Читать книгу Die Frau im Mond - Milena Agus - Страница 7

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Im Mai 1943 kam mein Großvater ins Dorf. Er war jenseits der vierzig und Angestellter in der Saline von Cagliari. In der Via Giuseppe Manno hatte er ein schönes Haus besessen, unmittelbar neben der Kirche San Giorgio e Santa Caterina gelegen; von dort aus hatte man eine wunderbare Aussicht über die Dächer der Marina bis hin zum Meer. Nach dem Bombardement, das am 13. Mai stattfand, blieb weder von der Kirche noch von diesem Haus, noch von allen anderen Gebäuden in der Nachbarschaft etwas übrig – bis auf einen riesigen Trümmerhaufen.

Die Familie meiner Großmutter nahm diesen anständigen Herrn bereitwillig auf, der, für damalige Verhältnisse nicht mehr der Jüngste und obendrein Witwer, vom Kriegsdienst befreit war. Mit jenem geliehenen Koffer also, den er mit ein paar aus den Trümmern geretteten Habseligkeiten gefüllt hatte, kam er im Dorf meiner Großmutter an. Es verstand sich von selbst, dass er unentgeltlich im Haus wohnen durfte und verköstigt wurde.

Bereits im Juni hielt er um Großmutters Hand an. In jenem Monat vor der Hochzeit weinte sie den lieben langen Tag. In ihrer Verzweiflung fiel sie vor meinem Urgroßvater auf die Knie und beschwor ihn, Nein zu sagen, unter dem Vorwand, dass sie bereits einem anderen versprochen sei, der in den Krieg gezogen sei. Falls man sie im Haus partout nicht mehr haben wolle, sei sie zu allem bereit, etwa nach Cagliari zu gehen und sich dort Arbeit zu suchen.

»Die Leute kommen aus Cagliari hierher, Kind«, sagte mein Urgroßvater, »und du willst in die Stadt ziehen! Dort gibt es nichts mehr zu tun, was willst du denn machen?«

»Sie ist verrückt«, schrie meine Urgroßmutter, »vollkommen verrückt! Will doch tatsächlich in die Stadt gehen und dort als Hure arbeiten, denn etwas anderes kann sie sowieso nicht! Sie hat von nichts eine Ahnung, aber den Kopf voller Flausen, und das war schon so, als sie noch ein kleines Mädchen war!«

Es wäre ein Leichtes gewesen, einen Verlobten zu erfinden, der irgendwo an der Front war: in den Alpen, in Libyen, Albanien, im Ägäischen Meer oder auch bei der Regia Marina, der Königlichen Italienischen Marine. Ein Kinderspiel wäre es gewesen, aber meine Urgroßeltern wollten nichts davon wissen.

Also sagte Großmutter ihrem zukünftigen Ehemann, dass sie ihn nicht liebe und ihm niemals eine richtige Frau sein könne. Großvater versicherte ihr, dass sie sich keine Sorgen machen müsse – auch er liebe sie nicht. Somit wussten beide, woran sie waren. Und was die Sache mit der richtigen Frau anbelangte, hatte er ebenfalls vollstes Verständnis. Er würde eben weiter das Bordell im Hafenviertel von Cagliari besuchen, so wie er es schon immer getan hatte, seit er ein junger Mann war, ohne sich dabei jemals eine Krankheit zugezogen zu haben. Aber nach Cagliari kehrte er mit Großmutter, seiner Frau, bis 1945 nicht zurück.

Also schliefen die Großeltern wie Bruder und Schwester im Gästezimmer, das reich ausgestattet war: ein großes, hohes schmiedeeisernes Bett mit Intarsienarbeiten aus Perlmutt, darüber an der Wand ein Bild mit der Madonna und dem Kind, auf der Kommode eine Kaminuhr unter einer Glasglocke, ein Waschtisch mit Schüssel und Krug, ein Spiegel, den eine gemalte Blume zierte, und unter dem Bett ein Nachttopf aus Porzellan.

Die gesamte Einrichtung sollte Großmutter später übernehmen, als das Haus im Dorf verkauft wurde und sie in Cagliari mit Großvater aus der Via Sulis in die Via Manno umzog; dort wollte sie genau das gleiche Schlafzimmer haben, das sie im ersten Jahr ihrer Ehe mit ihrem Mann geteilt hatte. Doch während die Räume in dem Haus im Dorf nur spärliches Licht bekamen, gedämpft durch die lolla, den Laubengang, dringt hier in der Via Manno das südliche Meereslicht ungehindert in die Zimmer, taucht sie bis zum Sonnenuntergang in Helligkeit und verleiht sämtlichen Gegenständen einen strahlenden Glanz. Wie habe ich dieses Schlafzimmer als kleines Mädchen geliebt! Aber Großmutter ließ es mich nur betreten, wenn ich brav gewesen war, und nie öfter als ein Mal am Tag.

Im ersten Jahr ihrer Ehe erkrankte Großmutter an Malaria. Das Fieber stieg auf einundvierzig Grad. Großvater ließ es sich nicht nehmen, sie zu pflegen, Stunde um Stunde an ihrem Bett zu sitzen und dafür zu sorgen, dass das Tuch auf ihrer Stirn nie warm wurde – und die Stirn meiner Großmutter war kochend heiß, sodass man den Stoff immer wieder in eiskaltes Wasser tauchen musste. Ständig lief Großvater hin und her. Tag und Nacht hörte man den Flaschenzug des Brunnens draußen im Hof quietschen.

An einem jener Tage, es war der 8. September 1943, erzählten sie ihm, was soeben im Radio berichtet worden war: Zwischen den Alliierten und Italien sei der Waffenstillstand ausgerufen worden und der Krieg somit beendet. Großvater erwiderte, der Krieg sei keineswegs zu Ende, man könne nur hoffen, dass der italienische General Basso die Deutschen aus Sardinien abziehen lasse, ohne sich in unnütze Heldentaten zu stürzen. Basso stellte sich den Nazis zum Glück nicht in den Weg, und so räumten die dreißigtausend Männer der 90. Panzergrenadierdivision unter Generalleutnant Freiherr von Lungershausen ohne weiteres Gemetzel die Insel; zwar wurde der Deutsche später vor ein Ehrengericht gestellt und zu Festungshaft verurteilt, doch die Sarden waren noch einmal davongekommen. Anders als die Menschen auf dem Festland. Wie recht Großvater hatte, erfuhr man, als Radio London von den Protesten Badoglios gegen die Deutschen berichtete, die die gefangen genommenen italienischen Soldaten und Offiziere massakrierten.

Als Großmutter wieder gesund war, sagte man ihr, sie habe es nur Großvater zu verdanken, dass das Fieber sie nicht aufgezehrt hätte, und man erzählte ihr, dass es inzwischen einen Waffenstillstand gegeben habe und Italien ein neues Bündnis eingegangen sei. Sie tat diese Neuigkeiten mit einem Schulterzucken ab, was so viel heißen sollte wie: »Was geht mich das an?« Doch für diese Gehässigkeit sollte sie sich später schämen.

In dem hohen, breiten Ehebett verkroch sich Großmutter an den äußersten Rand, so weit wie möglich entfernt von ihm, sodass sie häufig herausfiel. Wenn bei Vollmond Licht durch die Läden der Türen drang, die zum Laubengang führten, und den Rücken ihres Mannes beschien, fürchtete sie sich nahezu vor diesem seltsamen Fremden, von dem sie nicht einmal wusste, ob er schön war oder nicht, sah sie ihn doch genauso selten an wie er sie. Erst wenn sie sicher sein konnte, dass Großvater tief und fest schlief, wagte sie es, aus dem Bett zu steigen und Pipi in den Nachttopf zu machen, doch bei der geringsten Bewegung, die sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, legte sie sich den Schal um die Schultern, huschte aus dem Zimmer und lief auch bei Wind und Regen über den Hof zu dem Abort, der sich jenseits des Brunnens befand.

Im Übrigen versuchte Großvater nie, sich ihr zu nähern. Auch er zog sich, korpulent, wie er war, so weit an den Rand des Bettes zurück, dass er ebenfalls hin und wieder herausfiel, und so waren beide stets mit blauen Flecken übersät. Wenn sie allein waren, also im Schlafzimmer, denn sonst war man nirgendwo im Haus allein, sprachen sie kein Wort miteinander. Das heißt, Großmutter sagte vor dem Einschlafen immer ein Gebet auf, Großvater jedoch nicht, denn er war Atheist und Kommunist, dann murmelte einer von beiden: »Habt eine gute Nacht«, und der andere antwortete: »Habt ebenfalls eine gute Nacht.«

Meine Urgroßmutter verlangte, dass ihre Tochter meinem Großvater den Kaffee ans Bett brachte. Besser gesagt, den Kaffee, den man damals hatte – einen Muckefuck aus Kichererbsen und Gerste, die man im Rauchfang auf einer eigens darin angebrachten Vorrichtung röstete und anschließend mahlte. »Bring deinem Gemahl den Kaffee«, sagte Urgroßmutter, woraufhin Großmutter das mit Blumen bemalte Glastablett nahm und das violette und mit üppigem Goldrand versehene Tässchen daraufstellte, um es ins Schlafzimmer zu tragen; rasch platzierte sie das Tablett am Fuß des Bettes, um dann fluchtartig das Zimmer zu verlassen, so als hätte sie einem zähnefletschenden Hund den Futternapf hingeschoben, und auch das sollte sie sich ihr ganzes Leben lang nicht verzeihen.

Großvater half bei der Feldarbeit und machte sich gut dabei, auch wenn er ein Städter war und sein bisheriges Leben mit Lernen und Büroarbeit zugebracht hatte. Häufig übernahm er auch Aufgaben, die eigentlich seiner Frau oblagen. Großmutter hatte in immer kürzeren Abständen Nierenkoliken, und er war entsetzt darüber, dass eine Frau derart schwere Arbeiten auf dem Feld verrichten oder den bis zum Rand gefüllten Wasserkrug auf dem Kopf vom Brunnen ins Haus schaffen musste, auch wenn er solche Dinge aus Respekt vor der Familie, die ihn so gastfreundlich aufgenommen hatte, nur allgemein zur Sprache brachte, sozusagen als Kritik an der sardischen Gesellschaft im Inselinneren. In Cagliari war es eben anders als auf dem Dorf, dort nahm man einem nicht alles, was man sagte, übel und witterte auch nicht überall nur Schlechtes. Vielleicht war es die Meeresluft, welche die Menschen dort freiheitlicher sein ließ, zumindest in gewissen Dingen, wozu die Politik nicht zählte, denn die Cagliaritani waren bürgerlich eingestellt und hatten keine Lust, für irgendetwas zu kämpfen.

In der restlichen Zeit hörte er, im Gegensatz zu Großmutter, der die Welt da draußen reichlich egal war, am liebsten Radio London. Im späten Frühjahr 1944 erfuhr man, dass im Süden Italiens sechs Millionen Menschen streikten, dass in Rom 32 Deutsche erschossen worden waren, woraufhin die Nazis als Vergeltungsmaßnahme bei einer Razzia 320 Italiener hinrichteten, des Weiteren, dass sich die VIII. Armee für eine neue Offensive rüstete und dass in den frühen Morgenstunden des 6. Juni die Alliierten in der Normandie gelandet waren.

Die Frau im Mond

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