem Smoker in Scranton. Ich trat gegen einen Typen namens Billy O’Rourke im Scranton Catholic Youth Center an. Billy war 17, und ich behauptete, genau so alt zu sein, denn es war ein offizieller Pro-Card-Kampf für Amateure. Vor dem Kampf ging Cus zu O’Rourke.
„Mein Mann ist ein Killer“, sagte Cus. „Ich will nicht, dass du was abbekommst.“
Das war bis dahin mein härtester Kampf. In der ersten Runde hatte ich die Oberhand und hielt ihn in Schach, aber dieser irre weiße Psycho kam immer wieder hoch. Nicht nur, dass er ein ums andere Mal wieder aufstand, er legte immer noch einen zu. Je härter ich ihn in die Knie zwang, desto unnachgiebiger stand er wieder auf und verpasste mir seine Haken. In der ersten Runde hatte ich ihn durch meine Schläge in Schach gehalten, aber in der zweiten herrschte der totale Kriegszustand. Wir kämpften jetzt in der dritten Runde, und Teddy wollte nicht riskieren, dass der Kampf in die falsche Richtung lief.
„Hör zu, du erzählst ständig, dass du ein großer Boxer werden willst, wie all die tollen Boxer, und dass du es unbedingt schaffen willst. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Geh da rein und beweg deinen Kopf, schlag zu.“ Ich stand auf, stieg in den Ring und zwang in der dritten Runde O’Rourke dreimal zu Boden. Er war blutüberströmt. Am Ende des Kampfes drängte er mich gegen die Seile. Aber ich befreite mich wieder und versetzte ihm einen K.o.-Schlag. Die Zuschauer rasten. Es war der Kampf des Abends.
Cus freute sich über meinen Auftritt, aber meinte auch: „Noch eine Runde, und er hätte dich besiegt.“
Im Mai und Juni 1981 strebte ich meine erste Meisterschaft an – die Junior Olympiade. Bisher hatte ich etwa zehn Kämpfe ausgetragen. Zuerst musste man ein lokales Turnier gewinnen, dann ein regionales, und schließlich trat man in Colorado um den nationalen Titel an.
Ich gewann alle meine Vorentscheidungskämpfe, also flog ich mit Teddy nach Colorado. Cus nahm den Zug, weil er unter Flugangst litt. Als ich in die Umkleidekabine trat, erinnerte ich mich, wie meine Boxhelden sich verhalten hatten. Die anderen Kids gingen auf mich zu, streckten die Hand aus, um meine zu schütteln. Aber ich lächelte nur spöttisch und wandte ihnen den Rücken zu. Ich spielte eine Rolle. Jemand sagte etwas, und ich starrte ihn nur an. Cus sagte immer, man müsse seinen Gegner manipulieren, indem man Chaos und Verwirrung stifte, selbst aber eiskalt bleibe. Ich beschwor solche chaotischen Situationen herauf, dass ein paar der anderen Boxer mich nur ansahen und danach ihren Kampf verloren, damit sie später nicht gegen mich antreten mussten. Ich gewann alle meine Kämpfe durch K.o.-Schläge in der ersten Runde. Die Goldmedaille bekam ich, nachdem ich Joe Cortez in acht Sekunden besiegt hatte, ein Rekord, der, wie ich glaube, bis heute einmalig ist. Ich war auf dem richtigen Weg.
Nachdem ich diese Goldmedaille gewonnen hatte, wurde ich zum Lokalhelden. Cus gefiel die Aufmerksamkeit, die ich erregte. Er liebte das Rampenlicht. Aber ich musste immer wieder daran denken, wie irre das alles war. Ich war gerade einmal 15, und die Hälfte meiner Freunde in Brownsville war tot, ausgelöscht. In Catskill hatte ich nicht viele Freunde. Ich hatte auch kein Interesse an der Schule. Cus und ich hatten unsere Pläne, was wir im Leben erreichen wollten, und so wirkte die Schule auf mich wie eine Ablenkung von diesem Ziel. Es war mir egal, was man mir beibrachte, trotzdem hatte ich das Bedürfnis zu lernen. Cus unterstützte mich dabei, und ich las einige Bücher aus seiner Bibliothek, darunter welche von Oscar Wilde, Charles Darwin, Machiavelli, Tolstoi, Dumas und Adam Smith. Ich las auch ein Buch über Alexander den Großen. Geschichte mochte ich ganz besonders, da sie so viel über das Wesen des Menschen verriet. Und ich lernte auch viel darüber, was diese Männer tief in ihrem Inneren bewegte.
In der Schule hatte ich eigentlich keine größeren Schwierigkeiten, abgesehen davon, dass ich mal ein paar Schüler vermöbelt habe und dafür suspendiert wurde. Einige Schüler machten sich wohl über mich lustig, aber niemand legte sich mit mir an. Cus hatte Mr. Bordick, meinem Rektor an der Junior Highschool, erklärt, dass ich etwas Besonderes sei und mir deshalb Zugeständnisse gemacht werden müssten. Mr. Bordick war ein sehr netter Mann. Wenn es ein Problem gab, ging Cus zu ihm, redete mit seinen typisch italienischen Gesten auf ihn ein, und ich konnte wieder zur Schule gehen. Um 17 Uhr kam ich aus der Schule und ging erst mal für zwei Stunden in die Sporthalle. Abends las ich Bücher übers Boxen, sah mir Filme an oder unterhielt mich mit Cus. An den Wochenenden stand ich morgens um fünf Uhr auf, joggte ein paar Meilen, frühstückte, legte mich nochmal schlafen und stand gegen Mittag wieder in der Sporthalle. Während der Woche absolvierte ich mein Jogging auf dem Weg zur Schule und auf dem Rückweg.
Ab und zu sorgte mein Mentor, der Kontrollfreak Cus, für Extra-Laufeinheiten. Einmal war ich auf einem Schulball, der um 22 Uhr enden sollte. Ich informierte Cus, dass ich um 23 Uhr zu Hause sei. Nach dem Ball war es noch richtig gemütlich, also rief ich Cus an und erklärte ihm, ich würde vermutlich etwas später heimkommen, weil ich auf ein Taxi warten müsse.
„Nein, mach dich sofort auf die Socken und renn heim, ich kann nicht auf dich warten“, raunzte er mich an. Cus gab uns keine Haustürschlüssel, aus Angst, wir könnten sie verlieren.
Ich trug einen Anzug und hübsche Abendschuhe, aber Cus wollte, dass ich SOFORT losrannte. Meine Freunde wussten bereits, dass ich zu gehen hatte, wenn Cus das wollte.
Einmal war ich mit ein paar Freunden unterwegs, und wir feierten ausgelassen. Dann fuhren sie mich nach Hause. Ich sah durchs Fenster, dass Cus in seinem Sessel eingeschlafen war, während er auf meine Heimkehr wartete.
„Dreht um, nehmt mich mit zu euch. Ich habe keine Lust, mich mit Cus rumzustreiten“, sagte ich. Jedes Mal, wenn ich zu spät nach Hause kam, machte er mich zur Schnecke. Ich versuchte, die Treppe hochzuschleichen, doch sie war alt und knarzte, und ich dachte bei mir: „Scheiße, das ist das Ende.“ Nach einem Kinobesuch, den mir Cus erlaubt hatte, wartete er auf mich, um mich zu verhören.
„Was hast du gemacht? Mit wem warst du zusammen? Wer sind sie? Woher stammen ihre Familien? Wie lautet ihr Nachname? Hast du vergessen, dass du morgen einen Boxkampf hast?“
In der neunten Klasse wollte Cus mich sogar verheiraten. Ich traf mich mit Angie, einem Mädchen aus dem Ort. Cus mochte sie. Man hätte annehmen können, dass er gegen eine Beziehung war, weil diese mich vom Training abhalten würde, aber Cus fand, es wäre gut für mich, wenn ich mich fest binden würde. Ich würde ruhiger werden und könnte mich mehr aufs Boxen konzentrieren. Mit Angie war es aber nichts Ernstes. Ich wollte so großspurig leben wie meine Helden Mickey Walker und Harry Greb. Sie liebten den Alkohol und die Frauen und genossen das Leben in vollen Zügen. Aber Camille, eine wirklich tolle Frau, durchschaute die Absichten von Cus.
„Lass dir nicht von Cus einreden, wen du heiraten sollst“, erklärte sie mir. „Du triffst dich mit so vielen Mädchen, wie du Lust hast, und wählst dann die Beste aus.“
Eines Tages hatte ich in der Schule Streit, und Cus musste antanzen und die Dinge in Ordnung bringen. Als er zurückkam, wollte er mit mir sprechen.
„Wenn du dich weiterhin so aufführst, musst du fort von hier“, sagte er. Ich war am Boden zerstört und fing an zu heulen.
„Bitte, schick mich nicht fort“, schluchzte ich. „Ich will bleiben.“
Mir gefiel die familiäre Atmosphäre wirklich, die Cus mir vermittelte. Und ich liebte ihn abgöttisch. Er war der erste Weiße, der mich nicht nur nicht verurteilte, sondern der denjenigen, der sich abfällig über mich äußerte, windelweich prügeln würde. Niemand war mir so nahe wie dieser Italo. Er drang bis in mein tiefstes Inneres vor. Jedes Mal, nachdem ich mich mit ihm unterhalten hatte, musste ich los und durch Schattenboxen oder Sit-ups Energie verbrennen, so aufgewühlt war ich. Ich lief los und fing an zu heulen, denn ich wollte ihn glücklich machen und beweisen, dass all die positiven Dinge, die er über mich sagte, richtig waren.
Ich glaube, an jenem Tag fühlte sich Cus nicht wohl in seiner Haut, weil er mir gedroht und mich zum Heulen gebracht hatte, denn er umarmte mich. Das war das erste körperliche Zeichen von Zuneigung, das ich je bei ihm erlebt hatte. Aber als ich anfing zu heulen, wusste Cus, dass er mich in der Hand hatte. Von diesem Augenblick an wurde ich sein Sklave. Hätte er mir befohlen, jemanden umzubringen, ich hätte es getan. Das meine ich total ernst. Alle nahmen an, dass ich bei einem reizenden alten Italiener wohnte, dabei war ich mit einem Scheißkrieger zusammen. Aber ich genoss jede Minute. Ich war glücklich, sein Soldat zu sein, dies gab meinem Leben einen Sinn. Ich war gerne derjenige, der seine Mission erfüllen sollte.
Ich trainierte jetzt noch härter, wenn das überhaupt möglich war. Wenn ich aus der Sporthalle kam, musste ich die Treppe buchstäblich hochkriechen. Ich kämpfte mich zum Bad im dritten Stock hoch. Cus ließ heißes Wasser in die Porzellanwanne einlaufen und tat noch etwas Epsomsalz hinein.
„Bleib so lange darin sitzen, wie du es aushältst“, sagte er. Also setzte ich mich rein, und das heiße Wasser verbrannte mich. Aber am nächsten Morgen ging es meinem Körper sehr viel besser, und ich konnte wieder trainieren. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so großartig gefühlt. Ich war fixiert auf meine Mission, und davon wich ich kein Jota ab – ein Gefühl, das ich niemandem so richtig erklären kann.
Wenn die anderen Boxer aus der Halle gingen, sich mit ihren Freundinnen amüsierten und ihr Leben genossen, kehrten Cus und ich nach Hause zurück und arbeiteten weiter. Wir stellten uns vor, dass wir überall auf der Welt Häuser besitzen würden. Cus sagte: „Nein wird ein Fremdwort für dich sein. Du wirst ein Nein und alles, was damit zusammenhängt, nicht mehr verstehen.“
Mir erschien es unfair von den übrigen Boxern, nach dem Weltmeistertitel zu greifen, denn ich wurde von diesem Genius, der mich darauf vorbereitete, großgezogen. Jene anderen Kerle wollten Geld scheffeln und ihrer Familie ein schönes Leben bieten. Aber dank Cus wollte ich berühmt werden, und wenn sie es mit ihrem Blut bezahlen mussten. Ich war sehr unsicher, aber ich sehnte mich nach dem Ruhm und wollte, dass die Welt auf mich blickte und mir sagte, ich sähe gut aus. Dabei war ich ein verdammtes stinkendes fettes Kind.
Doch Cus versuchte, mir klar zu machen, dass es sich lohnte, nach dem grünen und goldenen WBC-Gürtel zu streben. Und nicht wegen des Geldes. Ich wollte von Cus wissen: „Was bedeutet es, der größte Boxer aller Zeiten zu sein? Die meisten dieser Männer sind tot.“
„Hör zu. Sie sind wohl tot, aber wir reden über sie. Das ist die wahre Unsterblichkeit, wenn dein Name bis zum Ende aller Zeiten bekannt ist“, sagte er.
Cus liebte die Dramatik und war wie eine Figur aus Die drei Musketiere.
„Wir müssen den richtigen Augenblick abwarten, wie die Krokodile im Schlamm. Wir wissen nicht, wann die Dürre kommt und die Tiere durch die Sahara ziehen müssen. Aber wir warten ab. Monate, Jahre. Aber unsere Zeit wird kommen. Und die Gazellen und Gnus werden das Wasser überqueren. Und wenn sie kommen, werden wir zuschlagen. Hörst du mir zu, mein Sohn? Wir werden so hart zuschlagen, dass die ganze Welt ihre Schreie hören wird.“
Er meinte es todernst, und ich auch. Cus benutzte mich, um wieder in den Boxbetrieb einzusteigen. Und ich wollte unbedingt mit von der Partie sein. Es war wie dieser Der Graf von Monte Christo-Scheiß. Wir sannen auf Rache.
Als Cus erkannte, dass ich unbeirrt an seiner Seite stand, war er sehr glücklich. Aber von Zeit zu Zeit bekam er seine Paranoia. Einmal saß ich im Wohnzimmer und war in ein Buch vertieft, als Cus in seinem Morgenrock auf und ab ging, dann aber plötzlich vor mir stehenblieb.
„Du weißt genau, was ich meine. Irgendjemand gibt dir Geld und du gehst einfach weg. Genau das wirst du tun. Das habe ich schon so oft erlebt. Ich habe Zeit investiert und Kämpfer entdeckt, und dann hat man sie mir abgeworben.“
Weggehen? Ich hätte wohl jeden getötet, der sich zwischen uns drängen wollte. Floyd Patterson hatte ihn im Stich gelassen, aber ich war nicht mit ihm zu vergleichen. Ich wollte mit Cus und Camille, meiner neuen Familie, zusammen sein. Kein Scheiß-Leben mehr führen.
„Cus, du bist verrückt“, wiederholte ich, und er ging wieder.
Im November 1981 fuhren Teddy, zwei andere Boxer und ich mit dem Auto nach Rhode Island, zu einem weiteren Smoker. Während der Fahrt grübelte ich darüber nach, was ich mit meinem beschissenen Gegner dort anstellen würde. Ich hatte Nietzsche gelesen und hielt mich jetzt für Superman. Ich konnte kaum meinen Namen buchstabieren, aber ich war jetzt Superman. Ich stellte mir bildlich vor, wie ich die Funken sprühen lassen würde und wie mir alle Beifall klatschen würden, wenn ich den Kerl auseinandernahm. In meinem Wahn stellte ich mir vor, wie man mir Blumen in den Ring warf. Ich war erst 15, aber ich trat gegen den örtlichen Champ an, einen Kerl namens Ernie Bennett, der bereits 26 war. Dies war sein letzter Kampf als Amateur, bevor er ins Profilager wechselte.
Wir betraten also die Halle, die voller widerlich dreinschauender Typen war. Ich kam mir vor wie in Brownsville. Aber, verdammte Kacke, es ließ mich kalt, denn ich war voller Energie. Teddy sagte: „Steig auf die Waage.“ Also zog ich mein Hemd und meine Hose aus; ich trug nur noch Unterwäsche und ließ meine Muskeln spielen. Ich stellte mich also auf die Waage, und alle rannten herbei und standen um uns herum.
„Das ist Tyson. Er ist es wirklich“, hörte ich die Zuschauer murmeln. Dann stand ich im Ring und fing an, nervös zu werden. Diese Kerle waren Gangster, die vor nichts zurückschreckten, und ich stammte nicht von hier. Aber ich dachte an all die Filme, die ich mir angeschaut hatte. Jack Johnson hatte ebenfalls im Ring gestanden, umgeben von einer Meute. Ich versetzte mich in seine Lage. Dann hörte ich Flüstern und Pfeifen. „Das ist der Kerl, der bei der Junior Olympiade bereits in der ersten Runde alle Gegner k.o. schlug“, hörte ich sie sagen.
Jetzt trugen Cus’ Worte Früchte. Ich war die personifizierte Vornehmheit, der große Gladiator, der zum Kampf bereit war.
„He Champ“, riefen die Jungs und lächelten. Aber ich sah sie voller Verachtung an, als wollte ich sagen: „Was glotzt ihr so, verpisst euch.“
Mein Gewicht betrug etwa 85 Kilogramm.
„Oh, du bist zu schwer“, bemerkte Bennetts Trainer. Er war taubstumm, doch man konnte gut erraten, was er meinte.
„Aber wir kämpfen gegen ihn, wir kämpfen gegen jeden“, sagte sein Boxer.
„Ich bin nicht jeder“, grinste ich.
Der Saal war proppenvoll. Es waren mindestens 3.000 Menschen anwesend. Wir stiegen in den Ring, und das ganze Drama dauerte neun Minuten – es war das totale Chaos. Noch heute redet man über diesen Kampf. Die Zuschauer tobten, pfiffen und schrien in einer Tour, sogar in der einminütigen Pause. Wir waren wie zwei Pitbulls. Er war sehr geschmeidig und schwer fassbar, außerdem sehr erfahren. Aber dann versetzte ich ihm einen solchen Schlag, dass es ihn aus dem Ring fegte. Ich machte ihn fertig. Es war der beste Kampf meines Lebens.
Aber dann wurde ihm der Sieg zugesprochen, reiner Betrug. Ich war außer mir und fing an zu heulen. Noch nie zuvor hatte ich einen Kampf verloren. Im Umkleideraum trat der taubstumme Trainer auf mich zu. Ich heulte immer noch Rotz und Wasser.
„Du bist ja noch ein Baby“, sagte er. „Mein Mann hat schon viele Kämpfe hinter sich. Wir haben mit allen Mitteln gegen dich gekämpft, aber du bist besser als mein Boxer. Gib nicht auf. Eines Tages wirst du Champ werden.“
Das konnte mich auch nicht trösten. Ich heulte mir auf der Rückfahrt die Augen aus. Zu Hause musste ich unter die Dusche und dann in die Schule. Aber Teddy hatte wohl Cus angerufen, denn er wartete auf mich. Ich dachte, Cus sei enttäuscht von mir, aber er feixte übers ganze Gesicht.
„Wie ich höre, hast du toll gekämpft. Teddy meinte, der Kerl sei pfiffig und erfahren gewesen“, sagte Cus. „Du brauchst heute nicht zur Schule gehen, du hast heute frei.“
Aber ich wollte unbedingt in die Schule gehen. Mein Gegner hatte mir ein Veilchen verpasst, und ich wollte es zur Schau stellen, denn es bewies ja meinen Mut.
Ich ließ mich von dieser Niederlage nicht entmutigen, trat weiterhin bei Smokers an und schlug jeden meiner Kontrahenten k.o. Cus kam immer häufiger zu den Kämpfen. Er mochte es, wenn ich mich arrogant und herrisch gab. Cus war selbst sehr arrogant. Einmal trat ich gegen einen 24-Jährigen an, der seit dem 16. Lebensjahr lokaler Meister war. Niemand hatte ihn je besiegt.
Vor dem Kampf suchte uns ein örtlicher Boxfunktionär auf.
„Cus, der Mann, gegen den ihr kämpft, ist ein Riese, er ist stark und furchteinflößend“, sagte er.
Cus zuckte mit keiner Wimper.
„Mein Junge hat die Aufgabe, Riesen, starke und furchteinflößende Männer in ihre Schranken zu weisen.“
Als ich das hörte, tat mein Herz einen Sprung. Ich würde mich in einen Vulkan verwandeln. Ich war so aufgekratzt, dass ich am liebsten gegen die Jungs außerhalb des Rings gekämpft hätte.
Drei Tage vor einem Kampf verzichtete ich aufs Baden. Mich beherrschte nur noch der Gedanke, wie ich meinen Gegner schlagen könnte. Ich hatte keine Ahnung, wer sich hinter meinen Gegnern in den Smokers verbarg. Es gab keine Videos, keine Fernsehauftritte. So stellte ich mir immer vor, dass die Männer, gegen die ich antrat, diejenigen waren, die mich schikaniert hatten, als ich noch klein war. Es war eine Zeit der Vergeltung. Nie wieder würde jemand auf mir herumhacken.
Wenn ich bei einem Kampf den geringsten Hauch von Menschlichkeit zeigte, war Cus wütend auf mich. Wenn ich einem Boxer, der mir nach dem Kampf mit einer sportlichen Geste der Fairness die Hand reichen wollte, entgegenkam und sie schüttelte, rastete Cus aus.
Die einzige Mitleidsgeste, die er nicht kritisierte, war, wenn ich meinem Gegner auf die Beine half, nachdem ich ihn k.o. geschlagen hatte. Dempsey hatte dies immer getan. Er hob seinen besiegten Gegner hoch, schleppte ihn in die Ecke, hielt ihn fest und küsste ihn. Und das direkt, nachdem er versucht hatte, ihn zu vernichten. Also hob ich meinen Kontrahenten auch hoch und gab ihm einen Kuss. „Bist du okay? Ich liebe dich, Bruder.“ Es war demütigend für den anderen.
Cus mochte es nicht, wenn ich meine Knockouts feierte. Kein Abklatschen, keine Tanzschritte.
„Du bist jetzt schon zwei Jahre in diesem Geschäft und verhältst dich so, als seist du überrascht, dass dies passiert?“, bemerkte er.
Für Cus waren meine Gegner Futter. Nahrung. Etwas, das man verschlingen musste, um leben zu können. Wenn ich mich bei einem Kampf gut schlug, belohnte mich Cus. Hübsche Klamotten, Schuhe. Als ich eine meiner Junior-Championships gewonnen hatte, spendierte er mir Goldzähne. Als ich in den Achtzigern meine Goldmedaille gewann, dachten die meisten: „Wow, die Nigger haben jetzt schon Goldzähne.“ Aber Cus mochte es, weil die Boxer vergangener Zeiten alle Goldzähne hatten, als Zeichen ihres Erfolgs.
Man könnte vielleicht annehmen, dass Cus aufgrund all meiner Siege sowie des Junior Championship-Titels wenig Grund zur Kritik gehabt hätte. Aber da würde man ihn schlecht kennen. Vor anderen behandelte er mich immer wie eine Primadonna, aber hinter verschlossenen Türen sah es anders aus. Wenn ich allein mit ihm war, machte er mich nieder.
„Du weißt, deine Faust war zu tief. Bei allem gebührenden Respekt: Wäre dieser Gentleman etwas professioneller gewesen, etwas ruhiger, hätte er dich mit einem Schlag treffen können.“
Und das, nachdem ich den Kerl besiegt hatte. Alle gratulierten mir, weil ich ihn mit einem rechten Haken k.o. geschlagen hatte. Cus sagte nicht, dass mein Gegner mich hätte k.o. schlagen können. Er sagte, er hätte mich treffen können! Mit der Vorstellung, dass mich ein Schlag hätte treffen können, setzte er mir einen Floh ins Ohr, sodass ich den ganzen Tag darüber nachgrübelte. Nach ein paar Tagen kam er erneut auf diesen Bullshit zurück.
„Erinnerst du dich, dass ich dir nach dem Kampf sagte, der Kerl hätte dich …“
Aaaagggh.
Cus war ein Meister der Manipulation, der psychologischen Kriegsführung. Cus glaubte, dass es beim Boxen zu 90 Prozent auf die Psychologie ankäme und nicht auf die Fitness. Der Wille war maßgebend. Als ich 15 war, brachte er mich zu einem Hypnotherapeuten namens John Halpin, der eine Praxis am Central Park im Westen der Stadt hatte. Ich musste mich dort auf den Boden legen, und er gab mir Anweisungen, wie ich bei der Entspannung vorgehen sollte: „Kopf, Augen, Arme, Beine, alles wird schwer“, sagte er. Als ich unter Hypnose stand, sagte er mir genau das, was Cus wollte. Cus schrieb alles auf ein Stück Papier und John las es laut vor.
„Du bist der größte Boxer der Welt. Ich sage dir das nicht, weil ich versuche, dir etwas vorzugaukeln, was du nicht bist. Ich sage dir das, weil du es tatsächlich schaffen kannst, denn dafür bist du geboren.“
Halpin zeigte uns eine Methode, bei der wir uns jederzeit selbst in Hypnose versetzen konnten. Als wir wieder in Catskill waren, legte ich mich in meinem Zimmer auf den Boden, und Cus setzte sich neben mich. Ich fing an, mich zu entspannen und mich in Hypnose zu versetzen, und Cus redete. Manchmal sagte er dabei nur allgemeine Dinge, zum Beispiel, dass ich der beste Boxer der Welt sei und so; aber manchmal sagte er auch ganz spezielle Dinge.
„Deine Führhand ist wie eine Waffe. Deine Schläge sind wild, voll böser Absichten. Du hast eine großartige Rechte, hast nicht wirklich daran geglaubt, aber jetzt glaubst du daran. Du bist eine von Gott gesandte Geißel. Die Welt wird deinen Namen für alle Zeit kennen.“
Es war wirklich ein scheiß Gelaber, aber ich glaubte daran.
Manchmal weckte Cus mich mitten in der Nacht und leierte mir seine Suggestionen vor. Manchmal brauchte er nicht einmal zu sprechen, ich empfing den ganzen Bullshit durch Telepathie.
Die Hypnose war lediglich ein weiteres Hilfsmittel, mein Selbstvertrauen zu stärken. Die Hypnose wurde mir sehr wichtig, ich sah darin eine Geheimmethode, die mir helfen würde. Manch einer hielt das für verrückt, aber ich glaubte an alles, was Cus mir erzählte. Ich nahm seine Religion an. Cus war mein Gott. Und jetzt redete mir dieser alte weiße Mann ein, ich sei der Beste. Warum sollte ich der beste Boxer aller Zeiten werden?
Jetzt, da ich ein Gladiator war und ein Gott unter den Sterblichen, wirkte es etwas erniedrigend, dass ich auf die Highschool gehen musste. Dann, im Herbst 1981, bekam ich an der Catskill High Schwierigkeiten. Einer meiner Lehrer, ein unglaublich ignoranter Prolet, brach mit mir einen Streit vom Zaun und warf dann ein Buch nach mir. Ich stand auf und verprügelte ihn vor der ganzen Klasse. Daraufhin wurde ich von der Schule verwiesen. Cus packte mich, und wir gingen gemeinsam in die Schule und stellten den Lehrer in Anwesenheit des Rektors Mr. Stickler zur Rede. Cus erinnerte mit seiner flammenden Verteidigungsrede an den Bürgerrechtler Clarence Darrow.
„Sie behaupten also, Sie hätten das Buch einfach fallen lassen und es habe Mike zufällig getroffen“, nahm Cus den Lehrer in die Mangel. „Aber wenn Sie, wie Sie behaupten, einfach das Buch fallen ließen, wie konnte es dann durch die Luft fliegen und Mike treffen? Es wäre einfach zu Boden gefallen und hätte niemanden verletzt.“
Cus ging auf und ab, blieb des Öfteren kurz stehen und deutete theatralisch auf meinen Lehrer, als wäre er der Schuldige.
Man einigte sich auf einen Kompromiss: Ich musste so lange nicht mehr zur Schule gehen, solange ich von einem Privatlehrer unterrichtet wurde. Cus traf es schwer, dass ich von der Schule abgehen musste. Er hatte nämlich bereits eine große Abschlussparty für mich geplant. Auf dem Heimweg von der Highschool warf ich Cus einen Blick zu. „Nun denn, ich geh jetzt in die Sporthalle.“
Er erwiderte meinen Blick und sagte lediglich: „Viel Spaß!“
Es näherte sich der Juni des Jahres 1982, und es wurde Zeit für mich, meinen Titel bei der Junior Olympiade zu verteidigen. Inzwischen war mir mein Ruf bestimmt vorausgeeilt. Die Eltern meldeten ihre Kinder vom Wettkampf ab, aus Angst, dass diese gegen mich kämpfen müssten. John Condon, einer der Veranstalter des Golden Gloves-Amateurboxturniers, hatte mich nicht antreten lassen. „Ich habe dich kämpfen sehen. Du bist zu aggressiv, ich kann dich nicht gegen diese Kids kämpfen lassen. Du würdest sie niedermachen.“
Meine zweite Junior Olympiade fing gut an. Wir befanden uns wieder in Colorado, und bei meinen Vorrundenkämpfen hatte ich alle meine Gegner k.o. geschlagen. Es stand die Endrunde an, in der ich meinen Titel verteidigen wollte. Doch dann kam der Druck. Ich sah all die Kameras, und meine Unsicherheiten holten mich wieder ein. All diese Box-Offiziellen fanden große Worte für mich. Ich dachte, das sei wunderbar, aber es würde alles bald vorbei sein, denn ich war schmutzig, dreckig. Trotzdem wollte ich mich zu Brownsville bekennen. Cus hatte mir x-mal vorgeleiert, dass „die Leute in Brownsville meiner Mutter die Einkaufstaschen nach Hause tragen würden“, wenn ich auf ihn hörte.
Ich konnte mit diesem riesigen Druck nicht umgehen. Vor der Endrunde nahm mich Cus zur Seite.
„Mike, das ist die Wirklichkeit. Siehst du all die Menschen?“, und er deutete auf die Ringrichter, Reporter und Boxfunktionäre in der Halle. „Wenn du verlierst, mag man dich nicht mehr. Wenn du nicht sensationell bist, mag man dich auch nicht mehr. Ich war bei allen beliebt. Als ich 50 war, waren alle jungen, schönen Frauen hinter mir her. Jetzt bin ich ein alter Mann, und niemand ist mehr hinter mir her.“
Zehn Minuten vor meinem Kampf brauchte ich nochmal frische Luft. Teddy begleitete mich.
„Mike, entspann dich“, sagte er.
Ich schaffte es nicht und bekam einen hysterischen Weinkrampf. Teddy legte den Arm um mich.
„Es ist doch nur ein Boxkampf unter vielen. In der Sporthalle hast du doch schon bessere Jungs besiegt“, versuchte er, mich zu trösten.
„Ich bin Mike Tyson …“, schluchzte ich, „ … alle mögen mich.“
Ich brachte keinen zusammenhängenden Satz heraus. Ich wollte eigentlich sagen, dass mich niemand mehr mögen würde, wenn ich verlöre. Teddy tröstete mich und riet mir, ich solle mich nicht von meinen Gefühlen beherrschen lassen.
Als ich in den Ring trat, wartete mein Gegner schon auf mich. Es war ein 1,90 Meter großer Weißer namens Kelton Brown. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. Wir traten in die Mitte des Rings, um die Belehrung zu hören. Ich starrte ihn derart bösartig an, dass der Ringrichter mich zurückstieß und mir eine Warnung erteilte, noch bevor der Kampf begann. Der Gong ertönte, und ich griff ihn sofort an. Innerhalb einer Minute verpasste ich ihm einen solch meisterhaften Schlag, dass er das Handtuch warf. Ich hatte jetzt zum zweiten Mal den Titel bei der Junior Olympiade gewonnen.
Nach meinem Sieg interviewte mich der Fernsehreporter direkt im Ring.
„Mike, Sie sind sicherlich mit der bisherigen Entwicklung Ihrer Karriere sehr zufrieden?“
„Nun, ja, das bin ich. Ich kämpfe hier gegen Kids und bin genauso alt, aber mehr auf Draht als sie. Ich bin disziplinierter. Ich habe gelernt, mental mit meinen Problemen umzugehen und nicht körperlich. Das ist ein Vorteil, den ich ihnen gegenüber habe.“
„Was für ein Gefühl hatten Sie, nachdem Sie Brown besiegt hatten?“
„Ich stieg in den Ring, um meinen Job zu erledigen. Ich kann nichts Negatives über meinen Gegner sagen. Er hat seine Sache gut gemacht. Er war nur leicht überfordert. Aber ihm gebührt Lob wegen seiner Anstrengungen“, sagte ich.
Als ich nach Osten zurückfuhr, war mein Ziel Brownsville. Alle dort hatten im Fernsehen gesehen, wie ich Kelton Brown k.o. geschlagen hatte. Viele der Jungs, die mich einst schikaniert hatten, sprachen mich auf der Straße an.
„Hi, Mike, brauchst du was? Lass es mich wissen, wenn ich etwas für dich tun kann“, erklärten sie mir.
Einst hatten sie mich mit Fußtritten traktiert, jetzt krochen sie mir in den Arsch.
Aber am meisten interessierte mich die Meinung meiner Mom. Ich wollte meine Begeisterung mit ihr teilen.
„He, Mom, ich bin der größte Boxer der Welt. Es gibt weit und breit keinen Mann, der mich besiegen könnte“, sagte ich.
Meine Mutter wohnte in einem feuchten, baufälligen, heruntergekommenen Mietshaus und starrte mich nur verständnislos an, als ich von mir sprach, als sei ich Gott.
„Erinnerst du dich an Joe Louis? Es gibt immer noch einen Besseren, mein Sohn“, sagte sie.
Ich starrte meine Mom verständnislos an.
„Das wird mir nie passieren“, erwiderte ich eiskalt. „Ich bin besser als jeder andere.“
Ich meinte es todernst, weil Cus mich einer Gehirnwäsche unterzogen hatte. Meine Mutter hatte mich noch nie so erlebt. Ich war immer mies und hinterhältig gewesen. Jetzt besaß ich Würde und Stolz. Früher roch ich nach Gras und Alkohol. Nun war mein Körper muskulös, und ich war bereit, die Welt zu erobern.
„Ma, auf der ganzen Welt gibt es keinen Mann, der mich besiegen kann. Du wirst sehen, dein Junge wird Weltmeister werden“, prahlte ich.
„Mein Sohn, du musst erst mal Demut lernen. Du bist nicht demütig.“ Sie schüttelte den Kopf.
Ich zog die Zeitungsausschnitte aus meiner Tasche, auf denen zu sehen war, wie man mir die Goldmedaillen überreichte, und gab sie ihr.
„Da, Mom, lies, was sie über mich schreiben.“
„Ich werde es später lesen“, wehrte sie ab.
Den Rest des Abends sagte sie kein Wort mehr und murmelte lediglich „hm, hm“. Sie sah mich besorgt an, als wollte sie sagen: „Was haben diese Weißen mit dir angestellt?“
Dann kehrte ich nach Catskill zurück und kam mir vor wie auf dem Gipfel der Welt. Dort wurde ich behandelt wie ein verwöhntes Kind der oberen Mittelschicht. Ein paar Monate später berichtete mir Cus, dass meine Mutter krank sei. Ich erfuhr keine Details, aber meine Sozialarbeiterin hatte herausgefunden, dass bei meiner Mutter Krebs im Endstadium diagnostiziert worden war. Am selben Tag, als Cus mich informierte, rief mich auch meine Schwester an.
„Besuch Mommy“, sagte sie, „es geht ihr gar nicht gut.“
Ich hatte meine Mutter ein paar Wochen vor dem Anruf meiner Schwester gesehen. Sie hatte wohl einen leichten Schlaganfall erlitten und ein Augenlid hing schlaff herunter, aber ich wusste nicht, dass sie Krebs hatte. Ich war 16, und Krebs war mir lediglich als Tierkreiszeichen bekannt. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, kam aber nicht auf die Idee, dass es etwas mit dem Tod zu tun haben könnte.
Aber als ich sie in der Klinik besuchte, bekam ich einen Schock. Meine Mutter lag wimmernd im Bett, hatte Krämpfe und war nicht mehr ganz bei sich. Sie bot einen jämmerlichen Anblick. Ihre Augen waren eingefallen, ihre Kopfhaut gespannt, und sie war sehr abgemagert. Ihre Bettdecke war heruntergerutscht und eine ihrer Brüste war unbedeckt. Ich küsste sie und deckte sie wieder zu. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, denn ich hatte noch nie einen Krebskranken erlebt. Aber ich hatte viele Filme gesehen, also erwartete ich so was zu hören wie: „Nun, ich liebe dich, aber ich muss jetzt gehen, Johnny.“ Ich hoffte, ich hätte die Chance, mit ihr zu reden und mich von ihr zu verabschieden. Aber sie war bewusstlos. Also zog ich mich zurück und besuchte sie nie wieder.
Als ich an jenem Abend nach Hause kam, berichtete ich meiner Schwester, ich hätte Mommy gesehen und sie sehe gut aus. Ich wollte mich einfach nicht mit dem auseinandersetzen, was ich im Krankenhaus gesehen hatte, es war zu schmerzlich. Also machte ich bei einem Raubzug mit. Ich traf Barkim und ein paar andere Ganoven, die ich noch von früher kannte, und wir machten ein paar Brüche.
Eines Nachts, bevor wir zu unserem Raubzug aufbrachen, zeigte ich Barkim ein Fotoalbum, das ich aus Catskill mitgebracht hatte, mit Fotos von Cus, Camille und mir mit den weißen Kids in der Schule.
Barkim konnte nicht genug von diesen Fotos bekommen.
„Mike, das verschlägt mir die Sprache. Piesacken sie dich dort, rufen sie dich Nigga?“
„Nein, sie sind wie meine Familie. Cus würde dich umbringen, wenn du so über mich reden würdest“, erklärte ich ihm.
Barkim schüttelte den Kopf.
„Mike, was tust du denn hier?“, wollte er wissen. „Geh wieder zu deinen Weißen. Verdammt, Mann, sie lieben dich. Kannst du das denn nicht sehen, Nigga? Mann, ich wünschte mir, ich würde ein paar Weiße kennen, die mich so lieben. Kehr zurück. Hier ist kein Platz für dich.“
Ich dachte über seine Worte nach. Jetzt war ich zum zweiten Mal Champion geworden, und ich brach immer noch in Häuser ein, weil man immer wieder zu seinen Wurzeln zurückkehrt. Jeden Abend betrank ich mich, rauchte Crystal, schnupfte Kokain und ging auf wilde Partys. Ich tat alles, um nicht an meine Mutter denken zu müssen.
Meine Schwester redete ständig auf mich ein: „Du bist wegen Mom hergekommen. Lass dich nicht ablenken, du bist nicht zum Vergnügen hier.“
Eines Abends holte Barkim seine Freundin ab, und wir schlenderten zu dritt durch Brownsville. Dabei trafen wir ein paar meiner alten Freunde, die Würfel spielten. Barkim war ebenfalls mit ihnen befreundet, aber er blieb nicht stehen, um mit ihnen zu reden, sondern ging einfach weiter. Aber ich begrüßte meine Freunde, und sie sagten: „Mike, wie geht’s?“, wirkten aber argwöhnisch. „Wir reden später mit dir“, meinten sie.
Ich hatte ein ungutes Gefühl und spürte, dass hier etwas wirklich Übles gespielt wurde, es roch nach Tod oder sonstigem Bullshit.
Später fand ich heraus, dass hier Machtkämpfe im Gange waren, und als ich wieder einen kühlen Kopf hatte, erkannte ich, dass sich alles um Barkim drehte. Er besaß all die Autos, Mädchen, Schmuck und die Waffen, weil er hier das Drogengeschäft beherrschte. Seit ich zu Cus gezogen war, hatte sich die ganze Straßenszene verändert. Drogen waren jetzt im Spiel, Menschen starben, und die Jungs, die ich noch von früher gekannt hatte, waren jetzt die großen Bosse. Jungs, mit denen wir früher rumgehangen hatten, brachten sich jetzt wegen Drogen und Geld gegenseitig um.
Eines Tages kam meine Schwester heim. Als ich sie an der Tür hörte, öffnete ich. Sobald die Tür aufging, versetzte sie mir einen Fausthieb mitten ins Gesicht.
„Warum hast du das getan?“
„Warum hast du mir denn nicht gesagt, dass Mommy gestorben ist“, schluchzte sie.
Ich wagte nicht zu sagen, dass ich nicht mehr in der Klinik war, denn sie hätte mich umgebracht. Es war zu schmerzhaft, weil Mom nur noch ein Schatten ihrer selbst gewesen war. Also sagte ich: „Nun, ich wollte dir nicht weh tun.“ Ich war zu schwach, um das zu verkraften. Meine Schwester war die Stärkste in der Familie. Sie konnte gut mit Tragödien umgehen. Ich schaffte es nicht einmal, mich von Moms Leichnam zu verabschieden. Mein Cousin Eric begleitete meine Schwester.
Die Beerdigung meiner Mom war erbärmlich. Sie hatte etwas Geld gespart für ein Grab in Linden, New Jersey. Nur acht Personen nahmen an der Beerdigung teil – ich, mein Bruder und meine Schwester, mein Vater Jimmy, ihr Freund Eddie und drei Freundinnen meiner Mutter. Ich trug einen Anzug, den ich von gestohlenem Geld gekauft hatte. Wir konnten uns lediglich einen schmalen Pappkartonsarg leisten, für einen Grabstein hatten wir kein Geld. Vor ihrem Grab sagte ich: „Mom, ich verspreche dir, ein guter Mensch zu werden. Ich bin auf dem Weg, der beste Boxer aller Zeiten zu werden, und alle Welt wird meinen Namen kennen. Wenn man Tyson hört, dann denkt man nicht an Tyson Foods oder an die Schauspielerin Cicely Tyson, sondern an Mike Tyson.“ Das hatte mir Cus über unseren Familiennamen erzählt. Bis dahin hatten wir mit Ruhm nur insofern zu tun, dass wir denselben Nachnamen hatten wie Cicely. Meine Mutter mochte Cicely Tyson.
Nach der Beerdigung blieb ich ein paar Wochen in Brownsville und pumpte mich mit Drogen voll. Eines Abends sah ich meine Freunde wieder, mit denen ich ein paar Abende zuvor gewürfelt hatte. Sie verhielten sich recht eigenartig und erzählten mir, dass Barkim umgebracht worden war.
„Nun, man hat ihn erwischt“, erzählte mir einer von ihnen. „Ich dachte, man hätte dich ebenfalls erwischt, denn als ich dich das letzte Mal gesehen hatte, warst du mit ihm unterwegs, und seitdem habe ich dich nicht mehr gesehen.“
Barkims Tod ging mir unter die Haut. Er hatte mich als seinen Sohn ausgegeben und in die Welt der Raubzüge eingeführt. Aber er hatte mich auch beschworen, diese Welt hinter mir zu lassen und zu meiner weißen Familie zurückzukehren. Und nicht nur er sagte das. Alle meine Freunde hier setzten große Hoffnungen auf Cus und mich. Cus eröffnete mir Chancen.
„Mike, halte dich an den weißen Mann. Wir sind nichts, komm nicht mehr zurück. Ich will keinen Bullshit-Nigga hören. Du bist die einzige Hoffnung, die wir haben. Wir werden nirgendwohin gehen, Mike, sondern hier in Brownsville abkratzen. Bevor das passiert, müssen wir aller Welt verkünden, dass wir mit dir zusammen waren und du unser Nigga warst.“
Wohin ich auch ging, immer hörte ich Ähnliches. Man nahm das sehr ernst. Für meine Freunde war Brownsville die pure Hölle. Alle wünschten sich, abhauen zu können wie ich. Sie konnten nicht verstehen, warum ich zurückkommen wollte, aber ich kam zurück, um herauszufinden, wer ich wirklich war. Meine beiden Leben waren total unterschiedlich, aber ich fühlte mich aus verschiedenen Gründen in beiden Welten zu Hause.
Eines Tages klopfte es an der Tür. Es war Mrs. Coleman, meine Sozialarbeiterin. Sie war gekommen, damit ich meinen schwarzen Arsch wieder nach Catskill bewegte und nicht mehr Leute ausraubte und in Wohnungen einbrach. Mrs. Coleman war eine wirklich nette Dame, die zwei Stunden lang gefahren war, um von Catskill zu mir zu gelangen. Sie stand ganz auf Cus’ Seite und war der Ansicht, dass das Boxen mich auf den rechten Weg brächte. Doch ich erklärte ihr, dass ich nicht dorthin zurückkehren würde. Sie erwiderte, dass sie Papierkram für mich erledigen müsse und die Polizei mich in Gewahrsam nehmen und irgendwo in New York unterbringen würde, wenn ich in Brooklyn bleiben wolle. Damals war ich 16, also wusste ich, dass das Bullshit war. Vom Gesetz her brauchte ich niemanden mehr. Aber ich ging mit ihr zurück nach Catskill. Ich blickte mich ein letztes Mal in der Wohnung um, sah, dass meine Mutter in Armut und Chaos gelebt hatte und jämmerlich gestorben war, und das veränderte meinen Blick darauf, wie ich mein Leben verbringen wollte, grundlegend. Auch wenn mein Leben kurz sein würde, so sollte es doch wenigstens ruhmreich sein.
Als ich wieder in Catskill war, half mir Cus dabei, über den Tod meiner Mutter hinwegzukommen. Er erzählte mir von dem Todestag seines Vaters. Cus war mit ihm zu Hause gewesen, und sein Vater hatte vor Schmerzen geschrien, aber Cus konnte ihm nicht helfen, weil er nicht wusste, was er tun sollte. Cus half mir, meine Stärke zurückzugewinnen.
Damals gab es einen südafrikanischen Boxer, Charlie Weir, der einer der heißesten Anwärter auf den Titel im Junior-Mittelgewicht war. Er und sein Team kamen nach Catskill, um mit Cus zu trainieren. Damals herrschte in Südafrika noch Apartheid, und Cus erzählte ihnen: „Wir haben einen schwarzen Jungen hier, er gehört zur Familie. Behandelt ihn respektvoll, so wie ihr mich und Camille behandelt.“
Das war ehrfurchtgebietend. Noch nie hatte sich jemand so für mich eingesetzt. Charlie und sein Team mussten dafür bezahlen, von Cus trainiert zu werden, und wenn jemand dafür bezahlt, steht er normalerweise im Mittelpunkt. Aber Cus trieb ihnen das schnell aus und sprach auch zu Hause darüber.
„Hör zu, wir sind jetzt deine Familie, okay?“, sagte er zu mir. „Und du bist unser Junge. Und du wirst diese Familie mit großem Stolz erfüllen. Mit Stolz und Ruhm.“
Wenn wir drei im Esszimmer am Tisch saßen, sagte Cus: „Camille, sieh dir deinen schwarzen Sohn an. Was hältst du von ihm?“
Camille stand dann auf, ging um den Tisch herum und küsste mich.
Aber einen Monat später zerbrach unsere Idylle. Ich war außer mir. Cus hatte Ärger mit meinem Trainer Teddy Atlas. Sie stritten sich über Geld. Teddy hatte vor Kurzem in eine Familie eingeheiratet, die Cus sehr zweifelhaft fand. Teddy brauchte also Geld, und Cus gab ihm nicht viel. Teddy wollte, dass ich ins Profilager überwechsle, sodass er einen Anteil an meinen Einnahmen bekäme, aber zu der Zeit passte dies noch nicht in Cus’ Pläne. Also wurde gemunkelt, dass Teddy Cus verlassen und versuchen werde, mich mitzunehmen.
Cus zu verlassen, war undenkbar. Aber ich tat dann etwas, womit Cus Teddy loswerden konnte. Ich kannte Teddys Schwägerinnen schon vor ihm. Wir waren alle zusammen zur Schule gegangen und miteinander befreundet. Die Mädchen flirteten gerne mit mir, aber ich hatte keinen Sex mit ihnen. Eines Tages war ich mit seiner zwölfjährigen Schwägerin unterwegs und fasste ihr an den Arsch. Ich führte nichts Böses im Schild. Ich war 16, trieb meine Spielchen und kniff sie einfach in den Arsch, was ich natürlich nicht hätte tun sollen.
Das war einfach blöd, und ich dachte mir nichts dabei. Ich hatte keine Ahnung, wie man Mädchen behandelte, weil Cus mich die ganze Zeit im Gym auf Trab hielt. Sobald ich die Gelegenheit dazu hatte, entschuldigte ich mich bei ihr. Sie antwortete nicht darauf, aber sie hatte sich wohl sehr unbehaglich gefühlt. Abends fuhr mich dann mein Sparringspartner zur Sporthalle, um dort mit Teddy zu trainieren. Als ich ausstieg, erwartete Teddy mich bereits und sah verärgert aus.
„Mike, komm her, ich muss mit dir reden“, sagte er.
Ich ging zu ihm. Er zog eine Waffe heraus und zielte damit auf meinen Kopf.
„Du Dreckskerl, wenn du noch einmal meine Schwägerin anfasst, dann …“
Er gab einen Warnschuss in die Luft ab und schoss dann knapp an meinem Ohr vorbei. Ich dachte, er hätte mir mein Ohr abgeschossen, aber dann rannte er weg. Und ich hinterher, weil sich das Gym direkt über einer Polizeiwache befand.
Wenn Teddy heute über diesen Vorfall spricht, erweckt er stets den Eindruck, dass ich mich zu Tode erschreckt hätte. Es war aber nicht das erste Mal gewesen, dass mir jemand eine Waffe an den Kopf hielt. Nicht, dass ich ihn aufgefordert hätte: „Komm schon, schieß auf mich, du Dreckskerl.“ Ich war vielmehr nervös, und es dauerte eine Weile, bis ich wieder richtig hören konnte. Aber das war ein beschissenes Gefühl. Teddy bedeutete mir sehr viel. Ich war aber auch angepisst und hätte gerne einigen Leuten verklickert, dass ich ihn mir vorknöpfen würde. Aber ich hätte nie etwas unternommen, um Teddy zu schaden. Er hat mir beigebracht, wie man boxt, und war von Anfang an dabei.
Camille war wütend auf Teddy. Sie wollte Cus bewegen, eine Anklage gegen ihn zu erwirken, damit er festgenommen würde, aber Cus brachte es nicht fertig. Er wusste, dass Teddy wegen einer anderen Sache Bewährung hatte und direkt ins Kittchen wandern würde. So zog Teddy schließlich mit seiner Familie zurück in die Stadt.
All das war meine Schuld. Es tat mir so leid, dass dies alles so übel gelaufen war.
Nachdem Teddy uns verlassen hatte, fing ich an, mit Kevin Rooney zu trainieren, einem Boxer, den Cus zum Trainer gemacht hatte. Rooney und Teddy waren von Kindesbeinen an befreundet, und Teddy hatte ihn Cus vorgestellt. Man kann sich also gut vorstellen, wie emotional diese ganze Geschichte war.
Ich war hocherfreut, wie sich alles entwickelte, als ich mit Rooney trainierte. Gewöhnlich werden Boxer, wenn sie Kämpfe gewonnen haben, wählerisch in Bezug auf ihre Gegner. Ich nicht. Mir war alles recht, ich trat gegen jeden Boxer an, ob in dessen Heimatstadt oder in seinem Hinterhof. „Du könntest auch in ihren Wohnzimmern gegen sie antreten, mit ihren Familien als Ringrichtern“, sagte Cus immer. Ich wollte einfach boxen und hatte vor niemandem Angst. Ich war bereit, in Chicago, Rhode Island, Boston oder sonst wo zu kämpfen. Und man würde sagen: „Das ist Tyson, der hat zweimal die Junior Olympiade gewonnen.“
Im Dezember 1982 erlitt ich meine erste Niederlage bei einem Wettkampf. Ich trat bei der US-Amateur-Meisterschaft in Indianapolis an, und mein Gegner war Al Evans. Ich war 16 und er 27, ein harter Puncher und sehr erfahren.
In der ersten Runde griff ich ihn an und versetzte ihm jede Menge Schläge. Das Gleiche tat ich in der zweiten Runde. Ich beutelte ihn mit meinen Schlägen durch. In der dritten Runde führte ich mich recht wild auf, und er konterte mit einem linken Haken und zwang mich in die Knie. Ich stand aber sogleich wieder auf und setzte ihm erneut zu. Dieses Mal zwang er mich mit einer Rechten in die Knie. Ich berappelte mich und fing sofort wieder an, ihn zu attackieren. Dabei rutschte ich aus. Und das war’s; der Ringrichter brach den Kampf ab. Ich war nicht wirklich verletzt und hätte weitermachen können. Cus brüllte den Ringrichter aus der Ecke an.
Ich war am Boden zerstört, denn ich wollte jeden Kampf gewinnen. Es gefiel mir, wie der Champ nach dem Sieg behandelt wurde. Ich wollte das auch haben und war süchtig danach.
Cus hatte wohl vermutet, die Niederlage nage an meinem Selbstbewusstsein, denn auf der Heimfahrt nach Catskill hielt er mir einen kleinen Vortrag.
„Schau dir die Champs an, die dir in all den Büchern begegnet sind. Einige von ihnen erlitten irgendwann am Anfang ihrer Karriere Niederlagen durch Knockouts. Aber sie gaben nie auf und hielten durch. Deshalb kannst du all ihre Geschichten heute noch lesen. Jene, die verloren und aufgegeben haben, werden von ihren Dämonen bis ins Grab verfolgt, denn sie hatten die Chance, ihnen entgegenzutreten, und haben sie nicht genutzt. Mike, du musst deinen Dämonen entgegentreten, oder sie verfolgen dich für immer. Denk daran, dass du immer darauf achtest, wie du deine Kämpfe austrägst, denn genauso gestaltest du dein Leben.“
Die nächsten sechs Kämpfe gewann ich alle. Dann trat ich bei der National Golden Gloves-Meisterschaft gegen einen Kerl namens Craig Payne an. Ich scheuchte Payne drei Runden lang quer durch den Ring, und er leistete wenig Widerstand. Also war ich recht zuversichtlich, als ein Funktionär mit der großen Trophäe hinter mir in den Ring stieg, um den Sieger zu küren. Craig und ich standen links und rechts vom Ringrichter, der jeweils eine Hand von uns hielt und die Entscheidung abwartete. Ich wollte schon meine andere Hand jubelnd in die Höhe halten, als ich bemerkte, wie der Funktionär in Richtung Craig den Daumen hochhielt.
„Und der Gewinner im Superschwergewicht ist … Craig Paine!“
Ich war wie vom Donner gerührt. Die Zuschauer buhten. Schauen Sie sich auf YouTube den Kampf an. Ich war um den Sieg gebracht worden. Nach dem Kampf hatte auch Emanuel Stewart, der große Trainer aus Detroit, der Payne unter Vertrag hatte, definitiv angenommen, ich hätte gewonnen. Cus ärgerte sich über die Entscheidung, aber er war glücklich, dass ich mich auch bei einem solchen Wettkampf im Griff hatte. Er wusste, dass wir den moralischen Sieg davongetragen hatten. Aber das vermittelte mir nicht unbedingt ein besseres Gefühl. Noch lange nach dem Kampf weinte ich mir die Augen aus.
Ich hatte aber keine Zeit zu schmollen, sondern kehrte schnurstracks in die Sporthalle zurück und tobte mich bei anderen Wettkämpfen aus. Im August 1983 gewann ich die Goldmedaille beim U-19-CONCACAF-Turnier und wiederholte den Sieg 1984. Im selben Jahr bekam ich die Goldmedaille beim National Golden Gloves-Turnier, indem ich Jonathan Littles in der ersten Runde k.o. schlug. Ich hatte gegen Littles bereits 1982 bei den Ausscheidungskämpfen zur Olympiade der Junioren gekämpft, und er war der einzige Gegner gewesen, der gegen mich die zweite Runde erreicht hatte. Nun war es an der Zeit, mich auf die Ausscheidungskämpfe für die Olympischen Spiele vorzubereiten.
Während ich für die Olympiade trainierte, kam der Boxkommentator Alex Wallau nach Catskill, um ein Feature über Cus und mich zu drehen. Einmal mussten wir im Wohnzimmer Platz nehmen und über uns sprechen. Cus trug einen konservativen grauen Anzug und ein kariertes Sporthemd und ich eine lange Hose, ein Hemd und eine coole weiße Kangol-Mütze.
Alex wollte von Cus wissen, wie die Arbeit mit mir funktioniere, und Cus erging sich in einem interessanten Bewusstseinsgeplapper.
„Mein ganzes Leben lang dachte ich darüber nach, einen Boxer aufzubauen, der perfekt ist. So einen Menschen kann es tatsächlich geben. Ich erkannte die Qualität eines künftigen Weltmeisters in ihm, da er immer fähig war, ein Level weiterzukommen und seine Sparringspartner zu übertreffen. Ich brachte ihm Karate bei, damit sein Körper während des Kampfes einiges aushalten konnte. Er kann mit blitzartiger Geschwindigkeit einen Schlag landen, sodass der Gegner völlig überrumpelt wird. Er verfügt über eine unglaubliche Geschwindigkeit, Koordination und ein intuitives Zeitgefühl, was sich gewöhnlich erst nach zehn Jahren Boxsport einstellt.
Ich fange erst an, jemanden zu unterrichten, wenn ich weiß, dass er das alles aufnehmen kann. Ich unterhalte mich viel, um herauszufinden, mit was für einem Menschen ich es zu tun habe. Jeder von uns ist letztlich die Summe all seiner Erlebnisse. In Mikes Fall reden wir viel, und ich versuche, herauszufinden, wie viele Schichten schlimmer Erfahrungen ich durchdringen muss, bis ich zum Menschen selbst vorgedrungen bin. Dann lege ich das für mich und für ihn offen. So erzielt man viel schnellere Fortschritte.“
„Nachdem Sie bei Mike Tyson durch alle Schichten gedrungen sind, was haben Sie da vorgefunden?“, wollte Alex wissen.
Cus zögerte. „Ich fand das, was ich zu finden glaubte, einen Menschen mit grundlegend gutem Charakter, der die Dinge tun konnte, die getan werden müssen, um ein großer Boxer oder Weltmeister zu werden. Als ich dies erkannte, bestand meine nächste Aufgabe darin, ihn auf diese Qualitäten aufmerksam zu machen, denn wenn er sich ihrer nicht genauso bewusst ist wie ich, würde ihm das nicht viel helfen. Die Fähigkeit, die Disziplin anzuwenden, die Fähigkeit, das zu tun, was getan werden muss, ungeachtet dessen, wie es im Inneren aussieht, ist meiner Meinung nach das Wesen eines echten Profis. Ich denke, Mike nähert sich mit Windeseile diesem Status, diesem wichtigen Punkt, den er erreichen muss, um der größte Boxer der Welt zu werden. Und nach allem, was wir wissen, abgesehen von unvorhergesehenen Zwischenfällen, wird er, wenn dies ohne Unterbrechung so weitergeht und wir das Training und alles, was damit zusammenhängt, auf die Reihe bekommen, als einer der größten Boxer aller Zeiten in die Geschichte eingehen, wenn nicht gar als der größte, der je gelebt hat.“
Ich war so glücklich, dass Cus so über mich redete. Alex fragte Cus, ob es für einen Mann seines Alters schwer sei, mit so einem jungen Boxer zu arbeiten.
„Ich sage es oft zu ihm, und ich weiß, er versteht nicht, was ich sage, aber ich werde es ihm jetzt nochmal deutlich sagen: Wenn er nicht bei mir wäre, würde ich heute vermutlich nicht mehr leben. Die Tatsache, dass er hier ist und das tut, was er tut, und es so gut tut und sich immer mehr verbessert, verleiht mir die Motivation und das Interesse, am Leben zu bleiben, denn ich glaube, ein Mensch stirbt, wenn er keine Freude mehr am Leben hat. Die Natur ist klüger, als wir annehmen. Nach und nach verlieren wir unsere Freunde, die uns am Herzen liegen, und nach und nach verlieren wir auch unser Interesse, bis wir uns schließlich fragen: Was zum Teufel habe ich hier noch zu suchen? Es gibt keinen Grund, weiterzumachen. Aber Mike gibt mir den Grund. Er gibt mir die Motivation, und ich will am Leben bleiben und beobachten, wie er Erfolg hat, denn ich werde mich nicht von dieser Welt verabschieden, bevor das eintritt. Wenn ich nämlich abtrete, weiß er nicht nur, wie man einen Boxkampf austrägt, sondern hat zudem eine Ahnung von vielen Dingen und weiß auch, wie er auf sich selbst achten muss.“
Wow! Das war mal wieder typisch Cus, der erneut seinen verdammten Druck auf mich ausübte. Cus glaubte, ich könne mit dem Druck umgehen, aber er glaubte auch, dass ich selbst nicht glaubte, dass es mir gelingen könnte.
Dann fragte man mich über meine Zukunft und meine Träume aus.
„Am Anfang gab es nur Träume. Man hat diesen Traum, der motiviert. Ich möchte noch zehn Jahre leben. Es heißt, ich sei ein One-Million-Dollar-Boxer. Nun, ich weiß, was ich bin, und das zählt mehr als alles andere. Da die anderen nicht wissen, was ich hinter mir habe, glauben sie, ich sei so geboren worden. Sie haben keine Ahnung, wie hart mein Weg war.“
„Was haben Sie hinter sich?“, fragte Alex.
„Das Training. Das Boxen ist dabei der leichteste Teil. Wenn man in den Ring steigt, um zu kämpfen, ist das wie Urlaub. Aber wenn man in die Sporthalle geht, muss man x-mal irgendwelche Dinge wiederholen, bis alles weh tut. Tief in seinem Inneren sagt man sich: Ich will das nicht mehr tun. Doch dann verdränge ich diese Gedanken aus meinem Kopf. Im Moment geht es ja um die Amateurkämpfe, und es macht viel Spaß, die Trophäen und Medaillen vor sich zu sehen, aber ich bin wie Sie: Wenn ich ins Profilager wechsle, will ich Geld scheffeln. Ich mag die verrückten Frisuren und trage gern ausgefallene Klamotten, Gold, Schmuck und dergleichen. Um diesen Lebensstil halten zu können, muss ich auf anständige Weise Geld verdienen. Ich kann nicht mit einer Waffe in eine Bank marschieren. Man sollte auf jeden Fall das Geld mit etwas verdienen, das man gern tut.“
Ich war so verbittert, weil ich so hart arbeiten musste, wie ich es noch nie erlebt hatte. Und am nächsten Tag musste ich aufstehen, und alles fing wieder von vorn an.
Für die Olympiade schuftete ich wie ein Tier. Man wollte mich mit meinem derzeitigen Gewicht nicht antreten lassen, weil Cus mit den Boxfunktionären der Olympiade im Clinch lag. Ich sollte in der Dominikanischen Republik im US-Team kämpfen, doch Cus wollte es nicht zulassen, da wir Teddy nicht als unseren Trainer mitnehmen durften, sondern ich auf deren Trainer angewiesen sein würde. Außerdem wollte er nicht, dass ich dorthin reiste, weil er Angst hatte, dass mich irgendwelche Revolutionäre entführen könnten.
Man informierte Cus, dass ich in der Klasse unter 201 Pfund kämpfen sollte. Zu der Zeit betrug mein Gewicht etwa 215 Pfund, also musste ich schnell handeln. Ich quetschte mich wieder in die Saunaanzüge und trug sie den ganzen Tag. Mir gefiel das, ich fühlte mich wie ein richtiger Boxer und wollte Gewicht verlieren, um in die Gewichtsklasse zu passen. Ich war so paranoid, dass ich glaubte, ich bringe ein großes Opfer.
Als Vorbereitung auf die Ausscheidungskämpfe für die Olympiade musste ich mich an einen straffen Zeitplan halten. Am 12. August 1983 trat ich beim Ohio State Fair National Tournament an. Am ersten Tag schaffte ich es, meinen Gegner in nur 42 Sekunden k.o. zu schlagen. Am zweiten schlug ich meinem Kontrahenten zwei Zähne aus, und er blieb zehn Minuten lang bewusstlos liegen. Am dritten Tag trat der amtierende Meister vom Kampf zurück.
Am nächsten Tag fuhren wir nach Colorado Springs, zur US-Meisterschaft. Als ich dort ankam, schieden vier der sechs anderen Boxer aus dem Wettkampf aus. Ich errang beide Siege durch K.o in der ersten Runde.
Am 10. Juni 1984 erlebte ich einen Rückschlag. Mein Qualifikationskampf sollte gegen Henry Tillman erfolgen, einen älteren und erfahreneren Boxer. In der ersten Runde setzte ich ihm so hart zu, dass er fast durch die Seile geschleudert worden wäre. Doch er rappelte sich schnell wieder hoch, und ich setzte ihm weitere zwei Runden lang zu. Beim Amateurboxen wird Boxaggression nicht belohnt, und mein K.o. zählte genauso viel wie ein leichter Schlag. Ich konnte es nicht fassen, dass der Sieg an Tillman ging. Mal wieder sah es der Mob wie ich, und es ertönten Pfiffe und Buhrufe.
Ich hasste diese Amateurkämpfe. „Wir sind hier Boxer“, erklärten mir diese Trottel.
„Nun, ich bin ein Kämpfer, Sir. Meine Absicht ist es zu kämpfen“, erwiderte ich.
Der gesamte Amateur-Boxbetrieb hasste mich. Meine rotzfreche Brownsville-Attitüde passte den Funktionären gar nicht. Ich benahm mich anständig, aber diese New York-Scheiße schwappte immer wieder hoch. Mich mochten sie nicht, und Cus verachteten sie sogar. Cus war so überspannt, dass er sogar mich manchmal verwirrte, was ich ihn aber nicht wissen ließ. Ich war immer an seiner Seite und hörte, wie er mit den Funktionären umging, war aber völlig konsterniert ob seiner Art, mit ihnen zu reden. Er war sehr nachtragend und sann immer auf Rache. Ein Leben ohne Feinde wäre für ihn undenkbar gewesen, also schuf er sich welche. Ich dachte manchmal, warum zum Teufel kann ich es nicht mit einem Weißen zu tun haben, der nicht so sehr auf Konfrontation aus ist. Ich glaubte, dass ich mich von dem lauten Leben entfernt hatte, in dem jeder aus voller Lunge schrie. Aber Cus erinnerte mich stets daran, dass das nicht der Fall war.
Einen Monat später bekam ich bei den olympischen Vorausscheidungen die Chance, meine Niederlage gegen Tillman wettzumachen. Ich setzte ihn erneut drei Runden lang unter Druck, und dieses Mal wehrte er sich sogar noch weniger als beim ersten Kampf. Sogar Howard Cosell, der den Boxkampf für den Sender ABC moderierte und der der Meinung gewesen war, dass Tillman in unserem ersten Kampf nach Punkten gesiegt hatte, musste zugeben, dass ich dieses Mal eine viel größere Chance hatte, den Kampf zu gewinnen.
Ich war davon überzeugt, den Sieg eingeheimst zu haben. Aber als der Ringrichter Tillmans Arm hob, war ich wie vom Donner gerührt. Ich konnte einfach nicht glauben, dass man zweimal eine solche Bullshit-Entscheidung gefällt hatte. Die Zuschauer schrien und buhten die Kampfrichter aus. Cus war wütend. Er fluchte und fing an, auf einen der Funktionäre der US-Olympiade einzudreschen. Kevin Rooney und einige andere Funktionäre mussten ihn zurückhalten. Damals war ich so mit mir beschäftigt, dass ich annahm, dieser ganze Scheiß mit Cus passiere meinetwegen. Als ich älter wurde, begriff ich, dass dies Cus’ Geschichte war, eine Geschichte, die vor 30 Jahren begonnen hatte. Hier meldeten sich seine Dämonen, und die hatten wenig mit mir zu tun.
Es ging nur darum, dass Cus ausgenutzt und seines Ruhms beraubt worden war. Erst vor Kurzem erfuhr ich, dass Cus unseren Freund Mark, der für das FBI arbeitete, nach Albany ins Büro des Staatsanwalts geschickt hatte, um die Entscheidung für Tillman zu untersuchen.
Nach den beiden Niederlagen gegen Tillman rastete ich aus. Ich nahm die Trophäen für den Zweitplazierten und zerschmetterte sie. Cus schickte mich trotzdem zur Olympiade, damit ich mich unters Team mischte. In jenem Jahr fand sie in Los Angeles statt. Cus meinte, ich solle dort einfach die Erfahrung genießen. Er war wirklich einmalig und hatte mir für jeden Kampf zwei Tickets besorgt, aber ich hatte ja eine Dauerkarte, also bot ich die Tickets unter der Hand Interessenten an. Und die Olympiade brachte mir durchaus einen Gewinn, denn da war diese entzückende Praktikantin, die für das Olympische Komitee der USA arbeitete. Alle Boxer und Trainer waren hinter ihr her, aber ich war derjenige, den sie erhörte. Sie mochte mich. Nach all den Jahren der Entbehrung war es ein tolles Gefühl, endlich mal wieder Sex zu haben.
Aber nicht einmal der Sex konnte mich über meine Enttäuschung und meinen Schmerz, dass mir mein Olympischer Traum geraubt worden war, hinwegtrösten. Als die Olympischen Spiele zu Ende waren, flog ich zurück nach New York, fuhr aber nicht sofort nach Catskill. Ich hing in der Stadt herum und war wirklich am Boden zerstört. Irgendwann landete ich in der 42. Street und schaute mir einen Karatefilm an. Kurz vor Beginn rauchte ich einen Joint.
Ich wurde high und erinnerte mich an die Zeit, als Cus mich mit Marihuana erwischt hatte. Es war kurz, nachdem ich bei den Junior Olympic Championships meinen zweiten Sieg errungen hatte, gewesen. Einer der anderen Boxer war neidisch auf mich und verpfiff mich. Bevor ich überhaupt die Chance hatte, das Zeug zu verstecken, hatte Cus Ruth, die deutsche Reinmachefrau, in mein Zimmer geschickt, und sie hatte den Stoff gefunden.
Als ich nach Hause kam, war Cus wütend.
„Mike, das muss wirklich guter Stoff sein, denn um das Marihuana zu rauchen, hast du gerade 400 Jahre Sklaven- und Landarbeit verraten.“
An jenem Tag hat er meinen Geist gebrochen. Ich fühlte mich wie ein Onkel-Tom-Nigga. Und dabei hasste er derartige Menschen. Er verstand es wirklich, mich niederzubügeln.
Ich saß also im Kino, erinnerte mich daran und versank dabei immer tiefer in meine Depression. Dann fing ich an zu heulen. Als der Film zu Ende war, ging ich schnurstracks zum Bahnhof und fuhr zurück nach Catskill. Auf der Rückfahrt überlegte ich, dass ich mich sofort ins Training stürzen müsste, um ins Profilager zu wechseln. Wenn ich Profiboxer werden wollte, musste ich spektakulär wirken. Als wir uns Catskill näherten, führte ich Selbstgespräche:
„Die Welt hat noch nie so jemanden wie Tyson gesehen. Er wird alles übertreffen, er wird in das Pantheon der großen Boxer eingehen, neben John L. Sullivan, Joe Louis, Benny Leonard und Joe Gans und den anderen. Tyson ist umwerfend.“
Ich redete über mich in der dritten Person, obwohl ich ganz allein war.
Als ich aus dem Zug stieg, war ich völlig euphorisch. Ich nahm mir ein Taxi zu Cus’ Haus. Die Welt würde einen Boxer erleben, wie es ihn noch nie gegeben hatte. Ich war im Begriff, über mich selbst hinauszuwachsen. Bei allem Respekt und ohne arrogant sein zu wollen: Ich war mir dessen bewusst, künftig der prominenteste Boxer zu sein. Mich konnte nichts aufhalten, und ich würde eines Tages so sicher Champion werden, wie der Freitag auf den Donnerstag folgt. In den folgenden sechs Jahren verlor ich keinen einzigen Kampf.