Читать книгу Die Frau im Mond - Milena Agus - Страница 6
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Großmutter heiratete erst spät, im Juni 1943, kurz nachdem die Amerikaner Cagliari bombardiert hatten. Eine Frau, die damals mit dreißig Jahren noch nicht unter der Haube war, wurde praktisch als alte Jungfer angesehen. Nicht dass Großmutter hässlich gewesen wäre oder es ihr an Verehrern gemangelt hätte, keineswegs. Es war nur so, dass die Bewerber sie jeweils ab einem gewissen Punkt seltener besuchten, bis sie schließlich ganz ausblieben, ohne bei meinem Urgroßvater um ihre Hand angehalten zu haben.
»Liebes Fräulein, aufgrund von höherer Gewalt kann ich leider nächsten Mittwoch nicht zu Besuch kommen, was ich zutiefst bedaure, doch es ist mir unmöglich.«
Also erwartete Großmutter den Verehrer am übernächsten Mittwoch, doch stattdessen kam jedes Mal ein kleines Mädchen, um einen Brief zu überbringen, in dem der angekündigte Besuch abermals verschoben wurde, bis schließlich auch die Briefe ausblieben.
Mein Urgroßvater und seine Schwestern hatten Großmutter sehr gern, auch wenn sie ihnen schon etwas altjüngferlich erschien. Meine Urgroßmutter hingegen behandelte sie so hart und streng, als wäre sie nicht ihr eigen Blut.
Am Sonntag, wenn die anderen Mädchen den Gottesdienst besuchten oder mit ihren Verlobten Arm in Arm auf der Allee flanierten, schlang Großmutter sich die Haare zu einem schweren Knoten – sie hatte noch dichtes schwarzes Haar, als sie schon eine alte Frau und ich ein kleines Mädchen war; wie mochte es erst früher gewesen sein? – und ging in die Kirche, um Gott zu fragen, warum er nur so ungerecht sei und es ihr verwehre, die Liebe kennenzulernen. Die Liebe sei doch die herrlichste Sache der Welt, die einzige, die es wert sei, ein Leben zu führen, bei dem man früh um vier aufsteht, um die Hausarbeit zu verrichten, dann aufs Feld geht und später in die Stickschule – die langweiligste Sache der Welt –, dann mit dem Krug auf dem Kopf am Brunnen Trinkwasser holt, und bei dem man alle zehn Tage die ganze Nacht aufbleibt und Brot backt, um am Morgen wieder den Wassereimer aus dem Brunnen zu ziehen und die Hühner zu füttern. Wenn Gott nicht bereit sei, sie mit der Liebe bekannt zu machen, solle er sie eben sterben lassen, auf welche Weise auch immer.
Der Priester, der ihr die Beichte abnahm, sagte, dass solche Gedanken eine große Sünde seien und dass es auf der Welt unzählige andere Dinge als die Liebe gebe, aber diese anderen Dinge konnten Großmutter gestohlen bleiben.
Eines Tages erwartete meine Urgroßmutter sie mit der Handpumpe, mit der sie immer den Hof besprengten, und schlug mit dem Gerät auf sie ein, bis Großmutters Kopf mit Wunden übersät war, woraufhin sie hohes Fieber bekam. Meiner Urgroßmutter war zu Ohren gekommen, was man sich im Dorf erzählte: Der Grund dafür, dass die Bewerber nach einer gewissen Zeit fernblieben, sei der, dass Großmutter ihnen feurige Liebesgedichte schreibe, die nicht ganz frei von anzüglichen Anspielungen seien. Damit besudelte Großmutter nach Ansicht ihrer Mutter nicht nur sich selbst, sondern den Ruf der ganzen Familie. Während sie auf ihre Tochter eindrosch, brüllte sie: »Dimonia! Dimonia! Du Teufelin!«, und sie verfluchte den Tag, an dem sie Großmutter in die Grundschule geschickt hatten, wo sie lesen und schreiben gelernt hatte.