Читать книгу Die Frau im Mond - Milena Agus - Страница 8
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Im November 1944 verkündete Radio London, dass die Kampfhandlungen an der italienischen Front bis auf Weiteres eingestellt würden. Den Partisanen von Oberitalien wurde empfohlen, abzuwarten und die Energie auf Sabotageakte zu verwenden.
Großvater meinte, dass der Krieg weitergehe und er nicht bis in alle Ewigkeit den Gast spielen könne, und so zogen sie bald darauf nach Cagliari.
Sie wohnten in der Via Sulis in einem möblierten Zimmer, das auf einen Lichtschacht hinausging. Das Bad und die Küche teilten sie mit weiteren Familien. Ohne gefragt worden zu sein, erzählten die Nachbarinnen Großmutter, was der Familie ihres Mannes an jenem 13. Mai 1943 zugestoßen war.
Außer ihm waren an dem unglückseligen Nachmittag schon alle zu Hause gewesen, denn es war sein Geburtstag, und sie warteten auf ihn, um mit ihm zu feiern. Seine unterkühlte, ziemlich unansehnliche Frau, die allen und jedem misstraute, hatte ausgerechnet an jenem Tag mitten im Krieg eine Torte gebacken und die ganze Familie eingeladen. Gott weiß, wie lange sie gebraucht hatte, um die Zutaten auf dem Schwarzmarkt in Cagliari zu kaufen, wo man den Zucker grammweise erstehen musste, die Arme, ach, die ganze arme Familie! Keiner wusste zu sagen, wie es dazu kommen konnte, dass sie das Haus nicht verließen, um in den Luftschutzbunker im Stadtpark zu flüchten, als der Bombenalarm losging. So absurd es auch klingen mag: Wahrscheinlich war der Tortenboden gerade im Backofen und noch nicht zu Ende gebacken, als die Sirenen losheulten, oder der Teig war noch nicht ganz aufgegangen, jedenfalls wollte man sie nicht zurücklassen, die wunderbare Torte in der toten Stadt.
Das einzig Gute war, dass sie keine Kinder hatten, sagten die Nachbarinnen – eine Ehefrau, eine Mutter, die Schwestern, Schwager, Nichten und Neffen vergaß man mit der Zeit, und Großvater hatte sie schnell vergessen, man musste sich nur die zweite Frau ansehen, die jung und schön war, dann wurde einem klar, dass es ihm nicht schwergefallen sein konnte. Immer war er ein lebenslustiger Mann gewesen, heißblütig, ein Schürzenjäger. 1924, als er noch ein Junge war, hatten die Faschisten ihn gezwungen, Rizinusöl zu trinken, um ihm zu zeigen, wo’s langging, doch er hatte sich stets darüber lustig gemacht, und es schien fast so, als ob ihn nichts umbringen könnte. Nicht gerade ein Kostverächter, was das Essen und den Wein betraf, war er auch in den case chiuse, den Bordellen, ein oft gesehener Gast, was seine erste Frau im Übrigen wusste, die Arme, und wer weiß, wie sie darunter litt, eine Frau wie sie, die an allem und jedem Anstoß nahm; bestimmt ließ sie es niemals zu, dass ihr Mann sie nackt sah, auch wenn es da wohl nicht besonders viel zu sehen gab, meinten die Nachbarinnen; man musste sich fragen, was die beiden so machten, wenn sie allein waren.
Großmutter hingegen war da eine ganz andere Frau, ein richtiges Weibsbild, so wie er es sich bestimmt immer erträumt hatte, mit ihren vollen, festen Brüsten, den üppigen schwarzen Haaren und großen Augen, noch dazu war sie eine Seele von Mensch. Man konnte sich ja ausmalen, meinten die Nachbarinnen, welche Leidenschaft zwischen den Eheleuten herrschte und dass es wie ein Blitz zwischen ihnen eingeschlagen haben musste, wenn man bedachte, dass sie innerhalb eines Monats geheiratet hatten. Schade nur, dass sie unter diesen furchtbaren Nierenkoliken litt, die Arme, sie wünschten ihr jedenfalls alles Gute und hofften, dass sie auch außerhalb der vereinbarten Zeiten in die Küche kam, sofern sie sich gut genug fühlte, es machte ganz und gar nichts, wenn die anderen schon alles aufgeräumt und sauber gemacht hatten!
Zwischen Großmutter und den Nachbarinnen in der Via Sulis entstand eine Freundschaft, die ihr ganzes Leben lang halten sollte. Nie fiel ein böses Wort zwischen ihnen, allerdings unterhielten sie sich ja auch nie wirklich, sondern leisteten einander einfach nur Gesellschaft, Tag für Tag, wie es sich eben so ergab. Damals in der Via Sulis trafen sie sich immer in der Küche, um gemeinsam abzuspülen – die eine seifte das Geschirr ein, die andere spülte es, die Dritte trocknete ab. Und wenn es Großmutter wieder einmal schlecht ging, dann erledigten sie auch den Abwasch für sie, mischinedda, die Arme.
Mit den fünf Nachbarinnen und deren Männern erlebte Großmutter die letzte Phase des Krieges. In der eiskalten Küche in der Via Sulis saßen sie da, hatten zwei, drei Paar Strümpfe übereinandergezogen, steckten die Hände unter die Achseln, um sich zu wärmen, und lauschten Radio London.
Die Männer, allesamt Kommunisten, drückten den Russen die Daumen, die am 17. Januar 1945 Warschau besetzten und am 28. Januar hundertfünfzig Kilometer vor Berlin standen, während die Alliierten am 1. März Köln eroberten und es, wie Churchill meinte, nur noch eine Frage der Zeit war, bis ihnen der Durchbruch gelang und die Nazis kapitulierten. Ende März überquerten Patton und Montgomery den Rhein und schlugen die Deutschen vernichtend.
Am 13. Mai, Großvaters Geburtstag, war der Krieg aus, und alle waren glücklich, nur Großmutter konnte mit all den Nachrichten der vergangenen Zeit – über Vorstöße und Rückzüge und Siege und Niederlagen – nichts anfangen. In der Stadt gab es kein Wasser, keine Abwasserkanäle, kein elektrisches Licht, nicht einmal zu essen gab es, wenn man von diesen amerikanischen Fertigsuppen absah, und das bisschen, was zu kriegen war, war um dreihundert Prozent überteuert. Wenn sich die Nachbarinnen zum Abspülen in der Küche trafen, lachten sie dennoch über die kleinste Kleinigkeit, und auch wenn sie in ihren abgetragenen Kleidern zum Gottesdienst in eine der drei Kirchen – Sant’ Antonio, Santa Rosalia oder die Kirche der Kapuziner – gingen, drei vorn, drei hinten, lachten sie.
Großmutter sprach selten etwas, aber auch sie war immer mit von der Partie, und die Tage vergingen wie im Flug. Es gefiel ihr, dass die Frauen in Cagliari nicht alles so ernst nahmen wie die Frauen auf dem Dorf, und wenn etwas nicht so lief, wie sie es sich vorstellten, sagten sie bloß: »Ma bbai – was soll’s?« Wenn beispielsweise ein Teller zu Boden fiel und zu Bruch ging, zuckten sie die Achseln, obwohl sie wirklich arm waren, und lasen die Scherben einfach auf. Im Grunde genommen waren sie zufrieden – arm zu sein war jedenfalls besser, als auf Kosten anderer zu Reichtum zu kommen, so wie jene, die in Cagliari auf dem Schwarzmarkt handelten oder in den Trümmern wühlten, ehe die armen Bewohner zurückkamen und nach ihrem Hab und Gut suchten. Letztendlich hatten sie überlebt – das war das Entscheidende. Großmutter glaubte, es war dem Meer und dem blauen Himmel zuzuschreiben, dass die Menschen in Cagliari bessere Laune hatten, dem grenzenlosen Blick, der sich von der Bastion oben auf dem Hügel bot, und dem Mistral – alles war so unendlich, dass man sich gar nicht erst bei seinem eigenen kleinen Leben aufhalten konnte.
Aber diese Gedanken – man könnte sie fast poetisch nennen – behielt sie stets für sich, denn sie hatte furchtbare Angst, auch die Leute in ihrer neuen Umgebung könnten entdecken, dass sie verrückt war. Stattdessen schrieb sie alles in ihr kleines schwarzes Notizheft mit dem roten Rand, das sie anschließend in der Truhe verschloss. Zusammen mit anderen Dingen, die nur für ihre Augen bestimmt waren, bewahrte sie darin auch drei beschriftete Umschläge mit Geld auf: für »Miete«, »Essen« und »Medizin«.